O. Kurilo (Hrsg.): Kurort als Tat- und Zufluchtsort

Titel
Kurort als Tat-und Zufluchtsort. Konkurrierende Erinnerungen im mittel- und osteuropäischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Kurilo, Olga
Erschienen
Berlin 2014: Avinus Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Raßloff, Hoppegarten

Im ausgehenden 18. Jahrhundert gewann das individuelle Reisen eine neue Qualität. Zu den Geschäfts-, Forschungs- und Bildungsreisen gesellten sich Sommerfrischen, Sanatorienaufenthalte und Kuren. Diese Reisen spiegelten ein gewandeltes Verhältnis zur Natur, von der sich die Menschen Alternativen zum immer ungesünderen urbanen Raum versprachen. Organisierte Naturbewunderung oder die neue „Meereslust“ gehörten zu den Geburtshelfern des aufstrebenden Tourismus. Es ist kein Zufall, dass die meisten Kurorte im frühen 19. Jahrhundert an landschaftlich reizvollen, aber peripheren und oft schwer zugängigen Orten wie Küsten oder Gebirgen entstanden, die überdies häufig mit politischen Grenzen zusammenfielen. Wurden sie an das Eisenbahnnetz angeschlossen, leisteten sie der Kommerzialisierung des Reisens Vorschub und kurbelten den Massentourismus an. Derlei Vorüberlegungen hätten die Themen des Konferenzbandes und die verschiedenen Orte, die sorgsam in eine Karte auf der inneren Umschlagseite eingetragen sind, überzeugend verknüpfen können. Doch die Publikation, die die Ergebnisse eines Workshops1 präsentiert, verfolgt ein anderes Ziel, nämlich Kurorte als „Schauplätze ausgeübter und erfahrener Gewalt“ zu untersuchen, deren erinnerungskulturelle und künstlerische Imaginationen, so die Herausgeberin im Vorwort, „das Dystopische des scheinbar utopischen Ferienortes“ (S. 8) zutage treten lassen. Das Wort „Kurort“ wird hierbei nicht in der engeren deutschen, sondern meistens in seiner russischen Bedeutung als „landschaftlich-klimatisch-architektonischer Gesamtkomplex eines Heilbads“ (Henrike Schmidt, S. 150) verstanden. Seine Facetten werden in vier Themenbereichen ausgelotet, die aus je drei Aufsätzen und einem Kommentar bestehen.

Zum Thema „Aufsicht und soziale Kontrolle“ weiß Wolf Karge vom Einzug der Freudenmädchen in das erste deutsche Ostseebad in Doberan-Heiligendamm zu berichten. Ihr Gewerbe wurde obrigkeitlich reguliert, aber nicht verboten, weil es zahlende Gäste anzog. Diese Politik unterschied sich aber keineswegs von den meisten größeren Städten, in denen die Prostitution „ebenfalls geduldet wurde“ (S. 58), so Dietlind Hüchtker in ihrem Kommentar. Dass in neu gegründeten Kurorten an der Grenze des ehemaligen Österreichisch-Schlesien zu Preußisch-Schlesien Kompetenzstreitigkeiten zwischen staatlichen Kontrollbehörden und lokaler Polizei die Effizienz der Überwachung lähmen konnten, ergibt sich aus Michal Chvojkas Auswertung der Polizeikorrespondenz.

Im zweiten Abschnitt „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ wird untersucht, inwiefern die größten Kataklysmen des 20. Jahrhunderts auch die Kurorte erfassten. Wie Uwe Schellinger am Beispiel der Rothschild’schen Stiftung für lungenkranke Frauen in Nordrach und Thomas Stoppacher am steirischen Bad Gleichenberg zeigt, entwickelten sich Lokalitäten mit jüdischer Infrastruktur zu Zufluchtsorten, an denen etwa auch Intellektuelle wie Manès Sperber und Elias Canetti Genesung suchten. Nach Arisierung und Deportation kodierten die Nationalsozialisten die begehrten Immobilien oftmals um: So sollten der SS-„Lebensborn“ oder die Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ die Verluste ausgleichen helfen, die durch die Abwesenheit der jüdischen Gäste entstanden waren. Jan Daniluk verfolgt, wie das Seebad Zoppot durch die SS, die SA und die Wehrmacht nach der Besetzung zu einem nationalsozialistischen Hochleistungsferienort und anschließend zu einem Lazarett umfunktioniert wurde, bevor es Menschen Zuflucht bot, die vor der Roten Armee flüchteten, der die Stadt schließlich in die Hände fiel. In seinem kritischen, aber durchaus nachvollziehbaren Kommentar bezeichnet Hasso Spode das methodologische Problem dieser an sich akribisch recherchierten Beiträge als Verzicht auf eine Fragestellung: „Solch eine deskriptive Darstellung kann durchaus Spannendes zutage fördern, doch offen bleibt dabei, wie dies in ein Wissen umzumünzen wäre, das nicht allein für die Bewohner des jeweils untersuchten Ortes von Interesse ist.“ (S. 136)

