Cover
Titel
The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union


Autor(en)
Plokhy, Serhii
Erschienen
Anzahl Seiten
XXII, 489 S.
Preis
£ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Beuerle, Humboldt-Universität zu Berlin

Serhii Plokhy geht in „The Last Empire“ der Frage nach, wie und warum es Ende 1991 zur Auflösung der Sowjetunion kommen konnte – einer Supermacht, die fast ein halbes Jahrhundert lang eine bipolare Weltordnung entscheidend hatte prägen können. Es ist eine Grundprämisse und als solche ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Werkes, dass sich das Schicksal der Sowjetunion gerade in den letzten Monaten ihres Bestehens entschied und somit weder durch längerfristige strukturelle Faktoren noch durch die Perestrojka und die Krise der kommunistischen Partei vorherbestimmt war. Die Untersuchung deckt auf über 400 Seiten die Zeit vom amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen Ende Juli 1991 bis zum offiziellen Ende der Sowjetunion kein halbes Jahr später ab. Eine solch vergleichsweise dichte Beschreibung birgt für das Erkenntnisinteresse des Buches Chancen und Risiken. Plokhy gelingt es jedoch, mit gezielten Rückblenden an geeigneten Stellen, der Gefahr einer gewissermaßen geschichtsvergessenen Geschichtsschreibung vorzubeugen. Bei seiner Untersuchung kann er sich auf neu zugängliches Archivmaterial ebenso stützen wie auf die Befragung relevanter Akteure und Zeitzeugen.

Die größte Stärke dieses Buches liegt in seiner Multiperspektivität. Gekonnt wechselt Plokhy kapitel- und teils abschnittsweise zwischen den Perspektiven verschiedener relevanter Akteure jener dramatischen Monate hin- und her. Michail Gorbatschow, Boris Jelzin, George Bush und Leonid Krawtschuk sowie Nursultan Nasarbajew kommen dabei bedeutende Hauptrollen zu, ohne dass wichtige Stimmungen in einzelnen Bevölkerungsteilen und eine Reihe von Nebenakteuren unziemlich ausgeblendet würden. Gerade durch diese häufigen Perspektivwechsel gelingt es Plokhy, ein überzeugendes und vielseitiges Bild der Vorgänge zu zeichnen. Hinzu kommt eine klare und lebendige Schreibweise. Insgesamt gerät dadurch die Lektüre zu einem spannenden und kurzweiligen Vergnügen.

Die wesentlichen Thesen, die hierbei von Plokhy herausgearbeitet werden, sind zum Teil nicht neu, erhalten jedoch durch seine Forschung zusätzliches Gewicht. Dass der gescheiterte Putsch sowjetischer Hardliner im August 1991 um den Vizepräsidenten Janajew als wesentlicher Katalysator für die zentrifugalen Kräfte im Sowjetreich anzusehen ist, Jelzin eine Art Gegenputsch erlaubte und damit das Machtzentrum von Gorbatschow zu Jelzin verschob, ist im Wesentlichen auch schon in anderen Werken nachzulesen. Auch dass Gorbatschow mitnichten an einer Auflösung der Sowjetunion interessiert war, sondern vielmehr bis zum Schluss alles in seiner Macht Stehende getan hat, um diesen Vielvölkerstaat zusammenzuhalten, entspricht bereits dem bisherigen Stand der historischen Forschung. Schließlich ist auch das schwierige, bis ins Feindschaftliche gehende, rivalisierende Verhältnis zwischen Jelzin und Gorbatschow als ein Faktor bis auf eine Reihe bemerkenswerter Details schon aus früheren Schilderungen bekannt.1

Andere zentrale Thesen von Plokhys Buch muten hingegen originell an. Dazu gehört zum einen die Rolle und Position des US-Präsidenten George H. W. Bush und seiner Regierung. Bis zum ukrainischen Unabhängigkeitsreferendum Anfang Dezember 1991 nutzten insbesondere Bush und sein Außenminister Baker ihren in diesen Monaten erheblichen Einfluss innerhalb der Sowjetunion dafür, um Gorbatschow den Rücken zu stärken und einen Erhalt der Sowjetunion zu ermöglichen. Die Sorge um den weiteren Verbleib der sowjetischen Atomwaffen bei einem Auseinanderfallen des jahrzehntelangen Gegenpols war hierfür ein wichtiges Motiv, ebenso die Angst vor schwerwiegenden gewaltsamen Konflikten und die persönliche Verbundenheit mit Michail Gorbatschow. Marginalisiert fand sich innerhalb der US-Administration hingegen der Verteidigungsminister, ein gewisser Dick Cheney, der dafür plädierte, der Desintegration des jahrzehntelangen Hauptgegners gezielt Vorschub zu leisten. Erst als sie den Zusammenbruch des sowjetischen Riesenreiches für nicht mehr aufhaltbar erachteten, schalteten sich Bush und Baker nicht nur faktisch befördernd in diesen Prozess ein, sondern reklamierten hinterher unter den Vorzeichen des amerikanischen Wahlkampfes von 1992 das Ende der Sowjetunion als amerikanischen Sieg und eigenes Verdienst. Damit schufen sie ein Geschichtsbild, das mit ihren eigenen Handlungen wenig zu tun hat, jedoch im späteren Russland unter jenen, die das Ende der Sowjetunion als Tragödie betrachten, nachhaltig Wirkung tut.

