P. Werth: The Tsar's Foreign Faiths

Titel
The Tsar's Foreign Faiths. Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia


Autor(en)
Werth, Paul W.
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Davies, Historicum, Abteilung für die Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München

Paul Werths Studie „The Tsar’s Foreign Faiths. Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia” ist zweierlei: sie ist erstens ein Beitrag zur Geschichte der staatlichen Instrumentalisierung von Religion als Mittel zur Herrschaftsausübung im multireligiösen Zarenreich. Werth geht damit Fragen nach, die bereits in den Arbeiten von Robert Crews und Michail Dolbilov diskutiert worden sind.1 Während Crews und Dolbilov sich aber auf eine Konfession bzw. Region konzentrierten, ist Werths Ansatz noch umfassender: Er hat die Politik gegenüber allen nicht-orthodoxen Konfessionen im Blick, die im 18. und 19. Jahrhundert eine staatliche Institutionalisierung erfuhren. Zweitens ist Werths Monographie auch eine hervorragende diskurs- und ideengeschichtliche Untersuchung der Begriffe der „religiösen Toleranz“ und der „Gewissensfreiheit“ im Russländischen Reich. Werth zufolge lässt sich im Europa des 19. Jahrhunderts eine allmählich konzeptionelle Verschiebung von der „Toleranz“, verstanden als ein durch den Staat gewährtes Privileg, hin zur individuellen „Gewissensfreiheit“ feststellen, die auch im russländischen Imperium eine Rolle spielte, hier aber auf strukturell und ideologisch bedingte Widerstände stieß.

Werth beginnt seine Darstellung mit einem Rückblick auf die frühneuzeitlichen Traditionen des moskowitischen Staates im Umgang mit religiöser Differenz und macht deutlich, dass es auch in dieser Periode Beispiele für einen pragmatischen Umgang mit nicht-orthodoxen Untertanen gab. Dies zeigte sich vor allem bei der imperialen Expansion Moskaus, im Zuge derer auch Nicht-Orthodoxe als Untertanen akzeptiert wurden. Für die religionspolitische Wende im Toleranzedikt (1773) von Zarin Katharina II. waren zwar auch intellektuelle europäische Trends der so genannten Aufklärung wichtig, aber für die darauf folgende administrative Eingliederung „fremder Konfessionen“ spielten auch wieder pragmatische Überlegungen eine wichtige Rolle: Die Aufstände der Baschkiren verwiesen auf die Notwendigkeit von Zugeständnissen an die muslimischen Völker der Wolgaregion und die Teilungen Polen-Litauens erforderten eine Strategie im Umgang mit der römisch-katholischen und der griechisch-katholischen Kirche. Gepaart mit Katharinas Überzeugung, dass Religion als Mittel zur Disziplinierung der Bevölkerung und als Stütze der imperialen Ordnung fungieren könnte, wurden in ihrer Regierungszeit die Grundstrukturen dessen gelegt, was Werth treffend als „multiconfessional establishment“ bezeichnet.

Dies beinhaltete zum einen die Schaffung und administrative Einbindung nicht-orthodoxer Institutionen, die schließlich im „Department für die geistlichen Angelegenheiten fremder Konfessionen“ des Innenministeriums angesiedelt wurden. Trotzdem blieb die Orthodoxie stets gegenüber nicht-orthodoxen Konfessionen privilegiert, galt sie doch als die Religion des autokratischen Staates. Analog zum Aufbau nicht-orthodoxer Verwaltungsinstitutionen fand vor allem in den 1820er- und 1830er-Jahren ein Prozess der rechtlichen Kodifizierung statt, in dem für die jeweiligen nicht-orthodoxen Religionsgemeinden Statuten ausgearbeitet wurden, die etwa die Ernennung von Geistlichen regelten. Die Erfolgsbilanz dieser Politik blieb letztlich begrenzt, denn nicht immer wurden die neu geschaffenen Institutionen innerhalb ihrer Religionsgemeinden als Autoritäten anerkannt.

Das „multiconfessional establishment“ beruhte Werth zufolge implizit auf der Annahme, dass religiöse Zugehörigkeit eine statische Größe sei, tatsächlich aber konnte sie auch dynamisch sein. Vor diesem Hintergrund fragt Werth dann nach dem Umgang des imperialen Regimes mit Konversionen und Heterodoxien innerhalb der „fremden“ Konfessionen. Dabei diagnostiziert Werth, dass staatlich vorangetriebene Missionskampagnen der orthodoxen Kirche besonders im 18. Jahrhundert zwar durchaus zum Repertoire imperialer Herrschaft gehört hatten, dass der Staat aber mit Massenkonversionen zur Orthodoxie, die nicht von staatlicher Seite initiiert waren, ambivalent umging. Ein Beispiel war etwa die Konversionswelle von Bauern in dem von deutschen Adeligen beherrschten baltischen Raum in den 1840er-Jahren, auf welche die imperiale Verwaltung aus Sorge um das herrschende soziale Ordnungsgefüge zunächst zurückhaltend reagierte. Insgesamt waren die Staatsbeamten jedoch in erster Linie um die Verteidigung der Orthodoxie bemüht: Während sie mit Sekten und Heterodoxien in den „fremden“ Konfessionen in der Regel pragmatisch umgingen, suchten sie diese innerhalb der Orthodoxie zu bekämpfen.

