D. Garbe: Neuengamme im System der Konzentrationslager

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Titel
Neuengamme im System der Konzentrationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte


Autor(en)
Garbe, Detlef
Reihe
Neuengammer Kolloquien 5
Erschienen
Berlin 2015: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
517 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harold Marcuse, University of California, Santa Barbara

Zu Unrecht ist die Geschichte des Konzentrationslagers Neuengamme, das über 100.000 Häftlinge durchliefen, etwa 43.000 Todesopfer zu verzeichnen hatte und ein weitgespanntes Netz von Außenlagern besaß, wesentlich weniger aufgearbeitet als die anderer Konzentrationslager. Diese Sammlung von Studien des langjährigen Direktors von Neuengamme beweist, dass diese Vernachlässigung sowohl unverdient als auch zum Nachteil unseres Verständnisses des gesamten KZ-Systems ist.

Die Aufsätze sind in fünf Abschnitte eingeteilt. Der erste Abschnitt mit sechs Aufsätzen über "Hamburg und das KZ Neuengamme" ist bei weitem der umfangreichste und wird für Leser und Historiker mit lokalem Bezug von besonderem Interesse sein. Der einleitende frühe Aufsatz von 1993 zu "Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus" bietet eine allgemeine Einführung in das Thema, gefolgt von einem detaillierteren, neueren Essay über Verfolgung und Widerstand in Hamburg. Der dritte, umfangreichste Aufsatz der Sammlung bietet einen Überblick über die Geschichte des KZ Neuengamme von 1938 bis 1945. Einige seiner Unterabschnitte werden in den nachfolgenden drei Aufsätzen eingehender behandelt: über die Außenlager in der Stadt Hamburg (in einer katalogartigen Aufstellung, die als Wegweiser für weitere Forschungen von Nutzen sein wird), über den Einsatz von Neuengammer Häftlingen bei Aufräumarbeiten nach den Bombenangriffen auf die Stadt, und über die bis Kriegsende zunehmend chaotische Räumung der Konzentrationslager in Norddeutschland.

Die nächsten zwei Abschnitte, "Strukturen der Konzentrationslager" und "Häftlingsgruppen und Häftlingsbiogramme", weiten den Blick von Hamburg/Norddeutschland auf das Gesamtsystem der Lager. "Die Konzentrationslager als Stätten des Massenmords" bietet einen umfassenden Blick auf die Phasen und Methoden des Mordens in den "normalen" KZs (im Gegensatz zu den Vernichtungszentren im besetzten Polen). Die "Forschungsdesiderate zur Konzentrationslager-SS", die Garbe 1998 im Nachzug der sogenannten Goldhagen-Debatte über die ideologische Motivation der NS-Täter konstatierte, sind heute immer noch nicht beseitigt.

Obwohl der Aufsatz von 2005 zu Selbstbehauptung und Widerstand in den Konzentrationslagern einiges wiederholt, was in den ersten Aufsätzen der Sammlung dargelegt ist, bereitet er mit seiner konzeptionellen Unterteilung in Selbsthilfe, Solidarität, Verweigerung und Widerstand einen Weg, um wenig fruchtbaren Diskussionen über Fragen wie die Grenzziehung zwischen passivem und aktivem Widerstand oder ob individuelle Überlebensstrategien als Widerstand gewertet werden können, zu überwinden. Dieser Überblick und die Aufsätze über jüdische Gefangene und Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern bieten auf kurzem Raum hervorragende Einführungen in diese Thematiken, unter Heranziehung der neuesten Literatur, die für diese Neuveröffentlichung in den Fußnoten nachgetragen wurde. Besonders hervorzuheben ist der Aufsatz über die Zeugen Jehovas, der Ergebnisse von Garbes 1993 veröffentlichter und dreifach ergänzt neuaufgelegter Dissertation zusammenfasst, denn das einzigartige Gruppenverhalten der "Ernsten Bibelforscher", wie sie im Jargon der Zeit genannt wurden, beleuchtet schlaglichtartig zuerst die Borniertheit und dann die Anpassungsfähigkeit Himmlers und der Lager-SS. Nachdem sie sich an der standhaften Verweigerung der "Zeugen", in der Kriegsproduktion tätig zu sein, aufgerieben hatten, setzten Himmler und die SS sie dann für schwer zu überwachende bauliche und häusliche Tätigkeiten ein, denn aufgrund ihres Glaubens an die Gott-gefügte Ordnung der Welt bestand keine Fluchtgefahr.

