Titel
Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944


Autor(en)
Rohdewald, Stefan
Reihe
Visuelle Geschichtskultur 14
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
905 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christian Maner, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Beschäftigung mit Erinnerungs- bzw. Geschichtskulturen ist mittlerweile eine notwendige Selbstverständlichkeit in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen. Seit den großen Entwürfen von Pierre Nora, Etienne François und Hagen Schulze, der Rückbesinnung auf Maurice Halbwachs, den tiefgehenden Reflexionen von Aleida und Jan Assmann sind methodische und theoretische Schneisen für eine ganze Reihe empirischer Arbeiten geschlagen worden, die vermehrt den Weg in die Hände der Leser finden.

Der zu besprechende Band geht auf eine Habilitationsschrift an der Universität Passau zurück. Der besonders große Umfang der Untersuchung wird durch eine kleinschrittige und klare Gliederung dennoch handhabbar und übersichtlich gestaltet. In einer dichten Einleitung werden, in den historiographischen Kontext eingebettet, Fragestellung und Gliederung der Arbeit vorgestellt.

Der Autor konzentriert sich auf sichtbare Erinnerungsorte im politischen Diskurs der orthodoxen Südslawen. Der Fokus richtet sich dabei exemplarisch insbesondere auf bulgarische und serbische Herrscher, die als Heilige verehrt wurden, sowie auf religiöse Figuren: Kyrill und Method, Kliment von Ohrid, Ioann von Rila, die heilige Petka, die heiligen Zaren Boris und Petăr, den heiligen Sava, die Dynastie der Nemanjiden sowie den Kosovomythos. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, in welchen Ausprägungen sich in einer longue durée, in den verschiedenen Phasen vom frühen Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1944 in Südosteuropa, religiöse Erinnerungsfiguren entwickelten. Welche Funktion besaßen sie bei der Ausbildung, Festigung, Erneuerung sowie Wandlung kollektiver Identitäten, aber auch herrschaftlicher bzw. dynastischer und, im weiteren zeitlichen Verlauf, nationaler Loyalitäten?

Der Autor will seine Vorgehensweise als sozialhistorische Diskursgeschichte verstanden wissen. Darin eingebettet sollen Identitätsentwürfe durch das Medium religiöser Erinnerungsfiguren überprüft werden. Bei der Rolle der Erinnerungsorte und ihrer medialen Vermittlung geht es vor allem um Dynamiken des Wandels von Funktionen und Bedeutungszuschreibungen von mittelalterlicher religiöser Erinnerung zu national umgewandelter Memoria an „Schlüsselfiguren“. Das intensive Durchdenken des Vorhabens mündet mitunter in eine seitenlange Fragebatterie (S. 14f.), die das übergeordnete Ziel unterteilt. Die Einleitung dient auch dazu, verwendete Begrifflichkeiten, unter anderem „Erinnerungsfiguren“, „Diskurs“, „Nation“, zu klären. Dies geschieht umfassend durch die Einbeziehung des Forschungsstandes. Darüber hinaus werden auch die zentralen Untersuchungen zu südosteuropäischen Erinnerungsfiguren vorgestellt.

Das Besondere der Arbeit liegt einmal in der mehrere Jahrhunderte in den Blick nehmenden, vergleichenden Herangehensweise. Ein besonderes Kennzeichen des diachronen Verfahrens liegt darin, dass die mittelalterliche, frühneuzeitliche und neuzeitliche Perspektive unter einer übergeordneten Fragestellung berücksichtigt werden. Darüber hinaus will die Untersuchung mit Hilfe von Ansätzen der transnationalen Verflechtungsgeschichte durch die Berücksichtigung mehrerer Regionen sich in der Neuzeit herausbildende nationale Grenzen überschreiten. Klar angesprochen wird aber auch die Abgrenzung: Behandelt werden Erinnerungsfiguren bei den orthodoxen Südslawen, das heißt Bulgaren, Serben und Makedonen. Wie der Untertitel auch besagt, werden die Regionen Serbien, Bulgarien und Makedonien berücksichtigt, doch ist es die Absicht, durch die Methode des Vergleichs einen gemeinsamen transnationalen Zusammenhang herzustellen. Neben der umfassenden Nutzung der Sekundärliteratur stützt sich die Analyse auf jeweils zeitgenössische Texte, die bisher weniger die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden haben.

Die Vorgehensweise ist gut geplant und angelegt. Nach einer nützlichen Skizze des jeweiligen historischen Rahmens werden in den Kapiteln die Akteure und Institutionen, von denen aus die Erinnerung ihren Lauf nimmt, nicht unbeachtet gelassen. Kulturwissenschaftliche Überlegungen einbeziehend werden die Wahrnehmung und Selbstpräsentation, die zeitgenössische Sprache und ihre Begriffe berücksichtigt. Innerhalb eines chronologischen roten Fadens werden die einzelnen Erinnerungsfiguren und ihre regionalen Medialisierungen analysiert. Allerdings gelingt es Rohdewald, auch einen Blick über sein regionales Forschungsgebiet hinaus zu werfen, wenn er auch über Verehrungen im ungarischen Herrschaftsgebiet, in Mähren oder bei den Türken nachdenkt.

Bei der Verehrung von Heiligen bis ins 18. Jahrhundert sind in erster Linie religiöse Momente ausschlaggebend. Immer wieder macht der Autor deutlich, dass die Verehrung universalen Charakter hatte und keineswegs regional eingeengt war. Auch spielten ethnische Elemente keine Rolle. Vielmehr diente die Erinnerung zur religiösen und herrschaftlichen bzw. machtpolitischen Integration. Immer wieder wird der transethnische Charakter der Heiligen deutlich. Ein sehr gutes Beispiel ist die heilige Petka/Paraskeva, deren Präsenz auf der gesamten Balkanhalbinsel nachgewiesen ist. Mit der Erinnerung geht auch ein besonderes Moment der Legitimation und Sakralisierung von Herrschaft einher. Dies wird insbesondere durch die Memoria der Nemanjiden deutlich.

Mit dem 19. Jahrhundert änderte sich der Diskurs grundlegend. Die Konzeption der modernen Nation nahm im Gedenken an religiöse Figuren eine zentrale Rolle ein. Gezielte Geschichtspolitik führte zur Nationalisierung der einzelnen „Erinnerungsorte“. So wurde Sava in den einzelnen regionalen Kontexten (z.B. in Serbien und im Kosovo) zum Nationalpatron, ebenso Ivan, Kyrill und Method sowie Kliment im bulgarischen Zusammenhang. Am deutlichsten, aus der Forschung bisher auch am bekanntesten, wird die Nationalisierung im Fall des Kosovomythos. Mit der nationalen Konnotation ging zugleich auch eine Säkularisierung sakraler Erinnerungsfiguren einher. Eine noch deutlichere Eingrenzung bzw. Umdeutung der Erinnerung auf den Nationalstaat hin fand dann im 20. Jahrhundert statt. Dies geschah noch weiter zugespitzt im Sinn einer Sakralisierung der Nation und säkularisierter religiöser Erinnerungsfiguren, die allesamt im Dienst nationalstaatlicher Herrschaft standen.

Die drei großen Kapitel enden alle mit einer Bilanz bzw. Zwischenbilanz, wo konzentriert die erzielten Ergebnisse nachgelesen werden können. Etwas redundant wirkt abschließend das nochmalige Aufgreifen – zum dritten Mal – der Inhalte. Allerdings erschöpft sich das umfangreiche Schlusskapitel nicht darin. Der Autor geht einen Schritt weiter und stellt zum einen seine Ergebnisse in einen europäischen Rahmen und zum anderen weitet er ausblickend den Horizont auch auf die Zeit nach 1945 aus.

Der Band enthält auch 28 sehr schöne, zum Teil farbige Abbildungen zu einzelnen Erinnerungsfiguren, die das geschriebene Wort veranschaulichen. Darüber hinaus wäre es spannend gewesen, die einzelnen Abbildungen nicht nur als reine Illustrationen zu verwenden, sondern auch interpretatorisch einzubeziehen. Dies hätte das Werk natürlich noch umfangreicher werden lassen. Der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass eine Analyse von religiösen Erinnerungsfiguren in der bildenden Kunst in der vorliegenden Arbeit nur punktuell geleistet werden kann. Es erscheint gerade mit Blick auf die im Buch abgedruckten Illustrationen allerdings lohnenswert, dies in einer weiteren Publikation dann mit interdisziplinärem Zuschnitt ergänzend zu bearbeiten. Im Literaturverzeichnis wirkt die Anfügung mehrerer Werke eines Autors in einer Art Fließtext hintereinander, ohne Kennzeichnung (Ders./Dies.) und Absatz, leider etwas unübersichtlich.

Stefan Rohdewald entwirft ein großes, sehr lesenswertes und kenntnisreiches Panoramabild, das nicht nur für die Südosteuropaforschung, sondern auch für die allgemeine Religions- und Kulturgeschichte grundlegende Reflexionen enthält, die weitere Forschungen anstoßen werden. Während bis zum Ende der Frühen Neuzeit im Umgang mit religiösen Erinnerungsfiguren in West-, Mittel- und Südosteuropa starke Parallelen sichtbar werden, treten ab dem 19. Jahrhundert in den Erinnerungskulturen auch markante Unterschiede hervor. In allen Teilen Europas bestimmten Nationalisierung sowie die Konzepte von Nation und Nationalstaat den Umgang mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft entscheidend. Im südöstlichen Europa führte das aus dem westlichen Teil des Kontinents transferierte Staats- und Nationsmodell wegen der in Südosteuropa vorhandenen historisch gewachsenen ethnischen und kulturellen Pluralität jedoch zu einer sehr viel stärkeren Instrumentalisierung, ja nationalen bzw. nationalstaatlichen Ideologisierung historischer Deutungen von Erinnerungsfiguren. Nicht nur diese erkenntniswerten Schlüsse können aus der lobenswerten Arbeit gezogen werden.