Was zarische Verwaltungseliten eigentlich unter „religiöser Toleranz“ verstanden, analysiert Werth in dem folgenden diskursgeschichtlich angelegten Kapitel. Einerseits war das Prinzip der religiösen Toleranz für die Selbstbeschreibung des Russländischen Reiches zentral, andrerseits aber wurde es kaum definiert. Werth gelingt es trotzdem anhand von Beispielen, drei zentrale Dimensionen religiöser Toleranz herauszuarbeiten: sie implizierte im Gegenzug Pflichten der Untertanen, sie wurde nur dann gewährt, wenn Religion nicht politisiert wurde und sie war keineswegs gleichbedeutend mit Gleichberechtigung.

Die chronologische Erzählung aus den ersten Kapiteln wieder aufgreifend, zeichnet Werth anschließend nach, wie das multi-konfessionelle System von den Reformdebatten der 1850er- und 1860er-Jahre erfasst wurde. Einerseits forderten nicht-orthodoxe Gemeinden eine Ausweitung religiöser Freiheiten, andererseits begannen besonders konservative Staatsmänner die Toleranzpolitik Katharinas zunehmend als einen Fehler zu sehen, der die nicht-orthodoxen Gemeinden gestärkt habe anstatt sie zu schwächen. Dieses Problem verschärfte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die wachsende Verzahnung von Religion, Ethnizität und Nationalität, welche besonders nach dem polnischen Aufstand von 1863 eine politische Dimension erhielt. Die Politisierung von Religion zeigte sich am deutlichsten im Umgang des Staates mit dem Katholizismus und der armenischen Kirche. Hier bedienten sich Verwaltungseliten zunehmend einer anti-klerikalen Rhetorik, um die geistlichen Eliten dieser Konfessionen zu diskreditieren.

Paradoxerweise lässt sich in dieser Zeit verschärfter politischer und nationaler Konflikte auch eine Entwicklung von der religiösen Toleranz hin zur Gewissensfreiheit erkennen. Werth erklärt diesen Befund mit der Rezeption europäischer Debatten unter den Verwaltungseliten, der zunehmenden Beteiligung von Laien am religiösen Leben, aber auch mit dem praktischen Problem der Apostasiewellen von der Orthodoxie (besonders unter den Tataren der mittleren Wolga-Region). Zur Deklaration der Gewissensfreiheit im berühmten Oktobermanifest von 1905 kam es allerdings erst, als der autokratischen Ordnung der völlige Zusammenbruch drohte. In seinen beiden letzten Kapiteln rekonstruiert Werth minutiös, warum trotz des Oktobermanifestes das Versprechen der Gewissensfreiheit unerfüllt blieb. In der Duma blieb es hochumstritten und ab dem Jahr 1909 war die Regierung unter Petr Stolypin zu sehr auf die Unterstützung konservativer und orthodoxer Kreise angewiesen, als dass sie bereit gewesen wäre, die Gewissensfreiheit auch tatsächlich gesetzlich zu verankern. Letztlich scheiterte die Regierung an dem unmöglichen Spagat, die privilegierte Stellung der immer noch mit der Autokratie verbundenen russisch-orthodoxen Kirche zu wahren und den Forderungen nicht-orthodoxer Konfessionen nachzukommen.

Paul Werth ist eine umfassende, quellengesättigte und gut geschriebene Untersuchung der Religionspolitik des Zarenreichs gegenüber nicht-orthodoxen Konfessionen vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert gelungen, die sich stets auf einem hohen analytischen Niveau bewegt. Sein Interesse gilt dabei staatlichen Akteuren sowie den Prinzipien, Logiken und politischen Rahmenbedingungen, die ihr Handeln prägten. Insofern lässt sich Werths Studie auch als eine ausgesprochen differenzierte Gesamtdeutung des Petersburger Imperiums lesen, dessen im 18. Jahrhundert verankerte religionspolitische Ordnung sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als unvereinbar mit dem moderneren Prinzip der Gewissensfreiheit erwies. Die Reformunfähigkeit des Reiches ergab sich auch aus der Politisierung und Ethnisierung religiöser Zugehörigkeiten besonders nach 1863, sodass aus der Perspektive staatlicher Beamter eine Liberalisierung der konfessionellen Ordnung stets Gefahr lief, das Imperium zu schwächen. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass Werth anhand unterschiedlicher Beispiele deutlich machen kann, dass trotzdem auch aus den Reihen hoher Verwaltungsbeamter um die Jahrhundertwende gegen die prinzipielle Diskriminierung nicht-orthodoxer Konfessionen argumentiert wurde und sich einige nicht nur als Advokaten der Toleranz, sondern auch der viel umfassenderen Gewissensfreiheit profilierten.

Anmerkung:
1 Robert Crews, For Prophet and Tsar. Islam and Empire in Russia and Central Asia, Cambridge, MA 2006; Michail Dolbilov, Russkij kraj, čužaja vera. ėtnokonfessionalʹnaja politika imperii v Litve I Belorussii pri Aleksandre II, Moskva 2010.

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