P. Keller: "Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr"

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Titel
"Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr". Die deutsche Armee 1918–1921


Autor(en)
Keller, Peter
Reihe
Krieg in der Geschichte 82
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 39.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Pöhlmann, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam

Die Streitkräfte der ersten deutschen Republik erfreuen sich nach Jahrzehnten des historiografischen Schattendaseins einer kleinen Renaissance. Die Studien von Rüdiger Bergien, William Mulligan, Frank Reichherzer, Matthias Strohn und Gil-li Vardi sind hier zu nennen.1 Peter Keller schreibt diesen erfreulichen Trend mit seiner von Andreas Wirsching und Günther Kronenbitter betreuten Augsburger Dissertation fort. Er tut dies in konziser Form, in elegantem Duktus – und mit revisionistischer Verve.

Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Reichswehr, neudeutsch gesagt, ein Imageproblem hat. Bis heute gilt sie gemeinhin als militärischer Homunkulus des Versailler Friedensordnung. Im Rückzug ihrer Kader auf das vermeintlich unpolitische Soldatentum und in deren starken Ablehnung des parlamentarischen Systems erscheint sie als Paradebeispiel für eine Truppe, die letztlich nicht hinter dem System stand, auf das sie den Eid geleistet hat. Keller macht sich nun daran, diese Vorstellungen zumindest für die turbulente und blutige Frühphase zwischen dem Waffenstillstand vom November 1918 und dem Wehrgesetz vom März 1921 zu dekonstruieren.

Dabei fokussiert er auf den militärpolitischen Rahmen, die operative Praxis und die organisatorische Ausformung der Streitkräfte. Keller beginnt mit einer Neubewertung des „Ebert-Groener-Paktes“. Mit diesem sei – so die orthodoxe Lesart – während der revolutionären Ereignisse im November 1918 ein verhängnisvolles Zweckbündnis zwischen neuen und alten Eliten geschlossen worden. Der Autor setzt dem entgegen, dass es sich dabei bei näherer Betrachtung nicht um einen „top-down“ beschlossenen Herrschaftskompromiss gehandelt habe. Er deutet diesen „Pakt“ vielmehr als Summe zahlreicher regionaler und auch unterschiedlich motivierter Bemühungen um einen pragmatischen Sicherheitskonsens. Mehrheitssozialisten, Kriegsministerium und Oberste Heeresleitung hätten diese Entwicklung auf der nationalen Ebene letztlich nur nachvollzogen.

Zu den interessanteren Erörterungen zählt der Teil, in dem der Autor die eigentliche Struktur der bewaffneten Macht in 1918/19 unter die Lupe nimmt. Hier widerspricht Keller der Lesart, der Zusammenbruch des Heeres und der Marine habe das Aufsprießen politisch radikaler Freikorpsformationen zur Folge gehabt, derer sich die Reichsregierung allenfalls punktuell bedienen konnte, die sich dann aber wie der Besen gegen den Zauberlehrling gewandt hätten und schließlich zur „Vanguard of Nazism“ (so der Titel des älteren Standardwerkes von Robert G. L. Waite) aufgewachsen wären.2 Durch eine sorgfältige Analyse regionaler, vornehmlich süddeutscher Archivbestände kommt der Autor dagegen zu dem Schluss, dass die Veränderung der Armee viel eher als ein einigermaßen gesteuerter Transformationsprozess zu verstehen sei, bei dem die politische und die militärische Führung erstaunliche adaptive Fähigkeiten bewiesen hätten.

Überhaupt sei es mit dem Begriff „Freikorps“ nicht weit her: Keller macht insgesamt nicht weniger als elf verschiedene Typen von Freiwilligenformationen aus, die sich in den Umständen ihrer Genese, in Gliederung, Kampfkraft, innerer Verfasstheit und politischem Selbstverständnis stark unterschieden hätten. Er fasst diese unter dem Sammelbegriff „Regierungstruppen“ (S. 107), was ziemlich unkonkret klingt, aber die historische Situation wohl ganz treffend kennzeichnet. Regelrecht pikant wird es dort, wo er den letztlich bis heute virulenten Freikorps-Mythos dekonstruiert. Dieser beruhte auf der Vorstellung, die Freikorps seien eine ideologisch homogene, radikal antiparlamentarische Bewegung gewesen. Doch aus Kellers Sicht ist dieses Bild namentlich von jenen Akteuren konstruiert worden, die sich später mit einer solchen Selbstverortung den Nationalsozialisten angedient oder die tatsächlich dort eine ideologische Heimat gefunden hatten. Dass dieser Mythos über 1945 hinaus wirksam bleiben konnte, führt Keller recht überzeugend auf die unkritische Rezeption dieser Erinnerungsliteratur durch die Historiker der 1960er- bis 1980er-Jahre zurück. Letztere wendeten diese Selbstzuschreibung der historischen Akteure als homogene, radikale Bewegung nun negativ und ließen es dabei im Interesse einer ideologiekritischen Deutung ebenso an der erforderlichen Differenzierung mangeln.