Das Kapitel über "Politische Funktionshäftlinge" besteht aus einem Abriss der einschlägigen Themen und Literatur sowie Nachrufen auf zwei Überlebende Neuengammes, die sich auch nach ihrer Befreiung für die Belange ihrer ehemaligen Mithäftlinge einsetzten. Der thesenhafte Abriss – ursprünglich als Editorial veröffentlicht – legt die Schwierigkeiten dar, die bei der Einschätzung der „Roten“ entstanden und teilweise in Fachdebatten ausgetragen wurden. Obwohl wertvoll als Einstieg, steht er den wissenschaftlichen Aufsätzen über Widerstand in vieler Hinsicht nach. Und wie die neue Gesamtdarstellung des Lagersystems von Nikolaus Wachsmann argumentiert, verdienen die "grünen" Funktionshäftlinge eine nähere, nuanciertere Betrachtung.

Demgegenüber sind die Biogramme zu Fritz Bringmann und Hermann Schemmel, die jahrzehntelang, auch mit dem Autor zusammen, für Schaffung und Ausbau der Neuengammer Gedenkstätte sowie für Belange der Überlebenden stritten, von tiefer Einfühlsamkeit und persönlicher Kenntnis geprägt. Diese Biografien von Jugend bis Alter zeichnen nach, wie NS-Erfahrungen individuelle Schicksale und gesellschaftliche Einstellungen bis ins neue Jahrtausend formten. Garbe beschweigt nicht, dass er manchmal Differenzen mit Bringmann hatte, etwa ob der private "Freundeskreis" Gelder für humanitäre Hilfe und Besuchsaufenthalte ehemals Verfolgter bereitstellen sollte oder ob – so Bringmann – diese Zuwendungen unterbleiben sollten, da der Staat dafür aufzukommen habe. Bringmann befürchtete auch, dass die zunehmende Aufmerksamkeit für die verschiedenen Opfergruppierungen in der Gedenklandschaft zwangsläufig eine Entpolitisierung des Widerstands mit sich bringe.

Solche Meinungsverschiedenheiten weisen nicht nur auf andere Lebenserfahrungen oder politische Einstellungen hin, sondern auch auf einen Generationenunterschied. Die Ablösung von Generationen prägt die letzten zwei Abschnitte dieser Aufsatzsammlung, die erst historisch die Entwicklung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme nachzeichnen, dann drei allgemeinere Reflexionen unter der Überschrift "Plädoyers für eine streitbare Gedenkstättenarbeit" anbieten. Wie die meisten hier versammelten Aufsätze bietet der erste zur Neuengammer Gedenkstättengeschichte auf knappem Raum einen sehr wertvollen und lesenswerten Überblick, in den die neueste Literatur eingearbeitet ist. Der zweite, der auf den Streit um die Neuengammer Gedenkstätte 2001 fokussiert, hätte indes weggelassen werden können. Er ist streckenweise wortgleich mit seinem breiter angelegten Vorgänger, und schon 15 Jahre nach den Ereignissen dürften die Details jener Auseinandersetzung nur noch wenige interessieren.

Allerdings vermisst man einige nennenswerte Ereignisse bei der knappen Darstellung der Gedenkstättenentwicklung vor den 1970er-Jahren (S. 376–381, 448–457). Zum einen gab es außer in Dachau einige sehr interessante, aber wenige bekannte KZ-Ausstellungen unmittelbar nach dem Krieg, z.B. in Hamburg, wo während einer Gedenkwoche im September 1946 eine einschlägige Schau "Kampf und Opfer" im Museum für Völkerkunde eröffnet wurde. Diese Darbietung fand zugegebenermaßen nicht vor Ort im abgelegenen Neuengamme statt, hat dafür aber wesentlich an Status und Zugänglichkeit gewonnen.

