T. Penter u.a. (Hrsg.): Sovietnam

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Titel
Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan 1979–1989


Herausgeber
Penter, Tanja; Meier, Esther
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Casula, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Gegenüberstellung zwischen dem sowjetischen Afghanistankrieg und jenem der USA in Vietnam ist für den von Tanja Penter und Esther Meier vorgelegten Sammelband titelgebend. Ziel der hier versammelten Aufsätze ist wider Erwarten aber kein systematischer Vergleich der beiden Kriege. Nur die Einleitung der Herausgeberinnen deutet die Vielzahl der möglichen Arbeitsfelder an, die so eine vergleichende Analyse eröffnen würde. Stattdessen stehen bei den versammelten Artikeln konventionellere Fragen im Vordergrund, die aber teils kreativ und innovativ diskutiert werden, darunter „die Auswirkungen des Afghanistankrieges auf die Sowjetgesellschaft und ihr Umgang mit den Kriegsheimkehrern […] sowie die allgemeine Frage nach dem Platz des Afghanistankrieges in der sowjetischen Gesellschaft und seiner Bedeutung in der sowjetischen Erinnerungskultur“ (S. 11).

Der Sammelband, der aus einer Tagung an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr hervorgegangen ist, gliedert sich in fünf große Teile. Unter den Beiträgen im ersten Teil (Vorgeschichte) finden sich Artikel zu den russisch-afghanischen Beziehungen zu Beginn des 20. Jh. (Mark) und zur Aushandlung der Moderne im Kalten Krieg (Beyer). Der zweite Abschnitt (Gewalterfahrungen) diskutiert den „Aufstand der Mudschahedin“ (Johnson), die afghanische Bildpropaganda (Vogel), Afghanistan als Gewaltraum (Behrends) sowie tadschikische Veteranen (Göransson). Der dritte Teil (Afghanistanveteranen) untersucht sowjetische Kriegslieder (Oushakine) und die Herausbildung einer hegemonialen Maskulinität (Danilova). Der vierte Abschnitt (Kriegserinnerungen) geht genauer auf Veteranenverbände ein (Galbas), auf das „virtuelle“ Gedächtnis im heutigen Russland (Roždestvenskaja) sowie auf „heroische Erinnerung“ in Belarus (Ackermann). Der letzte Teil des Buches diskutiert Deutungen des Konfliktes seit 1978 (Deuerlein) und „Lehren“ aus Diplomatensicht (Braithwaite).

Den vielleicht interessantesten Beitrag leistet Martin Deuerlein, weil er sich erstmals der zentralen Aufgabe stellt, Debatten über den Afghanistankrieg zu systematisieren (S. 289). Deuerleins Beitrag ist zwar tatsächlich „materialgesättigt“ (S. 18), betrachtet aber nur deutsch-, englisch-, und russischsprachige Quellen.1 Dabei zeigt er auf, wie sehr eine „global-“ (S. 291) bzw. „geostrategische“ Deutung die westlichen Diskussionen dominiert hat. Nur langsam rückten auch innerafghanische Entwicklungen in den Blick der Historiker/innen, obwohl „den meisten von ihnen […] jedoch wenig […] an einer gleichwertigen Behandlung der afghanischen Geschichte“ lag (S. 296). Neuere Perspektiven verstehen den Krieg u.a. als Modernisierungskonflikt oder analysieren ihn in seiner medialen Darstellung.

Markus Göransson diskutiert die bereits in der Literatur wiederholt angedeutete Rolle zentralasiatischer Soldaten in Afghanistan. Neu an Göranssons Forschung ist, dass er auf 72 Interviews mit tadschikischen Soldaten zurückgreift und diese so direkt zu Wort kommen lässt. Dabei räumt er Fehleinschätzungen aus, wonach zentralasiatische Soldaten rasch wegen Unzuverlässigkeit oder interethnischer Spannungen (S. 166–173) wieder abgezogen wurden. Es fällt auf, wie sehr die tadschikischen Veteranen das sowjetische Überlegenheitsgefühl replizieren und sich abfällig über Afghanen als „hinterlistig, ungebildet […] und gewalttätig“ äußern (S. 171).

Göranssons Beirag steht in einem produktiven, methodischen und inhaltlichen Spannungsverhältnis zu jenen von Natalya Danilova, Michael Galbas und Elena Rozhdestwenskaja. Danilova arbeitet mit einer einzigen Veteranenbiographie und flicht diese gekonnt in den gesellschaftspolitischen Kontext der Perestroika-UdSSR ein. Aus der Warte von Danilovas Protagonisten Denis war der Afghanistankrieg eine traumatisierende Gewalterfahrung, wobei die Gewalt vor allem innerhalb der Truppe stattfand (S. 219). Galbas arbeitet stärker als Danilova und Göransson die Vielfalt der Einstellungen zum Krieg innerhalb der Veteranenverbände heraus, während Rozhdestwenskaja die grundsätzliche Schwierigkeit der Veteranen erwähnt, ihre Biographie kohärent zu erzählen (S. 254).

