M. Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland

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Titel
Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium 1864–1915


Autor(en)
Rolf, Malte
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 43
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 531 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Golczewski, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Man kann wirklich nicht sagen, dass es zu wenige Publikationen über das Polen der Teilungszeit gäbe, aber es ist recht markant, dass sich polnische Autoren, die die meisten dieser Werke geschrieben haben, schwer tun, die „Repräsentanten Petersburger Herrschaft“ (S. 9) sachgerecht zu analysieren. Die dominierende Nationalhistoriographie beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen auf eine pauschal negative Sicht, in der Oberpolizeimeister oder Zensoren, kurz Unterdrücker, als das personifizierte Böse dem idealisierten Personal der Vor-Teilungs-Zeit und der Aufstände oder auch des „auferstandenen“ Polen nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber gestellt werden.

Offenbar bleibt es der Fremdhistorie vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass eine mit deutlichem Ressentiment vorgetragene Geschichtsschreibung vielleicht die Stimmung eines großen Teils der damaligen Zeitgenossen aufnimmt, dabei jedoch – ähnlich wie in den „post-colonial studies“ – die Hybridität einer langen Kohabitation übersieht.

Was für den literarischen Bereich Peter Salden in seiner Dissertation1 bearbeitet hat, behandelt der Bamberger Osteuropa-Historiker in seiner Habilitationsschrift für die Verwaltung. Dies ist ein weiter Begriff, reicht er doch von den sehr unterschiedlichen und exzellent charakterisierten Statthaltern/Generalgouverneuren über die Gewaltinstanzen bis zu Lehrern und Universitätsprofessoren.

Der (durchaus eingelöste) Anspruch der Studie geht über ein lokales Narrativ hinaus: Rolf unternimmt es, aus der Analyse der Herrschaftsschicht heraus nicht nur den polnischen Komplex zu analysieren, sondern dabei gleichzeitig die bürokratische Struktur des Zarenreiches zu erfassen, die allgemeinere Rückschlüsse auf die russländische Politik gestatten soll. Weit davon entfernt, einen einfachen Antagonismus zu konstatieren, versteht er das Mit- und Gegeneinander von Vertretern des Imperiums einerseits sowie Polen und Juden andererseits als eine „Konfliktgemeinschaft“ (S. 7). Die Konfliktpartner verbrachten eine lange Zeit miteinander und gingen Wechselbeziehungen ein, in deren Ergebnis wenn auch keine Symbiose, so doch eine „formative Dimension“ (S. 8) entstand.

Viele Polen und Juden nutzten die Chancen, die das Leben in dem sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reformierenden und modernisierenden Imperium bot. Zugleich waren nach Malte Rolfs Ansicht die höheren Repräsentanten des Reiches Verfechter einer sich weniger national denn imperial identifizierenden multinationalen Machtelite, die folglich mit russisch-nationalen politischen Kreisen des Zarenreiches in Konflikte gerieten. Auf dieser Grundlage, aber auch in rein formalen Rivalitäten spielten sich immer häufiger Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Generalgouverneuren und den Petersburger Zentralbehörden ab, wobei die lokalen Machthaber nicht selten erfolgreicher waren.

Der zeitliche Beginn der Darstellung mit der Niederschlagung des Januar-Aufstands stellt die Epoche der russischen Reformbereitschaft in den Mittelpunkt der ersten Abschnitte, wobei wiederholt und richtig hervorgehoben wird, dass sich die Russen um die polnischen Bauern bemühten, während sie (wie auch Bismarcks Preußen, was leider nicht erwähnt wird) in Szlachta und katholischem Klerus die Feinde ihrer Staatlichkeit sahen.

Während polnische Historiker gern die kulturelle Bremserfunktion der russischen Bürokratie hervorheben, kommt die Forschung des Verfassers zu einem gegenteiligen Ergebnis. In zwei langen Abschnitten weist er nach, dass die Zarenmacht kein „Modernitätsverhinderer“ war (S. 276), sondern dass sich die russischen Statthalter, Stadtpräsidenten, Beamten und in staatlichem (also russischem) Dienst stehenden Ingenieure bemühten, Warschau als modernes westliches „Schaufenster“ zu präsentieren. Damit korrespondierten diese auch mit den Tendenzen des Warschauer Positivismus, der an die Stelle der mörderischen und erfolglosen Aufstände einen geistig-ökonomisch-technischen Aufbau mit dem Ziel der Vorbereitung einer künftigen Unabhängigkeit setzte. Der Wandel der kulturellen Landschaft Russisch-Polens von einer prämodernen zu einer modernen Gesellschaft erfolgte demnach – nicht zuletzt in einer stellenweise durchaus bewussten Abgrenzung vom Rest des Reiches – in einer interaktiven, sowohl von heftigen Animositäten als auch von synergetischen Praktiken geprägten Umgebung.