Um Zusammenhänge herzustellen, eignet sich beispielsweise eine erinnerungskulturelle Perspektive, wie sie im Abschnitt „Tatort als Tourismusort“ dominiert. So untersucht Michael Wedekind die politische Mobilisierung des Fremdenverkehrs nach Südtirol und in das Trentino. Am Beispiel der deutsch-italienischen Sprachkonkurrenz erklärt er die Praktiken des „identity tourism“ und der „nationalen Eroberung der Landschaft“ (S. 218). Olga Kurilo kritisiert die Mythisierung der Bernsteinküste Samlands, in deren idyllischen Bildern die Zeiten Ostpreußens beschworen werden. Sie macht darauf aufmerksam, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Gewalttaten wie Diskriminierung, Mord, Vertreibung, Vergewaltigung und Zwangsarbeit, die von nationalsozialistischer und später sowjetischer Seite verübt wurden, noch ausstehe. Am Beispiel der Sudeten und des Eulengebirges stellt Andrea Rudorff einen Zusammenhang zwischen Zwangsarbeitslager und Landschaft fest. So gaben Zeitzeugen an, dass sie aus den geographischen Gegebenheiten Trost, Hoffnung und auch Fluchtmöglichkeiten schöpften. Weil nach dem Krieg die Bevölkerungen der Grenzgebiete ausgetauscht wurden, kam hier die Erinnerungsarbeit nur zögernd in Gang, und heute finden sich außer Gedenkstätten auch postmoderne Umwidmungen der einstigen Zwangsarbeitsorte wie das Shoppingcenter in der ehemaligen Deutschen Wollwarenmanufaktur in Zielona Góra (S. 280). Wiebke Kolbe verweist in ihrem Kommentar auf die brisante Verflechtung von Tourismus und Politik, wenn Orte gleichzeitig der Erholung, der Unterhaltung und der Erinnerung an schlimmste Gewalttaten dienen müssen.

Die stärkste kulturwissenschaftliche Durchdringung des Gegenstandes findet sich im Abschnitt „Imaginationen und Inszenierungen der Gewalt“, in dem künstlerische Darstellungen von Kurorten analysiert werden. Kunstwerke sind als Texte auf zweiter Stufe ein geeignetes Medium zur metaphorischen Reduktion von Komplexität. So verweist Stephan Krause auf die doppelte Bedeutung des lateinischen cura: Pflege und Aufsicht, Erholung und Kontrolle (zitiert von Dietlind Hüchtker, S. 59). Mit Blick auf die eingangs genannte Fragestellung ist nämlich zu hinterfragen, ob das Dystopische nur von außen an die Kurort-Idylle herangetragen wurde, oder ob die Ambivalenz des Utopischen und Dystopischen dem Kurort-Topos nicht immanent ist. So zeigt sich die „Doppelfunktion von mondäner Erholung und militärischer Verteidigung“ (S. 141) etwa an der Präsenz von Soldaten im russischen Sanatoriumskontext. Ausgehend vom Heterotopos im Foucaultschen Sinn entwickelt Henrike Schmidt eine Typologie des Kurorts zwischen Illusions- und Kompensationsheterotopos, alternativer Gesellschaft und idealer Regelhaftigkeit, zwischen Sehnsuchts- und Disziplinierungsort (S. 143). Das Sanatorium habe in Russland als „effektives ideologisches und geopolitisches Instrument“, als bedeutender biopolitischer Faktor und Ingredienz des nationalen Imaginativs funktioniert, als Bestandteil einer nationalen, zunächst adeligen, später „proletarischen“ Freizeit-Kultur sowie als „unikales architektonisches Erbe, das jüngst durch Verfall und Modernisierung gleichermaßen bedroht ist“ (S. 146), so dass sich auch eine „retro-utopische Nostalgie“ (S. 165) beobachten lässt. Ähnlich sieht man auch im ungarischen Film seit Mitte des 20. Jahrhunderts keine mondänen Kurorte mehr. Réka Gulyás beobachtet, dass die Filmemacher die Schauplätze an abgelegene Orte und in das Interieur verlagerten. Erschienen die Sanatorien zunächst als mysteriöse, dunkle Orte, in denen die Bedrohung von innen und von außen zugleich kam, wandelten sie sich im Sozialismus zu absurden Labyrinthen, Isolierstationen und geschlossenen Anstalten. Als Refugien der Gewalt gerieten sie zur Metapher für die systemimmanente Devaluation humanistischer Werte. Ganz anders wird in Jan Koplowitz’ Roman „Bohemia, mein Schicksal“ ein jüdisches Kurhotel an der preußisch-österreichischen Grenze zum „Schutz- und Möglichkeitsraum“, denn der Besitzer gewährt den Gästen Asyl, die mit Beginn des Ersten Weltkriegs plötzlich zu „Bürgern der Feindstaaten“ (S. 178) werden. Auch Astrid Köhler bezieht sich auf Foucault, wenn sie den Ort als Beispiel für „tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“ (S. 180) charakterisiert. Auf den dystopischen Trümmern einer alten Utopie entsteht hier die neue Utopie menschlicher Solidarität. Christine Gölz betont in ihrem Kommentar, dass sich durch die literarische und filmische Bearbeitung das Spezifische des Kurorts besonders klar erkennen lässt.

Analysen legen Ordnungsprinzipien und Narrative frei, die nicht nur für imaginierte, sondern auch für real-historische Kurorte relevant sind. So ist es gerade den literatur- und filmwissenschaftlichen Beiträgen zu verdanken, dass im Band eine typologische und kulturhistorische Bestimmung des Phänomens „Kurort“ angedacht und damit ein Zusammenhangswissen präsentiert wird, das weit über den angegebenen Untersuchungsraum Mittel- und Osteuropas hinausreicht.

Anmerkung:
1 Der Workshop fand vom 28.–29. Juni 2013 unter dem Titel „Kurort als Tat- und Zufluchtsort. Konkurrierende Erinnerungen im mittel- und osteuropäischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig als Kooperation der Projekte „Kurorte Samlands/des Kaliningrader Gebiets: Identitätswandel im 19. und 20. Jahrhundert“ (Europa-Universität Viadrina Frankfurt / Oder) und der GWZO-Projektgruppe „Spielplätze der Verweigerung. Topographien und Inszenierungsweisen von Gegenöffentlichkeit in Ostmitteleuropa“ in Leipzig statt.

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