I. Alter: Macht. Reform. Kunst.

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Titel
Macht. Reform. Kunst. Die Kaiserliche Akademie der Künste in St. Petersburg


Autor(en)
Alter, Irina
Reihe
Das östliche Europa: Kunst- und Kulturgeschichte 1
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Cvetkovski, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Gerade weil die Kunst lang ist, so legt uns der bekannte Aphorismus nahe, muss sie mehr als ein Leben haben. Sie ist, so meint man herauszuhören, ein nicht versiegender Quell der Inspiration, der stets das Gute will, doch nur das Schöne schafft. Die neuzeitlichen Kunstakademien, besorgt um das beständige Blühen der Kunst, gaben nun dem Schönen zwar eine feste Form, nahmen ihm aber dafür die Ausgelassenheit des Spiels, denn indem sie das Verhältnis der einzelnen Künste und Kunstgattungen untereinander genau festschrieben, schufen sie einen Kanon, dessen Normativität letztlich die allgemeingültigen Kriterien für den guten Geschmack vorgab. Die Kunsthistorikerin Irina Alter hat sich in ihrer Dissertationsschrift über die kaiserliche Akademie der Künste in Petersburg nun genau mit dieser verbindlichen Seite der Kunst auseinandergesetzt. Mit einem „institutionshistorischen Ansatz“ (S. 9) rückt sie mit Bedacht ab von ikonografischen Fragestellungen und wendet sich stattdessen den übergreifenden Übertragungsprozessen zu, in denen die westeuropäische Kunst und ihr künstlerisches Ausbildungssystem nach Russland gelangten. Der Mitte des 18. Jahrhunderts gegründeten Petersburger Kunstakademie fiel dabei eine herausragende Rolle zu. Irina Alter geht es nun aber nicht um Ähnlichkeiten, sondern ausdrücklich um Unterschiede zum westeuropäischen Akademiesystem, die sich zum einen aus den eigentümlichen Voraussetzungen, zum anderen aus den besonderen Aneignungssituationen ergaben, denn die Geschichte der Petersburger Kunstakademie bis 1917 war, so die Autorin, durch die „Eigenart der russischen Gesellschaft und Kultur“ (S. 10) bestimmt.

Die russische Akademiegeschichte steht dabei fraglos in einem engen Zusammenhang mit Entwicklungen in den westeuropäischen Ländern, insbesondere in Frankreich. Genau wie dort sollte die Kunstakademie auch in Russland als oberste Instanz für alle Fragen der Kunst gelten und zugleich eine Ausbildungsstätte für junge Künstler sein. Allerdings erhielt sie erst 1757 auf Betreiben des Kunstmäzens Iwan I. Schuwalow einen unabhängigen Status und war zunächst nach dem Prinzip einer geschlossenen pädagogischen Anstalt konzipiert; doch schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sie sich zu einer Einrichtung gewandelt, in der die Kandidaten nunmehr ein klassisches Studium absolvierten.

Auch zeichnete sich die russische Kunstakademie durch ihre ungewöhnliche Nähe zum zarischen Hof aus. Die ästhetische Inszenierung von Herrschaft erfuhr durch ihre betonte Personalisierung eine ganz besondere Ausprägung, und die Verflechtung zwischen Machthabenden und Kunstschaffenden war in Russland „engmaschiger (…) als in Westeuropa“ (S. 50). Gerade durch die starke Bindung der offiziellen Kunst an den Staat und die Herrscherfamilie übernahm die Kunstakademie zusehends die Schlüsselrolle „in der Formulierung und Ausarbeitung des monarchischen Erscheinungsbildes“ (S. 53), was sie erneut von den europäischen Akademien deutlich abhob.

Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die Kunstakademie jedoch einen tiefgehenden Wandel. Grund hierfür war die Kluft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen einer agileren sozialkritischen Strömung, der sogenannten „Wanderer“ um Iwan N. Kramskoj, und den offiziellen Vorstellungen von Kunst immer weiter auseinandertrat. Die große Reform der Kunstakademie, die schließlich 1893/94 ins Werk gesetzt wurde, sollte nun auf die neuen Bedürfnisse antworten und kam in erster Linie der Forderung vieler Künstler nach, die Ausbildung von den Aufgaben der Verwaltungs- und Staatsinstitution rigoros zu trennen. Ferner ging man nach deutschem Vorbild daran, Meisterklassen einzurichten, um freies künstlerisches Schaffen zu fördern. Damit rückte die Akademie aber von einem einheitlichen Lehrprogramm ab, wertete stattdessen die Position der Professoren auf und überließ die Ausbildung ganz ihrem Gutdünken.

Der vierte und letzte große Abschnitt befasst sich schließlich mit dem Ausstellungsbetrieb der Akademie, der bereits zu ihrer Anfangszeit im 18. Jahrhundert aufgenommen worden war. Dies war möglicherweise die bedeutendste Praxis, da sich Geschmack und Kunstverständnis wohl nur so am breitenwirksamsten organisieren ließ. Verkaufsausstellungen initiierte seit 1826 die der Kunstakademie nahestehende „Gesellschaft zur Förderung der Künstler“, und bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sie auf diesem Gebiet kaum Konkurrenz zu fürchten.