Insgesamt diskutiert der Sammelband zwar eine wiederholt aufgegriffene Thematik und nimmt sich wie so oft der Perspektive der Veteranen an, er vermag aber neue Akzente zu setzen, die das Buch sehr lesenswert machen. Der Sammelband kann u.a zeigen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Ego-Quellen der Veteranen von größter Bedeutung ist. Danilova, Galbas und Rozhdestwenskaja gelingt dies. Göransson hätte noch stärker herausarbeiten können, inwiefern die tadschikischen Veteranen ihre Vergangenheit in Afghanistan verklären, nicht zuletzt bezugnehmend auf ihren Status als Minderheit in der Sowjetunion. Hier hätte sich besonders angeboten, an die Arbeiten von Jeff Sahadeo anzuknüpfen, dessen zentralasiatische Protagonist/innen ebenfalls dazu neigten, ihre Zeit in der Hauptstadt der Sowjetunion zu beschönigen: Erweisen sich „Moskau“ (Sahadeo) und die „Sowjetische Armee“ (Göransson) nicht gleichermaßen als ephemere Räume einer oberflächlichen „Völkerfreundschaft“ (Druzhba narodov), die sich nur in einer verklärenden Erinnerung materialisiert?2 Göranssons Artikel verweist auch auf die komplexe epistemische Situation der Sowjetunion als vormalig explizite, und nach 1917 als implizite Kolonialmacht in Zentralasien sowie auf die ebenfalls unklare Situation tadschikischer Soldaten als „aus Rückständigkeit Befreite“ und dann „aus Rückständigkeit Befreiende“. Mindestens drei überlappende Interpretationen sind möglich: erstens, kommt in ihren Aussagen endlich eine post-koloniale agency zu Wort, oder aber zweitens, sie reflektieren gänzlich den hegemonialen sowjetischen Überlegenheitsdiskurs, oder drittens sie sind manifestes Beispiel der Abwesenheit eines lokalen Wissens über Afghanistans, ja einer Provinzialität des „Imperiums“, die umso stärker ist, je mehr es versucht, Universalität vorzuheucheln.3 Auch der Autor kann sich dieser reduktionistischen Vision auf seine Gesprächspartner nicht ganz entziehen: Reduziert auf Ethnie und Religion, hätten die „Tadschiken“ irgendwie mit den Afghanen verbunden sein müssen. Was sich hier andeutet ist, wie die Forschung genauso wie zuvor die sowjetischen Machthaber die ethnische und religiöse Identität über alles stellt. Dabei wird gerne übersehen, dass die Identität als „Soldat“, „Waffenbruder“, oder „Sowjetbürger“ viel prägender gewesen ist als ethnische oder religiöse Zugehörigkeit. Insofern waren die „bekanntermaßen“ (S. 15) vorhandenen „interethnischen Konflikte“ innerhalb der Armee, vielleicht ganz anders gelagert als oft angenommen.

Dass eine problematische Beziehung zu den eigenen Minderheiten im heutigen Russland fortbesteht, zeigt sich auch gegenwärtig in einem anderen Konflikt, der in dem Sammelband keine Erwähnung findet. Seit Herbst 2015 engagiert sich Russland militärisch im syrischen Bürgerkrieg. Wieder verschickt Russland „eigene Muslime“ und verlegte tschetschenische Militärpolizei nach Aleppo. Die Narrative dieser Soldaten ähneln denen von Göranssons Veteranen: beide stellen eine gesamtrussische bzw. gesamtsowjetische Identität in den Vordergrund.4 Dass hinter der Entsendung von Tschetschenen politisches Kalkül steht, liegt auf der Hand: Konkurrenz zwischen Teilrepubliken, Kampfbereitschaft der Verbände sowie der Umstand, dass die russische Öffentlichkeit tschetschenische Verluste weniger beachtet, spielen eine größere Rolle als „ethnisch-religiöse“ Motive und vermeintliche Gemeinsamkeiten mit der Lokalbevölkerung.5

Darüber hinaus gelingt es dem Sammelband ausgezeichnet, den Afghanistankrieg in die gegenwärtige russische Geschichtspolitik einzubetten. Oushakine und Galbas arbeiten besonders heraus, dass der Afghanistankonflikt zwar nicht an den Zweiten Weltkrieg als identitätsstiftenden Bezugspunkt heranreicht (S. 247), doch die Muster der Verarbeitung ähneln sich: „Indem die traumatische Vergangenheit als ein emotional aufgeladenes Ereignis in der persönlichen Biographie beschrieben wird, umgeht sie die Phase […] eingehender öffentlicher Analyse.“ (S. 187) Die Emotionalisierung und Personalisierung der Geschichte (S. 210) deuten auf die im gegenwärtigen Russland verbreitete Depolitisierung des öffentlichen Raumes.

Schließlich kann ein vorrangig von Osteuropahistoriker/innen verfasster Sammelband eine russozentrische Perspektive nicht ablegen. Zwar bilden die Beiträge Göranssons und Vogels hierbei eine Ausnahme, dennoch zementiert der Sammelband die dominierende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Afghanistankrieg. Was weiterhin fehlt, ist eine post-koloniale Perspektive auf diesen zehnjährigen Konflikt, die auch einen afghanischen Blick auf den Krieg selbst sowie auf Russland als Besatzungsmacht einschließt. Zum Vietnam-Krieg, der für den Sammelband titelgebend ist, wurden bereits einige Schritte in diese Richtung unternommen.6

Anmerkungen:
1 Dabei fand der Konflikt auch z.B. in Frankreich und Schweden Beachtung: Timothy Nunan, Humanitarian Invasion. Cambridge 2016. Vgl. Dazu Philipp Casula, in: H-Soz-Kult, 24.02.2017, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26543> (11.07.2017).
2 Jeff Sahadeo, Druzhba Narodov or second-class citizenship?, in: Central Asian Survey 4 (2007), S. 559–579.
3 Hamid Dabashi, Post-Orientalism, New Brunswick 2009, S. 210.
4https://www.youtube.com/watch?v=0vxmYR6QQkI (31.05.2017).
5 V Siriju napravili batal'on voennoj policii iz Ingushetii, RBK, 13.02.2017, http://www.rbc.ru/politics/13/02/2017/58a1c09e9a79475806d0095d (11.07.2017).
6 Jayne Werner / Luu Doan Huynh, The Vietnam War. Vietnamese and American Perspectives, London 2015.

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