In der Vorgeschichte der Neuengammer Gedenkstätte vermisst man auch eine Erwähnung des großen Denkmalsprojekts der Überlebenden von 1964 und der Peinlichkeiten um die Inschriftenwand von 1965 sowie die Entwicklungen, die zum Bau des 1981 fertiggestellten "Dokumentenhauses" geführt haben. Demgegenüber ist die Darstellung der Jahrzehnte danach extrem detailliert, besonders in der akribischen Nachzeichnung der vielen Stellungnahmen zum anstehenden Ausbau bzw. der Verlegung der Justizvollzugsanstalt, die noch 1966–1970 innerhalb des KZ-Geländes errichtet worden war (S. 388–392, 400–403). Einige Worte über die Bauentscheidung in den 1960er-Jahren wären erhellend gewesen. Schließlich würde eine stärker resümierende Betrachtung der aufschlussreichen öffentlichen Auseinandersetzung kurz nach der Jahrtausendwende diesen "historischen" Wendepunkt klarer hervortreten lassen. Dies ist weniger eine Kritik an Garbe als vielmehr ein Hinweis darauf, dass die Nachkriegsgeschichte von Neuengamme immer noch auf ihre gründliche wissenschaftliche Aufbereitung wartet.

Eine breitere Perspektive nehmen allerdings die abschließenden drei Essays zur neueren KZ-Gedenkstättenentwicklung in der Bundesrepublik ein. Garbes Betrachtung von 2011, inwieweit die Gedenkstättenkonzeption von Neuengamme "modern" sei, bietet eine hervorragende Beschreibung des gegenwärtigen Zustands der Anlagen, Ausstellungen und Veranstaltungen. Auch die historische Nachzeichnung deutscher NS-Gedenkstätten "Von der Peripherie in das Zentrum der Geschichtskultur" seit den 1980er-Jahren ist erstrangig. Wie in den ersten zwei Abschnitten dieses Sammelbandes weitet dieser Aufsatz die Neuengammer Lokalperspektive auf die gesamtdeutsche Entwicklung aus. Das Ergebnis ist ein wissenschaftlich fundierter Überblick auf knappem Raum, der mit einigen Betrachtungen zu künftigen Aufgaben der KZ-Gedenkstätten schließt, die eingehender im abschließenden Aufsatz behandelt werden.

Nachdem Garbe die neuere "Erfolgsgeschichte" der KZ-Gedenkstätten in der BRD seit den 1980er-Jahren konstatiert, führt er etliche Belege an, wie die NS- und die DDR-Diktatur, bzw. Nationalsozialismus und Stalinismus oft gleichsetzend in Zusammenhang gebracht werden. Sein abschließendes Beispiel ist schockierend: ein 2014 von der EU gefördertes Lesebuch mit Unterrichtsmaterialien, die in Worten und Grafiken nahelegen, dass "das kommunistische totalitäre Modell" nicht nur vom Faschismus kopiert wurde, sondern auch ungleich länger seine Opfer quälte. Dieser Versuch einer Aufrechnung erinnert an ähnliche Versuche der 1980er-Jahre, auf die Habermas hinwies und damit den sogenannten Historikerstreit auslöste. Garbe bietet etliche andere beunruhigende Beispiele von Versuchen der Einebnung, Parallelisierung und Gleichsetzung. Dazu führt er das 2009 formulierte "Vermächtnis der Überlebenden" an, in dem die internationalen KZ-Lagergemeinschaften sich dagegen wenden, "dass Schuld gegeneinander aufgerechnet, Erfahrungen von Leid hierarchisiert, Opfer miteinander in Konkurrenz gebracht und historische Phasen miteinander vermischt werden" (S. 494f.). Anlass dazu war der Vorschlag, einen "Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" einzuführen, der wenige Monate danach von einer überwiegenden Mehrheit des Europäischen Parlaments verabschiedet wurde.

Garbes Beispiele belegen ohne Zweifel, dass die Gefahr der Relativierung akut ist. Er suggeriert eine Lösung mit der Bemerkung, dass gegen Relativierung, Entkontextualisierung und Universalisierungstendenzen "die Grautöne besonders wichtig" seien (S. 495). Ich möchte ihm hier nachdrücklich zustimmen: manche Unterschiede treten deutlicher hervor, wenn man mit Vergleichen die Schattierungen herausarbeitet. Nehmen wir als Beispiel Zahlenvergleiche. Garbe schreibt zu Recht, dass für einzelne Opfer und Hinterbliebene Überlegungen, wonach etwa Gesamtopferzahlen miteinander verglichen werden, "kleinkariert und sogar zynisch" wirken können (S. 491). Dennoch ist der Größenordnungsvergleich der Opferzahl nur von Neuengamme, mit der Gesamttotenzahl von Stalins Nachkriegslagern in Ostdeutschland erhellend, ebenso auch der von Garbe auf der nächsten Seite angeführte Vergleich der Zahlen von Urteilen gegen Kommunisten vs. nationalsozialistische Gewaltverbrecher in der BRD. Vergleiche müssen also nicht notwendigerweise zur Relativierung führen.