Da die russländische Seite dieses Gespanns bisher wenig historiographische Beachtung fand, ist der Teil, der sich mit ihrer gesellschaftlichen Enklave, dem „Russischen Warschau“, befasst, besonders wertvoll. Darin geht es nicht nur um die staatlichen Behörden, die umstrittene Universität und die verhasste orthodoxe Kirche, deren Kathedrale nach dem Ersten Weltkrieg abgerissen wurde, sondern um ein vielfältiges kulturelles Leben, das sich in Buchläden, Konzerten und gesellschaftlichen Ereignissen niederschlug. Auch wenn Malte Rolf an anderer Stelle zu Unrecht annimmt, es habe in Russland keine Protektoratstradition gegeben (S. 18, es gab genau in der Berichtszeit Protektorate in Buchara und Chiwa), stellt er mit der Diagnose einer zumindest ansatzweise segregierten Gesellschaft die Parallele zu kolonialen Praktiken Großbritanniens und Frankreichs her (S. 310).

Mit dem Anbrechen des neuen Jahrhunderts wandelte sich das Verhältnis von Teilungsmachtvertretern und locals. Linke und linksradikale Gruppen traten stärker in Erscheinung, und für die Repräsentanten der 1905 erstmals in ihren Grundfesten erschütterten Reichsmacht ersetzten Vertreter des Sozialprotests und Sozialisten die bisherigen „Feinde“ in Adel, Geistlichkeit und nationaler Intelligenzija (S. 367). Dementsprechend suchten nun die Russen eher Kontakte mit liberaleren Kräften, und am Ende dieser Entwicklung stand die vorsichtige „Vergleichende Vereinbarung“ (ugoda) mit den Nationaldemokraten, die ungeachtet der schließlich eingegrenzten und 1913 verbotenen antijüdischen Propaganda bis in den Ersten Weltkrieg hinein hielt.

Mit den Abschnitten über die gewaltsamen Auseinandersetzungen wandelt sich auch der Stil des Buches. Die Zeit bis dahin wird weitgehend als eine Art Einheit behandelt, wobei die partiell kulturwissenschaftliche Interpretation aus der chronologischen Narration ausbricht, die für die Zeit nach 1905 weitgehend eingehalten wird. Der einerseits durchaus verständliche Verzicht auf chronologisches Erzählen im ersten Teil erschwert andererseits das Wahrnehmen von wichtigen Entwicklungen (wie etwa der wechselnden Schärfe der Zensur oder der wachsenden Betonung der Orthodoxie), die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ereigneten.

Wie resümiert der Verfasser seine Erkenntnisse? Seine Protagonisten nahmen Polen meist als einen „fremden Landstrich“ (S. 421) wahr, den sie als Basis der Modernisierung schätzen lernten. Ihre hier gemachten Erfahrungen konnten sie in ihren anderen Verwendungen im Imperium umsetzen. Sie strebten dabei aber auch mehr oder weniger erfolgreich die „Angleichung an das Innere“ des Reiches an, und hier endet (wie Malte Rolf richtig erkennt, S. 457) die Ähnlichkeit mit der Habsburgermonarchie, die anfangs noch angenommen werden mag. Dort konnte nach 1867 und mehr noch nach 1897 keine Zentralisierung mehr unternommen werden. Vielmehr wurde in Österreich-Ungarn versucht, die Peripherie durch Zugeständnisse zu stabilisieren – ein deutlicher Unterschied zum Russischen Reich, auch wenn beide Strategien letztlich gleichermaßen vergeblich waren.

Malte Rolfs Blick auf die russländischen Oberherren in Polen ist erfrischend unvoreingenommen. Es gelingt ihm, einige Klischees zu korrigieren, Dämonisierungen zu vermeiden, ohne dabei die Fremdherrschaft, die seitens der Polen im Zuge der Ausbildung nationalistischer Positionen immer deutlicher wahrgenommen wurde, schönzureden. Die Rezeption seiner Befunde wäre daher sehr wünschenswert.

Anmerkung:
1 Peter Salden, Russische Literatur in Polen (1864–1904), Köln 2013.

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