LWL-Institut (Hrsg.): Westfalen in der Moderne 1815–2015

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Titel
Westfalen in der Moderne 1815–2015. Geschichte einer Region


Herausgeber
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
Erschienen
Münster 2015: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
864 S., zahlr. Abb. und Karten
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Büschenfeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die einführenden Beiträge dieses Sammelbandes zum modernen Westfalen, zu „Politik und Partizipation“, „Wirtschaft und Gesellschaft“ sowie zu „Kultur und Lebenswelten“ verleiten zu der Frage, warum man sich überhaupt mit diesem Westfalen beschäftigen sollte – ein Westfalen, das als Kind des Wiener Kongresses doch kaum an ältere Vorstellungen von einem „Raum Westfalen“ anknüpfen konnte und das außerdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht als wirtschaftlich rückständig galt. Und wenn dann auch noch, wie Karl Ditt schreibt, kein Geringerer als Voltaire die Westfalen als „ungehobelte Tölpel“ charakterisiert hat und damit der Raum Westfalen bis ins 19. Jahrhundert hinein mit nur „geringen geistigen Potenzen“ ausgestattet zu sein schien (S. 485), dann ist das historische Interesse an der preußischen Provinz Westfalen zumindest erklärungsbedürftig. Mit den erwähnten Zuschreibungen mögen die Ausgangssituationen für Politik, Wirtschaft und Kultur um 1800 zwar plakativ umrissen sein, aber die 24 Texte, verfasst von 17 Autorinnen und Autoren, sprechen schnell eine gehaltvolle Sprache. Sie unterstreichen, wie lohnend ein facettenreicher Rückblick auf 200 Jahre Westfalen, auf „Westfalen in der Moderne“ sein kann.

Die von Karl Ditt und Thomas Küster vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte redaktionell betreute, weitgehend von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts getragene Publikation (nach kurzer Zeit bereits in 2. Auflage erschienen) folgt einem überzeugenden, gesellschaftsgeschichtlich orientierten Konzept. Den thematisch breit angelegten Kapiteln zu Politik, Wirtschaft und Kultur sind jeweils Überblicksbeiträge vorangestellt, die in kompakten Längsschnitten 200 Jahre westfälische Geschichte vermessen. Sie bilden gewissermaßen die „Eröffnungsbilanzen“ für die sich anschließenden thematischen Querschnitte, die sich ihrerseits – themenzentriert – zwischen den Eckdaten 1815 und 2015 bewegen. Somit liegen Aufsätze vor, die das Untersuchungsgebiet in einem immer neuen Licht erscheinen lassen. Dass das zwangsläufig begrenzte Volumen der Aufsätze dabei eher auf die Darstellung von Strukturen und Prozessen als auf individuelle Erfahrungen rekurriert, liegt in der Natur der Sache, folgt aber mit Blick auf das Konzept der Gesellschaftsgeschichte sicher auch einem entsprechenden Vorverständnis, sich nicht an den Besonderheiten des Einzelfalls zu orientieren, sondern vielmehr an den entscheidenden Dimensionen der gesellschaftlichen Entwicklung.

Karl Ditt konstatiert in der Einleitung, dass im Rahmen von Gesamtdarstellungen zur westfälischen Geschichte bislang in hohem Maße die politische Geschichte dominiert habe. Insofern erscheint es nur folgerichtig, nun auch stärker auf wirtschaftliche und kulturelle Bedeutungsdimensionen einzugehen. Darüber hinaus möchte der Sammelband den landesgeschichtlichen Ansatz, der seinen Forschungsgegenstand in erster Linie in einem durch politische Grenzen definierten Territorium findet, mit regionalgeschichtlichen Überlegungen verbinden, die immer auch jenseits der politischen Grenzen nach anderen Gemeinsamkeiten wie wirtschaftlichen oder sozialen Zusammenhängen fragen. Außerdem ist die Regionalgeschichte seit den 1970er-Jahren angetreten, ihre Erkenntnisse aus der Regionalforschung für spezifische Fragestellungen zur allgemeinen Geschichte zu nutzen. Insofern verfolgt die hier besprochene Publikation auch das Ziel, die verhandelten Themen nicht nur in ihrer „provinziellen“ Bedeutung, sondern auch in weiter gesteckten Zusammenhängen wahrzunehmen.

