R. Schmitz-Esser: Der Leichnam im Mittelalter

Cover
Titel
Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers


Autor(en)
Schmitz-Esser, Romedio
Reihe
Mittelalter-Forschungen 48
Erschienen
Ostfildern 2014: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
783 S., XV
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Rogge, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Münchener Habilitationsschrift will eine Forschungslücke füllen und zeigen, wie der menschliche Leichnam im Früh- und Hochmittelalter sozial und kulturell manipuliert wurde. Schmitz-Esser strebt dabei eine „Gesamtschau“ (S. 16) der physischen Präsenz der Toten an, in der er Forschungen der Medizingeschichte, der Religions- und Liturgiegeschichte, der Realienkunde, der Rechtsgeschichte, der Archäologie und Paläoanthropologie zusammenführt und diese mit eigenen Forschungen und neuen Interpretationen bekannter Beispiele noch erweitert. Für ihn ist die physische Existenz der Toten mehr als nur der Gegenstand von makabren Anekdoten; indem er den gesellschaftlichen Umgang mit dem Leichnam im jeweiligen Kontext untersucht, eröffnen sich kulturhistorische Erklärungsmöglichkeiten. Ihn interessiert nicht so sehr, was tatsächlich geschehen ist, sondern wie der Umgang mit dem Leichnam in der historischen Überlieferung dargestellt wird. So ist es konsequent, dass er eine Analyse der in den Quellen imaginierten Inszenierungen der Leichname (in zehn Kapiteln) anbietet.

Diese zehn Kapitel sind so angeordnet, dass sie den ausdauernden Leser von der Bestattung der ganzen Leiche bis hin zum Umgang mit Leichenteilen (Herz, Kopf, Hand) führen. Die einzelnen Kapitel sind jedoch auch sehr gut separat benutzbar; und weil jedes Kapitel mit einer Zusammenfassung endet, kann man sich schnell über die darin von Schmitz-Esser erarbeiteten Ergebnisse orientieren. Man kann sich über die Bestattungen ebenso informieren wie über Leichenschändungen und den Umgang mit exkommunizierten Toten, liest über heilige Leichname, erfährt, wie sie als Legitimationsmittel beziehungsweise als Arznei und Wundermittel eingesetzt wurden oder welchen rechtlichen Status eine Leiche hatte. In diesen Kapiteln bietet Schmitz-Esser gute Zusammenfassungen der jeweils einschlägigen Forschung an und aufgrund seines geradezu enzyklopädischen Ansatzes gelingt es ihm dabei, weiterführende Beobachtungen zu machen. Die Präsenz der toten Körper in der visuellen Kultur des späten Mittelalters ist nach Schmitz-Esser keine Konsequenz der Pesterfahrung, sondern beruht auf einer schon früher einsetzenden, gesteigerten Aufmerksamkeit für den Leichnam (S. 114). Im Hinblick auf die um 1300 zumal in England zunehmende Zerstückelung der Leichen von als Hochverrätern hingerichteten Männern gibt er zu bedenken, ob sich diese Praxis nicht in die „Ausweitung der Körperstrafen und insbesondere der Verbrennungsstrafe für Häretiker im 12. und 13. Jahrhundert“ einordnen lässt (S. 549).

In dem Kapitel „Der lebende Leichnam“ setzt sich Schmitz-Esser kritisch mit der Vorstellung auseinander, im Mittelalter habe die Angst vor lebenden Leichnamen, Wiedergängern und Vampiren zu den Überzeugungen breiter Bevölkerungsschichten gehört. Zum Beleg für diese Annahme wird in der Forschung häufig auf das Überleben von heidnischen oder germanischen Traditionen verwiesen, die man anhand der Maßnahmen zur Verhinderung des Wiederganges (Steine auf dem Leichnam beziehungsweise Sarg, Abtrennen der Beine, Enthauptung, Pfählen, Annageln oder Verbrennen) belegen zu können meint. Auf der Grundlage archäologischer Forschungsergebnisse relativiert Schmitz-Esser diese Annahmen. Er besteht zu Recht darauf, an den wenigen Einzelfunden keine Gesamtinterpretation über die Furcht vor den Toten im Mittelalter aufzuhängen, denn „oftmals bieten sich andere, plausiblere Begründungen für die Befunde an“ (S. 454). Auch für eine zentrale schriftliche Quelle in diesem Zusammenhang, nämlich die Erzählungen des Wilhelm von Newburgh (Ende des 12. Jahrhunderts) über vier Wiedergänger, von denen sich einer als Blutsauger betätigt hatte, schlägt der Autor eine Neubewertung vor. Diese Erzählungen berichten von einem genuin hochmittelalterlichen Phänomen, nämlich der „Vorstellung von der negativen Wirksamkeit der Toten“ (S. 457). Das sei die korrespondierende Vorstellung zu der Idee von der Realpräsenz der Heiligen in den Reliquien. „So wie die Leichen der Heiligen durch ihren Duft heilen, so verdirbt der Gestank der bösen Leichen die Lebenden“ (S. 458).

Das längste Kapitel dieses Buches behandelt die „Einbalsamierung und Leichenerhaltung“. Ausgehend von antiken und biblischen Methoden der Leichenkonservierung arbeitet sich Schmitz-Esser durch Belege und Literatur, um eine Entwicklungsgeschichte der einschlägigen Praktiken bis in das späte Mittelalter zu schreiben. Hierzu gehörte das Einbalsamieren (samt der dazu verwendeten Mittel wie Wachs, Leinen, Quecksilber, Gips, Kalk), das Kochen der Leichen (1299 von Papst Bonifaz VIII. verboten), die Leichenwaschung und die Leichensektion; im 14. Jahrhundert sei eine Professionalisierung der Einbalsamierung zu beobachten. Schließlich benennt er vier Gründe für die kurz- oder auch langfristige Konservierung von Leichen. Es ging zunächst um die kurzfristige Verhinderung des Verfalls des Leichnams, im Hochmittelalter wurde die Einbalsamierung zu einem sozialen Privileg. Drittens spielten religiöse Gründe eine Rolle und schließlich betont Schmitz-Esser, dass der Leichnam nicht nur für das Jenseits, sondern auch für das Diesseits eine wichtige Bedeutung hatte (S. 304f.).

Den Forschungsstand zu seinem Thema, dem Umgang mit der menschlichen Leiche, verortet Schmitz-Esser in seiner Einleitung „zwischen populärem Hype und historischem Desinteresse“ (S. 12). Die damit gekennzeichnete Forschungslücke kann er aufgrund seiner enormen Überlieferungs- und Literaturkenntnis sowie seiner Fähigkeit, diese Kenntnisse mithilfe kulturwissenschaftlicher Methoden zu strukturieren und zu reflektieren, weitgehend schließen. Darüber hinaus bieten seine kritischen Wertungen der bisherigen Forschung und Neuinterpretationen bekannter Quellen Ansätze für weitere Spezialforschungen zum Umgang mit und zur Konstruktion des Leichnams im Mittelalter.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension