I. Gilcher-Holtey: Eingreifende Denkerinnen

Cover
Titel
Eingreifende Denkerinnen. Weibliche Intellektuelle im 20. und 21. Jahrhundert


Herausgeber
Gilcher-Holtey, Ingrid
Erschienen
Tübingen 2015: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
VI, 251 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Schildt, Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg

Dass weibliche Intellektuelle in der Geschichtswissenschaft wenig Beachtung finden würden, ist in den letzten Jahren bisweilen beklagt worden, ohne dass dies zu umfangreichen Forschungen geführt hätte. Der von Ingrid Gilcher-Holtey, einer ausgewiesenen Expertin der intellectual history, jetzt herausgegebene Sammelband dokumentiert die Beiträge einer Tagung , die wichtige Anstöße vermitteln. Der Band enthält 14 Porträts von „eingreifenden“ (Bertolt Brecht) weiblichen Intellektuellen und als „Epilog“ die Rede der Soziologin Ágnes Heller über Hannah Arendts „Platz im spätmodernen Denken“.

Im „Prolog“ entfaltet die Herausgeberin ihren an Pierre Bourdieu orientierten Intellektuellen-Begriff, der sich auf die öffentliche Einmischung von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern in die politischen Auseinandersetzungen konzentriert. Gilcher-Holtey unterscheidet fünf idealtypische Intellektuelle, den Typus des „allgemeinen Intellektuellen“, der „unter Berufung auf abstrakte, universelle Werte“ (S. 3) argumentiere, den von Michel Foucault dagegen gesetzten „spezifischen Intellektuellen“, der sein Expertenwissen ins Feld führe, den „kollektiven Intellektuellen“, den Pierre Bourdieu gegen das Bild des solitären Sinndeuters setzte, den „öffentlichen Intellektuellen“, den etwa Ralf Dahrendorf als „Hüter des liberalen Geistes“ (S. 6) ansah und schließlich den Typus des „Bewegungsintellektuellen“ (der Neuen Linken), der als „aktivistischer Intellektueller“ (S. 7) die Inhalte sozialer Bewegungen nicht von außen an diese herantrage, sondern diese in eine weitere Öffentlichkeit vermittle. „Bewegungsintellektuelle“ würden als „Ausdruck mangelnden individuellen symbolischen Kapitals“ (S. 8) häufig kollektiv auftreten, wie dies etwa für „feministische Intellektuelle“ in der Neuen Frauenbewegung gelte.

Die biographischen Fallstudien des Bandes bilden, dem weiten Intellektuellenbegriff folgend, ein breites Spektrum von „Denkerinnen“ ab. Fünf Beiträge gelten deutschsprachigen weiblichen Intellektuellen: Käthe Kollwitz‘ Aufrufe und Manifeste vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum Beginn des NS-Regimes (Steffen Bruendel), Erika Mann und ihr Exilkabarett in der Schweiz (Kristina Schulz), Margarete Buber-Neumanns Abrechnung mit dem Stalinismus (Brigitte Studer), Hannah Arendts Interpretation des Eichmann-Prozesses (Katrin Stoll) und Elfriede Jelineks Spagat zwischen österreichischer und deutscher Öffentlichkeit (Franziska Schößler). Die weiteren Beiträge befassen sich mit weiblichen Intellektuellen aus westlichen Ländern. Zwei Autorinnen befassen sich mit einer Ikone der Frauenbewegung, Simone de Beauvoir, mit ihrer Parteinahme für eine von französischen Soldaten gefolterte Algerierin (Eva Oberloskamp) und mit Beauvoirs Engagement für das Russell-Tribunal gegen den Krieg der USA in Vietnam (Silja Behre). Vietnam wird auch als entscheidendes Motiv für die Politisierung der New Yorker Publizistin Susan Sontag gesehen (Stephan Isernhagen). Ein Beitrag über Italien präsentiert drei Intellektuelle sehr unterschiedlicher Provenienz, die Naturwissenschaftlerin Rita Levi Montalcini, die linksdissidentische Kommunistin Rossana Rossanda und die Künstlerin Carla Lonzi, eine wichtige Bezugsperson für die „Formierung der feministischen Theorie“ (S. 114; Marica Tolomelli). Die Schweiz ist vertreten mit einem Beitrag über die Philosophin Jeanne Hersch, die um 1990 mit öffentlichen Beiträgen eine hemmungslose Pressekampagne gegen die Nationalrätin Elisabeth Kopp kritisierte, der zu Unrecht Korruption vorgeworfen worden war (Dorothee Liehr). Bis in die Gegenwart reichen schließlich Beiträge über die Aktionskünstlerin Yoko Ono (Henning Marmulla) und die Kanadierin Naomi Klein und andere Intellektuelle in der „globalisierungskritischen Bewegung“ (S. 213; Ingrid Gilcher-Holtey).

Etliche der Beiträge bereichern unser Wissen, die biographischen Skizzen, die hier nicht ausführlich gewürdigt werden können, sind durchgängig dicht belegt. Interessant ist etwa der Beitrag über Käthe Kollwitz, in dem ihr Tagebuch sorgfältig ausgewertet wird, um ihr aus sozialkritischem Künstlertum erwachsendes politisches Engagement zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus – ihr Mann war Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) – zu erklären. Der Beitrag über Margarete Buber-Neumann, in dem sogar einzelne Dokumente aus Moskauer Archiven ausgewertet werden, bestätigt die Dynamik der Positionsveränderung nach der Trennung vom Kommunismus – Buber-Neumann trat 1975 sogar in die CDU ein –, die auch für andere ehemalige Mitglieder untersucht worden ist. In ihrem Fall beruhte die „steile internationale Karriere als Intellektuelle“ (S. 55) vor allem auf der Präsentation ihrer Erfahrungen unter Stalin und Hitler und nicht auf den „in der Forschung etablierten Anerkennungskategorien aus Wissenschaft, Kunst und Kultur“ (S. 62). Die Beiträge über Simone de Beauvoir zeigen, dass sie „geradezu modellhaft“ (S. 70) dem Typus des allgemeinen Intellektuellen und der „Logik dieser klassischen Intellektuellenrolle“ (S. 74) entsprochen habe, als sie sich gegen die Menschenrechtsverletzungen des französischen Militärs öffentlich engagierte; ihre Wortmeldungen beim Russell-Tribunal zum Vietnamkrieg ließen sich „keiner spezifisch weiblichen Thematik zuordnen“ (S. 130). Die biographische Betrachtung von Susan Sontag, shooting star der linken New Yorker Publizistenszene der 1960er Jahre, die als „empfindsame Intellektuelle“ (S. 149) vorgestellt wird, zeigt einen Kontrast, weil sie anders als Beauvoir aus eigener Anschauung urteilen wollte und deshalb sogar nach Nord-Vietnam reiste und sich dem Aktivismus der Neuen Linken annäherte. Dieser Beitrag, Kondensat einer Dissertation zu Susan Sontag 1, beeindruckt durch hohen Informationsgehalt. Nicht alle Beiträge können angesichts des Forschungsstandes originell sein; dies gilt etwa für die neuerliche Betrachtung von „Eichmann in Jerusalem“, wobei es sich um eine immerhin gründliche Relektüre handelt. Mitunter wird Originalität auch nur behauptet. Dass über Erika Mann viel geschrieben wurde, sie aber bisher als Intellektuelle „nicht hinreichend gewürdigt“ (S. 37) worden sei, wird man schwerlich behaupten können. Dazu reicht ein Blick in die angegebene Literatur. Einer der dafür angeführten Gründe beruht schlicht auf einem Missverständnis. Erika Mann habe mit dem „prinzipiellen Selbstverständnis der intellektuellen Welt“ gebrochen, das man sich in einem Universum bewege, das den „Ort des ökonomischen Desinteresses schlechthin“ darstelle. Sie habe immer wieder betont, dass sie von ihren „künstlerischen und literarischen Darbietungen leben“ müsse (S. 39). Aber diese öffentliche Klage erklang – von Bertolt Brecht bis Theodor W. Adorno – von fast jedem Intellektuellen, ob männlich oder weiblich. Das „ökonomische Desinteresse“ bezog sich allein darauf, der Ökonomie in der Präsentation des jeweiligen Meinungswissens keinen hohen Stellenwert zuzumessen, und auch dies war nicht immer der Fall. Die Kritik an der Exilforschung, sie habe das Exil nicht „systematisch als Wirkungsfeld und Wirkungsbedingung für intellektuelle Interventionen“ (ebd.) untersucht, ist angesichts zahlloser Veröffentlichungen auf diesem Feld nicht haltbar.2

Durchweg informativ sind die Beiträge zur jüngsten Zeitgeschichte und Gegenwart, nicht nur, weil es über die noch lebenden „Denkerinnen“ (Yoko Ono, Elfriede Jelinek, Judith Butler, Naomi Klein) zwar reichlich Literatur aus anderen Disziplinen gibt, aus der sich schöpfen lässt, aber dennoch viel Mut benötigt wird, sie bereits historisch untersuchen zu wollen. Beim Beitrag über letztere (Jahrgang 1970) gelingt es zum Beispiel, die legendäre Dissertation „No logo“ (2000) zum Ausgangspunkt für Betrachtungen der globalisierungskritischen Bewegung zu machen, die deren Historizität erahnen lässt.

Am Schluss sollen einige Anmerkungen stehen, die aus der anregenden Lektüre des Bandes erwachsen. Zum einen fällt beim gewählten Sample auf, dass der Begriff des Intellektuellen sehr stark auf Künstlerinnen bzw. Schriftstellerinnen bezogen wird; es stellt sich die Frage nach dem Rang ästhetischer Produktion für die weibliche Intellektualität. Zum zweiten fließt – intentional oder nicht – in die Betrachtung der „Denkerinnen“ ein normativer Zug ein, der in der Diskussion der intellectual history der letzten Jahre immer wieder problematisiert worden ist – auch weibliche Intellektuelle gab es nicht nur auf der „progressiven“ und für „Menschenrechte“ kämpfenden Seite; für Deutschland wäre in der Nachkriegspublizistik an konservative Vertreterinnen wie Margret Boveri, Ursula von Kardorff, Marion Gräfin Dönhoff – ihr Übergang zu liberalen Positionen vollzog sich erst allmählich – oder Elisabeth Noelle-Neumann zu denken. Zum dritten: Das starke Gewicht, das auf das letzte Halbjahrhundert gelegt wird – dort ist die Mehrzahl der Beiträge angesiedelt –, wirft die Frage auf, inwiefern weibliche Intellektualität einen take off in den 1960er- und 1970er-Jahren erlebt hat und was dies für die intellectual history generell zu bedeuten hätte. In einem in etlichen Beiträgen zitierten programmatischen Aufsatz von Karin Hausen wird argumentiert, die männlich dominierte Geschichtsschreibung ignoriere weibliche Intellektuelle, aber gleichzeitig erscheint dort das Intellektuelle selbst als männliches Phänomen 3; hier bedarf es empirischer Klärung, auch im Hinblick auf eine Periodisierung der Intellektuellengeschichte. Zuletzt ist eine Ambivalenz anzumerken. Alle Beiträge beziehen sich auf die Diskussion der von der Herausgeberin skizzierten Typologie von Intellektuellen. Das verleiht dem Unternehmen eine Kohärenz, die sich von der bunten Heterogenität vieler anderer Sammelbände abhebt. Aber zugleich gewinnt man den Eindruck eines bisweilen dadurch bewirkten Schematismus, wenn der Typologie allzu brav gefolgt wird. Die sich wiederholenden theoretischen Referenzen verstärken diesen Eindruck. Leider erfährt der Leser auch nichts über die Autorinnen und Autoren. Diese Anmerkungen schmälern nicht den Verdienst des Bandes, der der Forschung über weibliche Intellektuelle hoffentlich Auftrieb verleihen wird.

Anmerkungen:
1 Stephan Isernhagen, Susan Sontag. Die frühen New Yorker Jahre, Tübingen 2015.
2 Vgl. zuletzt Peter Burschel u.a. (Hrsg.), Intellektuelle im Exil, Göttingen 2011.
3 Karin Hausen, „Eine eigentümliche Gewissheit…dass Intellektuelle im 20. Jahrhundert ausnahmslos unter Menschen männlichen Geschlechts zu finden seien“, in: Gesa Dahne / Barbara Hahn (Hrsg.), Denk- und Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Über Ricarda Huch, Göttingen 2012, S. 179–220.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch