W. Suerbaum: Skepsis und Suggestion

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Titel
Skepsis und Suggestion. Tacitus als Historiker und als Literat


Autor(en)
Suerbaum, Werner
Reihe
Kalliope - Studien zur griechischen und lateinischen Poesie 12
Erschienen
Anzahl Seiten
650 S.
Preis
€ 83,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabelle Künzer, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung Alte Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Im Jahre 2012 veröffentlichte der Kieler Philologe Konrad Heldmann sein Buch zum Selbstverständnis antiker Historiker1, in dem erwartungsgemäß Tacitus gebührenden Raum einnimmt. Bereits im Titel der Publikation Heldmanns wird der Unterschied zum modernen Historiker deutlich. Der als Tacitus-Forscher ausgewiesene Altphilologe Werner Suerbaum legt nun in beiläufiger Auseinandersetzung mit Heldmann das hier zu besprechende Buch über Tacitus als Historiker und Literat vor. Allerdings erweckt bereits die dabei zugrunde gelegte Differenzierung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung Zweifel. Denn die antike Historiographie war eine literarische Gattung und für Tacitus ist die persona des Literaten und des Geschichtsschreibers nicht zu trennen. Im Gegensatz dazu bleibt die Unterscheidung zwischen dem antiken Historiographen und dem modernen, wissenschaftlich verfahrenden Historiker bei Suerbaum unscharf, was sich nicht zuletzt in der Verwendung einer identischen Begrifflichkeit und unzureichender Differenzierungen, zuweilen sogar der Gleichsetzung von Anspruch und Aufgaben des Tacitus mit denjenigen eines modernen Historikers niederschlägt. Das positivistisch anmutende Wissenschaftsverständnis Suerbaums findet seinen Ausdruck zudem in der eindeutigen Zuweisung divergierender Arbeitsgebiete an den Althistoriker, der die Aufgabe habe, Fakten zu verifizieren oder zu falsifizieren, und an den Altphilologen, dem es im Gegensatz dazu obliege, Ansichten und Urteile zu rekonstruieren (vgl. S. 112). Folgt man dieser Sicht, kann man in der Tat zu dem Schluss kommen: „Ein Philologe hat es einfacher als ein Althistoriker“. (S. 112)

In essayistischer, geradezu eklektizistischer Manier präsentiert Suerbaum in fünf Teilen anhand einer Gliederung von A–Z, beginnend mit einem allgemeinen Einleitungsteil zu Leben und Werk des Tacitus sowie zu dessen Selbstverständnis als Historiograph (S. 5–78), all das, was er „an Interessantem und Einschlägigem für das Thema ,Tacitus als Schriftsteller: als Historiker und Literat‘ fand“ (S. 627f.). Generell behandelt Suerbaum nicht einzelne Schriften des Tacitus geschlossen, sondern separate Darstellungskomplexe, in erster Linie aus den beiden großen historiographischen Werken, den „Historien“ und den „Annalen“. Im zweiten Teil stehen die literarischen Mittel des Tacitus, wie seine Enthüllungs- und Insinuationstechniken, im Zentrum der Betrachtung (S. 79–248). Fragen der Disposition und Auswahl historischen Stoffes sowie zu den Faktoren des historischen Prozesses widmet sich der dritte Teil (S. 249–492), während der vierte Abschnitt auf das literarische Potential des Tacitus konzentriert ist (S. 493–546). In einem den Darstellungsteil abschließenden fünften Abschnitt geht es um eine in der Forschung immer wieder postulierte mögliche Entwicklung der politischen Haltung des Tacitus (S. 547–606). Die namentlich mit Friedrich Klingner verbundene Ansicht von einer zunehmenden Verdüsterung des taciteischen Urteils über einzelne Kaiser2 oder einer Enttäuschung des Tacitus durch Trajan lehnt Suerbaum ab. Wirklich Distanz zu dieser Entwicklungsthese nimmt er allerdings auch nicht ein, wenn er von einer wachsenden Einsicht des Tacitus in historische Prozesse ausgeht, die sich im Verlaufe des historiographischen Schaffens in einer zunehmend negativen Sicht auf den Prinzipat als System dokumentiere.3 Dagegen ist aber einzuwenden, dass Tacitus den Prinzipat in seinen „Annalen“ nicht schwärzer malt als im „Agricola“. Mithin sollte Tacitus daher in seiner Haltung gegenüber dem römischen Kaisertum eher als Realist angesehen werden denn als pauschaler Kritiker oder Skeptiker.4 Suerbaums Position zu Tacitus als einem Historiographen, der seine Aufgabe im Erstellen von Psychogrammen einzelner Kaiser sah, wäre auch dahingehend zu überdenken, ob für Tacitus nicht Machtmechanismen, Motive und Faktoren historischer Prozesse und damit gewissermaßen analytische Dimensionen im Hinblick auf die konkreten mit seiner Geschichtsschreibung verfolgten Ziele wesentlich zentraler waren. Die Funktion der taciteischen Historiographie übergeht Suerbaum gleichwohl gänzlich.

Seine eigene, in gewisser Abgrenzung von Heldmann5 formulierte These über Tacitus als einen Historiographen, der aufgrund des kaiserlichen Informationsmonopols an der Möglichkeit zur Erkenntnis historischer Wahrheit zweifelte, bei seiner Leserschaft aber mit verschiedenen literarischen Mitteln eine bestimmte tendenziöse Version des historischen Geschehens insinuierte, profiliert Suerbaum nur sporadisch in den ersten beiden Teilen des Buches. Es sollte, und so muss man gegen Suerbaum herausstellen, aber fraglich sein, ob es Tacitus wirklich um die Erkenntnis und vor allen Dingen um die Vermittlung einer wie auch immer gearteten Wahrheit ging und ob für die antike Historiographie prinzipiell ein Wahrheitspostulat geltend gemacht werden kann.6 Außerdem bleibt bei Suerbaum unklar, wie ein solches Prinzip der römischen Historiographie, das er mit dem Begriff veritas terminologisch verbindet, semantisch und inhaltlich zu konzeptionalisieren ist und ob nicht eine kohärente Erzählstruktur, die der Darstellung Plausibilität und Wahrscheinlichkeit verlieh, gerade die Bedeutungsebene der veritas maßgeblich akzentuierte.7

Im Verlaufe der weiteren Ausführungen spielt Suerbaums These zu Tacitus als skeptischem Historiker, aber suggestiv arbeitendem Literaten gleichwohl keinerlei Rolle mehr. Gerade dem „Auswahl-Leser“ (S. 609), den Suerbaum als Zielpublikum seines Buches ausmacht und mit dem er die zahlreichen Redundanzen in seiner Darstellung rechtfertigt, dürfte sich dadurch keine zusammenhängende Struktur und Konzeption der Monographie auf eine leitende Fragestellung hin erschließen. Der sogenannte „rote Faden“ ist einzig in der Behandlung Tacitus tangierender Themen zu erkennen. Dies dürfte zu einem guten Teil auch mit dem Entstehungsprozess der Abhandlung zusammenhängen, die Suerbaum als eine Zusammenstellung älterer Beiträge zu Tacitus konzipierte. Mithin ist nicht zu erwarten, dass seine Publikation neue Akzente in der Tacitus-Forschung enthält. Vielmehr verweist die Darstellung auf den Forschungsstand der 1950er- bis 1980er-Jahre, selten auf Veröffentlichungen, die über diesen Zeitraum hinausgehen, und das zumeist in solchen Fällen, in denen Suerbaum auf eigene aktuellere Arbeiten zurückgreifen kann, wie beispielsweise zum "senatus consultum de Cn. Pisone patre".8

Eine Einzelkritik kann hier nur summarisch erfolgen: Vergleiche des kaiserzeitlichen Delatorenwesens mit den Praktiken der Stasi in Zeiten der DDR, ferner Verweise auf historische Romane zur Ergänzung dessen, was Tacitus nicht überliefert, sowie die Empfehlung bestimmter Artikel eines bekannten Online-Lexikons wirken schlicht irritierend. Problematisch hingegen erscheint, dass Suerbaum von der Existenz des sogenannten „Domitianerlebnisses“ überzeugt ist, statt dieses im Zusammenhang mit der Konsolidierungsphase der trajanischen Herrschaft und einem auf Distanzierung von Domitian angelegten Zeitgeist zu betrachten, der die Diskreditierung des letzten Flaviers als malus princeps geradezu erforderte. Der „Agricola“ des Tacitus besitzt darüber hinaus wohl kaum eine apologetische Tendenz mit dem Ziel, das Verhalten des Agricola und des Tacitus unter Domitian zu entschuldigen. Eine Verteidigung des Tacitus wäre nur unter der Voraussetzung plausibel, dass Zeitgenossen entsprechenden Rechtfertigungsdruck ausgeübt hätten. Eine solche gesellschaftliche Gruppierung ist aber für die frühe trajanische Regierungszeit nicht auszumachen. Die Angehörigen der sogenannten „stoischen Senatsopposition“ waren bereits aufgrund ihrer geringen Zahl kaum dazu in der Lage, die Mehrheit ihrer Standeskollegen zu einer Rechtfertigung ihres Verhaltens unter Domitian zu veranlassen.9 Das sogenannte „Adoptivkaisertum“ strebte zudem keineswegs die Auswahl des Besten an, der außerhalb der eigenen Familie stand. In einem solchen Fall hätte eine Designation genügt. Die Notwendigkeit, einen präsumtiven Nachfolger durch Adoption in die eigene Familie zu integrieren, belegt die Wirkmächtigkeit des dynastischen Prinzips 10, auf das Marcus Aurelius als erster Kaiser im zweiten Jahrhundert, der wieder über einen eigenen Sohn verfügte, konsequenterweise zurückgriff.

Suerbaums Tacitus-Buch, dem ein sorgfältigeres Lektorat gutgetan hätte, kann und will wohl auch nicht als umfassende wissenschaftliche Behandlung des römischen Historiographen gelten. Vielmehr bietet es von persönlichen Interessen des Autors geleitete An- und Einsichten. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, dass man bei der Lektüre mindestens genauso viel über die Forscherpersönlichkeit Suerbaums wie über den römischen Historiker Tacitus erfährt.

Anmerkungen:
1 Konrad Heldmann, Sine ira et studio. Das Subjektivitätsprinzip der römischen Geschichtsschreibung und das Selbstverständnis antiker Historiker, München 2011 (Zetemata 139); vgl. dazu auch die Rezension von Isabelle Künzer, in: Gymnasium 120, 2013, S. 501f.
2 Friedrich Klingner, Tacitus, in: Ders., Römische Geisteswelt, 5. Aufl. München 1965, S. 504–526.
3 Diese These wurde in ähnlicher Weise bereits von Wolf Steidle vertreten: Tacitusprobleme, in: Museum Helveticum 22, 1965, S. 96–114, hier S. 112–114.
4 Für eine aktuelle Betrachtung der politischen Einstellung des Tacitus vgl. Daniel Kapust, Tacitus and Political Thought, in: Victoria E. Pagán (Hrsg.), A Companion to Tacitus, Malden, Mass. u. a. 2012, S. 504–528.
5 Vgl. Anm. 1.
6 So jedoch Suerbaum, S. 52f.
7 Vgl. dazu Heldmann (wie Anm. 1), S. 45–86.
8 Werner Suerbaum, Schwierigkeiten bei der Lektüre des SC de Cn. Pisone patre durch die Zeitgenossen um 20 n. Chr., durch Tacitus und durch heutige Leser, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 128, 1999, S. 213–234.
9 Zur „stoischen Senatsopposition“ und zur Problematik des „Oppositionsbegriffs“ vgl. Kurt A. Raaflaub, Grundzüge, Ziele und Ideen der Opposition gegen die Kaiser im 1. Jh. n. Chr. Versuch einer Standortbestimmung, in: Adalberto Giovannini (Hrsg.), Opposition et résistance à l‘empire d‘Auguste à Trajan. 9 exposés suivis de discussions. Vandoeuvres-Genève 25–30 août 1986, Genf 1987 (Entretiens sur l’Antiquité Classique 33), S. 1–63; ferner: Dieter Timpe, Geschichtsschreibung und Prinzipatsopposition, in: Ders., Antike Geschichtsschreibung. Studien zur Historiographie, hrsg. v. Uwe Walter, Darmstadt 2007, S. 237–258.
10 Vgl. Johannes Straub, Dignatio Caesaris, in: Legio VII Gemina, León 1970, S. 156–179; wieder abgedruckt in: Ders., Regeneratio Imperii. Aufsätze über Roms Kaisertum und Reich im Spiegel der heidnischen und christlichen Publizistik, Darmstadt 1972, S. 36–63.

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