Da das Interesse vieler Kunsthistoriker, aber auch Historiker, nicht selten auf den Abweichungen, auf den Stürmern und Drängern in der russischen Kunst liegt, bewegt sich Irina Alters Arbeit sicher nicht im Hauptstrom der Forschung. Gerade weil die modernistischen Strömungen sich gegen den Akademismus richteten und ihre eigentliche Kraft aus der Abgrenzung von ihm bezogen, musste die Kunstakademie zwangsläufig die gültige Referenz bleiben. Sie in ihrer Funktion als Normgeberin bildete die Antithese für jegliche künstlerische Innovation und wurde dadurch in der Rolle als Geburtshelferin für eine neue Kunst unabkömmlich. Es ist das große Verdienst der Arbeit, dieses Verhältnis wieder ins Bewusstsein gebracht zu haben, denn die Dynamik der Avantgarden ist zu nicht unerheblichen Teilen genau daraus zu erklären.

Nicht unbedingt gewöhnlich für eine kunsthistorische Arbeit und deswegen umso erwähnenswerter ist das Hinzuziehen archivalischer Materialien. Dennoch hätte man sich das eine oder andere Mal mehr quellenmäßige Tiefe und eine differenziertere Ausdeutung gewünscht, etwa bei der jeweiligen sozialen Zusammensetzung der Akademie oder aber auch bei den akademienahen Vereinen (S. 204ff., 228), welche die so wichtige, auch ökonomische, Vermittlerrolle zwischen Gesellschaft, Kunst und Staat eingenommen hatten.

Dieser etwas zu verallgemeinernde Zugriff führt nun Irina Alter zu der These, die Reformen von 1893/94 seien durchweg in herrschaftlich-staatlicher Regie entstanden. In der Tat, es wäre gewiss töricht, vom Gegenteil auszugehen. Dass aber gerade die Wanderer als akademische Freischärler letztlich in diese starren Strukturen eindrangen und sie umwandelten, spricht jedoch nicht unbedingt dafür, dass die Veränderung der Akademie als reines Diktat erfolgt war. Freilich, die Reform war eine Weisung von oben, doch hatte die Akademie auf Veränderungen sowohl im Ausland als auch in Russland reagiert. Die Reform war daher keine einseitige staatliche Angelegenheit, sondern vielmehr ein kompliziertes Zusammenspiel von Künstlern, Kunstkritikern, Beamten und nicht zuletzt auch der Kunstöffentlichkeit.

Die eigentliche Absicht der Autorin liegt aber ganz woanders. Ihr Bemühen, die Reform im Kern positiv zu bewerten, wird nämlich ganz und gar von dem Wunsch getragen, den Begriffen „Staatlichkeit“ und „Zentralisierung“ den Stachel zu ziehen. Dabei zeigt sich jedoch, dass sie diese Kategorien nicht richtig anlegt. Wenn nämlich die Besonderheiten der russischen Kunstakademie tatsächlich darin bestanden, dass sich Russland ganz allgemein durch „eine abweichende Auffassung der individuellen persönlichen Freiheiten, eine ausgesprochen zentralistische Organisation und eine extreme Staatskontrolle“ (S. 51) ausgezeichnet habe und aufgrund dessen die Reformen im russischen Akademiesystem sämtlich „von oben“ (S. 155 u.ö.) erfolgten, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die Autorin nicht nur eine allzu einfache Vorstellung von der russischen Gesellschaft an den Tag legt, sondern dass sie offenbar auch explanans und explanandum miteinander vermengt. Nimmt man gerade vor dem Hintergrund der Kulturtransfers die Eigenheiten der russischen Zielkultur in den Blick, dann liegt es doch zwangsläufig nahe, zuerst einmal nach den Erklärungen für Russlands hohe Rezeptivität zu fragen. Erst dann lassen sich nämlich Aussagen treffen über die Besonderheiten der Aufnahme und Verarbeitung kultureller Übertragungsprozesse, erst dann werden kulturelle Eigenheiten als solche erkennbar. Im Westen angestellte und in Umlauf gebrachte Mutmaßungen über einen alles absorbierenden Leviathan als Grundlage herzunehmen, um die hofnahe, staatszentrierte und straff hierarchische Gestalt des offiziellen Kunstbetriebs zu begründen, erreicht das von der Autorin ausgegebene Ziel daher nicht ganz. Diesem Zirkelschluss hätte man sicher entgehen können, wenn generalisierende Etikettierungen vermieden worden wären. Mehr Aufmerksamkeit für die jeweiligen konkreten Kontexte hätte es ermöglicht, den scheinbar unumkehrbaren Herrschaftsfluss von „oben“ nach „unten“ zumindest zur Disposition zu stellen.

In Russland, wo Kunst gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur eine immer breitere Öffentlichkeit erhielt, sondern wo sich gerade im Gewand der Kunstkritik die Gelegenheit bot, sich politisch halbwegs ungestraft zu äußern, wies die Kunst eine Unbedingtheit auf wie kaum anderswo. Darauf musste die Akademie reagieren, sich öffnen, sonst hätte sie ihren Deutungsanspruch womöglich ganz eingebüßt. Irina Alter hat auf die diesem Prozess innewohnende Ambivalenz hingewiesen, und sie hat gezeigt, dass die Kunstakademie als normative Institution letztlich von allen bestätigt werden musste, um neue Kunst zu ermöglichen. Dass nun gerade die Neuerer von einst nach 1917 als Wegbereiter des ‚Sozrealismus‘ herhalten mussten, der die Vollendung der Kunst und zugleich ihr Ende war, konnte freilich niemand ahnen.

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