Einmal in Fahrt gekommen, bricht der Autor nun bei der Bewertung des Kapp-Lüttwitz-Putsches vom März 1920 den Stab über der Reichsregierung von Friedrich Ebert. Es sei zwar richtig, dass der damalige Chef des Truppenamtes, Hans von Seeckt, mit seinem berüchtigten Diktum „Truppe schießt nicht auf Truppe“ der Regierung auf dem Höhepunkt der Krise das Risiko einer Fraternisierung der in Berlin liegenden Regierungstruppen gegen die Putschisten vor Augen geführt habe. Damit habe von Seeckt tatsächlich angedeutet, dass ihm die Einheit des Heeres wichtiger als der Gehorsam gegenüber der Regierung war. Richtig sei aber auch, dass von Seeckts wichtigster Konkurrent, der damalige Chef der Heeresleitung, Walther Reinhardt, die Regierung aufgefordert hatte, es durch bestimmtes Auftreten und den Befehl zur Niederschlagung des Putsches zum Schwur für die Regierungstruppen kommen zu lassen. Das Ergebnis eines solchen Schrittes wäre, so die Annahme Kellers, letztlich wohl zugunsten der Regierung ausgefallen. Stattdessen aber habe die Regierung ein fatales Krisenmanagement an den Tag gelegt und durch den Aufruf zum Generalstreik weite Teile der Armee gegen sich aufgebracht. Damit habe sie den ohnehin brüchigen Basiskonsens erschüttert, weil sie in letzter Konsequenz „die Straße“ nicht nur gegen die Putschisten sondern gegen die eigene Armee mobilisiert habe. Innerhalb des Militärs habe damit die Gruppe der „pragmatischen Technokraten“ um Reinhardt an Rückhalt verloren. Stattdessen habe die Gruppe der „verfassungsloyalen Attentisten“ um Seeckt die Führung übernommen, womit die folgenreiche Entfremdung zwischen Regierung und Militär eingeleitet worden sei (siehe S. 171 zur Differenzierung der Gruppen innerhalb der militärischen Führung).

Die Darstellung der unmittelbaren Folge dieser Entwicklung, die aus dem Generalstreik gegen Kapp-Lüttwitz entfachte kommunistischen Revolte im Ruhrgebiet und deren Niederschlagung durch die Regierungstruppen, bleibt dann in Qualität und Originalität hinter den vorangegangen Teilen zurück. Kellers Versuch, auch hier die Regierungstruppen in ihrer Struktur und ihrer konterrevolutionärer Praxis auszudifferenzieren, leidet ein wenig am Mangel an aussagekräftigen Quellen. In der knappen Bilanz führt der Autor noch einmal seine Thesen aus und betont die seiner Meinung nach in der Literatur bislang unterschätzte Offenheit der historischen Entwicklung.

Mit 310 Seiten ist das Buch erfreulich konzise und sollte darin jeder Doktorandin und jedem Doktoranden zum Vorbild gereichen. Allerdings hat die Kürze natürlich ihren Preis: Der Rezensent vermisste etwa eine substanzielle Erörterung der Frage, wie sich die Exponenten der republikanischen (Berufs-)Armee zur Wehrpflichtarmee des Kaiserreiches stellten: Wo sahen sie Anknüpfungspunkte, wo formulierten sie Kritik an der „Alten Armee“? Der Rückblick auf die Vergangenheit muss doch eine Grundlage für den beschriebenen Transformationsprozess gebildet haben.

Bei den Quellen fällt die bestenfalls kursorische Einbeziehung der zeitgenössischen Militärfachzeitschriften auf. Die Biografie zum Reichswehrminister Otto Geßler von Heiner Möllers und die Studie von Benjamin Ziemann zum Reichsbanner sucht man vergebens.3 Ganz und gar missglückt ist das Cover.

Abgesehen von diesen kleineren Monita ist der Gesamteindruck sehr positiv: Der Autor schreibt gut und man wird sehen, was von seinen Thesen tatsächlich Bestand haben wird. Auf jeden Fall hat Keller ein meinungsstarkes und mutiges Buch vorgelegt, das aus der Masse des akademischen Einerleis von Qualifikationsarbeiten heraussticht. An diesem Buch wird niemand vorbeikommen, der sich in der Zukunft mit der Reichswehr und der Militärpolitik der frühen Weimarer Republik befasst.

Anmerkungen:
1 Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und "Wehrhaftmachung" in Deutschland 1918–1933, München 2012; William Mulligan, The Creation of the Modern German Army: General Walther Reinhardt and the Weimar Republic, 1914–1930, New York 2005; Frank Reichherzer, "Alles ist Front". Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg, Paderborn 2012; Matthias Strohn, The German Army and the Defence of the Reich. Military Doctrine and the Conduct of the Defensive Battle 1918–1939, Cambridge 2011; Gil-li Vardi, The Enigma of Wehrmacht Operational Doctrine. The Evolution of Military Thought in Germany 1919–1941 (im Druck).
2 Robert George Leeson Waite, Vanguard of Nazism. The Free Corps Movement in Postwar Germany, 1918–1923, Cambridge, Mass. 1952.
3 Heiner Möllers, Reichswehrminister Otto Geßler. Eine Studie zu „unpolitischer“ Militärpolitik in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1998; Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014, konnte vom Autor wohl nicht mehr aufgenommen werden, enthält aber wertvolle Anregungen für den Fall einer Folgeauflage.

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