Eine zweite zentrale und originelle These von „The Last Empire“ betrifft die Rolle der Ukraine. Das Unabhängigkeitsstreben der ukrainischen Republik unter Führung des versiert agierenden Altkaders Krawtschuk wurde nach dem gescheiterten Putsch vom August 1991 nicht nur von überzeugten Demokraten und ukrainischen Nationalisten, sondern auch von Kommunisten betrieben, die sich dem gefürchteten Einfluss des neuen sowjetischen, als anti-kommunistisch angesehenen Machtzentrums um Jelzin entziehen wollten. Im Referendum vom 1. Dezember 1991 wurde es von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung in allen Landesteilen, einschließlich des Donbass und der Krim, gebilligt. Dies war nach Plokhys überzeugender Darstellung der entscheidende Faktor bei der Auflösung der Sowjetunion. Jelzin und seine Mitstreiter hatten ein großes Interesse an einer Erhaltung des sowjetischen Imperiums, nachdem sie im Machtkampf mit Gorbatschow die Oberhand gewonnen hatten. Als Druckmittel in diesem Sinne drohten sie zunächst offen mit russischen Gebietsansprüchen insbesondere auf Teile der Ostukraine im Falle eines Endes der Union – nahmen hiervon jedoch spätestens vor dem Hintergrund des auch in diesen Gebieten eindeutigen Referendumsergebnisses zugunsten der ukrainischen Unabhängigkeit Abstand. Ohne die Ukraine, der bevölkerungsmäßig und wirtschaftlich zweitgrößten sowie ebenfalls „slawischen“ Sowjetrepublik, betrachteten sie die Aufrechterhaltung der Union jedoch als sinnlos und strebten dann lieber ein eigenständiges und ungebundenes Russland an. Nasarbajew und die anderen zentralasiatischen Republikführer, die zunächst auch für eine Beibehaltung der Sowjetunion eingetreten waren, konnten sich hingegen eine solche aus verständlichen Gründen ohne Russland nicht vorstellen. So löste die ukrainische Unabhängigkeit eine Dynamik aus, in deren Ergebnis am Ende nur noch Gorbatschow unbeirrt und auf zunehmend verlorenem Posten für den Erhalt der Sowjetunion stritt.

Während Plokhy die vorgenannten zentralen Aussagen seines Buches mit einer anschaulichen, detailreichen Schilderung, der nötigen Kontextualisierung und einer dichten Quellenbasis überzeugend stützen kann, lassen einige andere seiner Thesen zumindest Zweifel aufkommen. Hat Gorbatschow tatsächlich durch sein unentwegtes, kompromissloses Beharren auf dem Erhalt eines starken sowjetischen Zentralstaates die Gelegenheit versäumt, einer viel eher durchsetzbaren sowjetischen Konföderation den Weg zu ebnen? Die These ist sicherlich nicht völlig abwegig, aber es spricht auch manches dagegen. Hätten sich Krawtschuk und die anderen selbstbewussten Republikfürsten am Ende wirklich auf solch eine Konföderation eingelassen, wenn sie denn deutlich mehr bedeutete als das äußerst lose Staatengerüst, welches die dann tatsächlich verwirklichte Gemeinschaft Unabhängiger Staaten sein sollte? Oder hätten sie nicht doch im entscheidenden Moment Gründe gefunden, sich dem direkten Einfluss Moskaus auch in dieser Form zu entziehen? Angesichts von Plokhys eigener sonstiger Schilderung der Motiv- und Gemütslage gerade in der Ukraine spricht doch einiges für letztere Annahme. Manch andere Thesen tauchen als solche überhaupt erst im „Epilogue“ auf. Das betrifft nicht zuletzt die Aussage, das Hauptverdienst für das (in der Tat alles andere als selbstverständliche) friedliche Vonstattengehen der Auflösung des sowjetischen Riesenreiches sei Boris Jelzin zusammen mit Leonid Krawtschuk und Nursultan Nasarbajew zuzuschreiben. Plokhy deutet seine sicherlich wohl überlegten Gründe für diese These an, unterlässt es jedoch, sie im Hauptteil des Buches hinreichend auszuführen und kenntlich zu machen. Dies ist eine Kehrseite seiner so dichten, detailreichen und anschaulichen, phasenweise aber zugleich kommentarlos und deskriptiv anmutenden Beschreibung.

Diese Kritikpunkte schmälern jedoch kaum Plokhys Verdienst, mit „The Last Empire“ eine nachvollziehbare, multiperspektivische, ganz überwiegend überzeugende und nicht zuletzt hervorragend lesbare Untersuchung jener Vorgänge vorgelegt zu haben, die aus einer Krise der Sowjetunion den keineswegs vorherbestimmten Zusammenbruch dieser Weltmacht werden ließen. Am Ende bleibt nur, einen auf dem Buchrücken abgedruckten Kommentar Anne Applebaums zu paraphrasieren: Wer die heutigen Vorgänge und Befindlichkeiten im postsowjetischen Raum verstehen und nachvollziehen können will, sollte dieses Buch lesen.

Anmerkung:
1 Vgl. jeweils u.a. Stephen Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse, 1970-2000, überarb. u. erw. Aufl., Oxford 2008.

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