Wie ist dann der Aufrechnungsgefahr zu begegnen? Zwei Möglichkeiten liegen auf der Hand. Die erste wäre, die Abwehr gegen die von Garbes "Aufarbeitungsgeneration" (S. 485) vielfach verpönte "Betroffenheitspädagogik" abzubauen. Garbe selbst merkt an, dass im Zuge der Professionalisierung und Institutionalisierung der NS-Gedenkstätten "das Verstörende zu sehr eingeebnet worden" ist und "Anstößigkeit und Infragestellungen oftmals auf der Strecke" bleiben (S. 483). Doch im Nachsatz nimmt er die Einsicht, dass sich Besucher/innen mehr Anschaulichkeit und Erfahrbarkeit wünschen und brauchen, mit der Parenthese zurück, dass "Nacherlebbarkeit weder möglich noch anstrebenswert" ist. Demgegenüber beklagt er wenige Zeilen später, dass mit dem Ableben der Überlebenden "ein Verlust an unmittelbarer Betroffenheit, an elementarer Erfahrung und Zeitzeugenschaft" eintritt. Meines Erachtens müssen Gedenkstättenpädagogen Mittel wie Rekonstruktionen – erkennbare, wie die Edelstahlgerüste in Neuengamme1 (S. 434) – und Erfahrungsräume nutzen können, wie sie seit langem in historischen Ausstellungen gebräuchlich sind.

Damit zusammenhängend liegt eine zweite Möglichkeit im synergetischen Potenzial des Vergleichs. Erst im Vergleich werden Unterschiede wie gemeinsame Wurzeln und Auswirkungen erkennbar, und erst wenn die KZ-Geschichte in einen Zusammenhang mit gegenwärtigen und historischen Ereignissen im Erfahrungsbereich eines post-millennial-Publikums gebracht wird, werden die emotionalen Verbindungen aktiviert, die zum Nachfragen, Weiterdenken und gar Engagement führen. Natürlich besteht die Gefahr der Relativierung, doch zur Ausbildung einer postkonventionellen Identität, die Habermas im "Historikerstreit" als Zweck historisch-politischer Vergleiche anregte, sind sie notwendig. Postkonventionell eingebettet sind sie kein Nullsummenspiel, sondern eröffnen neue Perspektiven, die z.B. "Opferkonkurrenz" und Schuldzuweisungen vermeiden. Eine solche gegenseitige und ganzheitliche Anerkennung von Vergangenheiten wurde auch im Vermächtnis der Überlebenden gefordert (S. 495). In dieser moralischen Vorstellungswelt lösen sich die oben erwähnten Differenzen zwischen Garbe und Bringmann auf. Private und persönliche Zuwendungen ersetzen nicht staatliche Wiedergutmachungsleistungen, sondern konkretisieren und verstärken sonst "hilflos wirkende" Formen des Gedenkens (S. 483). Und der Einschluss aller Opfergruppen ist dem Status der Widerständler nicht abträglich, sondern ermöglicht erst die Wertschätzung ihrer politischen Bedeutung.

Diese Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte von Neuengamme sind eine sehr wertvolle Sammlung von hervorragenden Aufsätzen, die fachkundig, informativ und anregend sind. Ein Register (Personen, Orte und Begriffe) hätte ihren Nutzen steigern können, evtl. auch Querverweise in den Fußnoten, auf die aktuellsten Diskussionen zu einigen Themen. So hätten Wiederholungen derselben Beispiele, wie z.B. die Massaker von Gardelegen (S. 110, 170, 211f.), die Ausschaltung des brutalen Kapos Schnell (S. 84f., 274), oder die Rettung des sowjetischen Militärarztes Kartaschow durch den Belgier Mandrycxs (S. 91, 257), vermieden werden können. Es bleibt zu hoffen, dass der Verlag das Buch freigibt, damit es auf google books und amazon.de im Volltext durchsuchbar wäre.

Anmerkung:
1 Siehe dazu die Bilder auf Google Maps: http://www.google.com/maps/place/53%C2%B025'50.0%22N+10%C2%B014'01.0%22E/@53.4271968,10.2264468,140m/data=!3m1!1e3!4m5!3m4!1s0x0:0x0!8m2!3d53.430556!4d10.233611?hl=en (11.11.2016).