Zeichnet Bernd Walter in seinem einführenden Beitrag zu „Politik und Partizipation“ die großen Linien von „Verfassung und politische[r] Kultur unter fünf Systemen“, so ergibt sich aus dieser Darstellung eine Reihe von Anknüpfungspunkten für thematische Tiefenbohrungen. Schreibt Walter etwa über die Reaktionszeit im Anschluss an die Revolution 1848/49 vom Wiedererstarken der alten politischen Ordnung, so setzt sich Marcus Weidner mit dem „Adel in Übergängen“ auseinander; er verfolgt den Weg des Adels und dessen Versuche zur Selbstbehauptung im Strom eines unumkehrbaren Modernisierungsprozesses. Kann im einführenden Beitrag die Gründung von Parteien nur gestreift werden, so gelingt es Rainer Pöppinghege, die zunächst unscharfe Gemengelage politischer Gesinnungen über die Gründung von politischen Parteien bis hin zu den Volksparteien und zu den neuen politischen Strömungen unserer Tage nachzuzeichnen. Auch der Verweis auf die Ausweitung des Pressewesens in den Zeiten bürgerlicher Partizipationsbestrebungen findet im Beitrag von Gerd Meier und Thomas Küster zu „Politik, Presselandschaft und Öffentlichkeit“ seine überaus ansprechende Konkretion, die den Bogen vom Vormärz zur aktuellen Diskussion über die Presse im Online-Zeitalter spannt.

Aus den einführenden Beiträgen zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ sowie „Kultur und Lebenswelten“ ergeben sich ebenfalls Anknüpfungspunkte für tiefergehende Überlegungen in eigenständigen Texten. So darf für Westfalen ein Aufsatz über den Steinkohlenbergbau sicher nicht fehlen, galt dieser Bergbau doch viele Jahrzehnte – weit über Westfalen hinaus – als Gradmesser für Krisen und Konjunkturen. Nicht nur wirtschaftliche Daten oder die Modernisierung der Arbeitsprozesse behandelt Michael Prinz an dieser Stelle; auch Klassenkonflikte, Klassenkampf und Modelle der Sozialpartnerschaft werden hier beleuchtet. Landwirtschaft und Handwerk markieren ebenso eigene Themen wie die Auseinandersetzung mit den Besonderheiten ländlicher und städtischer Gesellschaften. Die Diskussion von Bevölkerungsentwicklung und Migration führt noch einmal, auch anhand des hier herangezogenen sehr eingängigen statistischen Materials, den massiven Wandel von einer „rasant wachsenden“ hin zu einer „schnell schrumpfenden“ Bevölkerung vor Augen. Markus Küpker plädiert dafür, kommende Migrationswellen nicht als Bedrohung, sondern eher als Chance zu begreifen.

Kreisen die Gedanken im einführenden Beitrag zu „Kultur und Lebenswelten“ zunächst relativ eng um Ausprägungen der Kultur in einer klassisch-humanistischen Variante, um die Volkskultur, um Weltanschauungskulturen, um die Heimat- und Volkstumskultur oder auch um die Massenkultur, so scheinen einige der unter diesem „Dach“ versammelten Beiträge doch eine eher lockere Anbindung an den vorgegebenen Gegenstand zu suchen. Daher stellt sich die Frage, ob etwa der überzeugende Beitrag von Katrin Minner zu Stadtentwicklung und urbanem Leben nicht besser dem Kapitel „Wirtschaft und Gesellschaft“ hätte zugeordnet werden können. Diese Frage stellt sich auch für den letzten Beitrag von Martin Dröge zu „Natur und Umwelt zwischen Ökonomie und Ökologie“. Diskutiert werden müsste außerdem über die Wahl der Begrifflichkeiten: Der Umweltbegriff, wie er hier verwendet wird, vermittelt den Eindruck, als wäre die Sorge um „Umwelt“ zumindest in Teilen der Bevölkerung bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine feste Größe gewesen. Bis in die 1960er-Jahre hinein ging es aber keineswegs um „Umwelt“. Während Umweltpolitik historisch unbekannt blieb, war der Schutz der natürlichen Ressourcen über die zeitgenössische Hygiene in erster Linie an das Thema Gesundheit angebunden. Auch ging es in entsprechenden Rechtsnormen, so im Rahmen der Konzession von Gewerbebetrieben, um ästhetische Fragen, vor allem aber um den Schutz handfester wirtschaftlicher Interessen.

Das Gesamtprojekt bietet einen ausgezeichneten, zudem ausgesprochen preiswerten Überblick zu „Westfalen in der Moderne“, und jeder der hier versammelten Beiträge hätte eine ausführliche Würdigung verdient gehabt. Dabei dürfte es den Autorinnen und Autoren nicht immer leicht gefallen sein, die Einzelthemen über einen Untersuchungszeitraum von jeweils 200 Jahren hinweg stets mit der gebotenen Tiefenschärfe darzustellen. Das Ergebnis ist gleichwohl beeindruckend – nicht nur mit Blick auf die Provinz bzw. den Landesteil, sondern auch in Bezug auf die allgemeine Geschichte. Das Ziel der Redakteure, sowohl der Fachwissenschaft als auch der interessierten Öffentlichkeit neue Perspektiven auf die westfälische Geschichte in der Moderne zu vermitteln, ist überzeugend in die Tat umgesetzt worden.