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Titel
Ein Land unterwegs. Kulturgeschichte Polens seit 1945


Autor(en)
Krzoska, Markus
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Pelka, Abteilung Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Markus Krzoska stellt sich in seiner Habilitationsschrift der Aufgabe, die Geschichte Polens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einen gesamteuropäischen Kontext zu situieren. Um dies zu erreichen, lenkt er sein Forschungsinteresse von den in den bisherigen zeitgeschichtlichen Debatten meist vertretenen politischen und systembezogenen Fragen auf die Gesellschaft hin, indem er den ganz normalen Alltag stärker in den Blick nimmt. Dabei soll jedoch die Spezifik des sowjetischen Herrschaftssystems nicht relativiert oder geleugnet werden.

Der Versuch, eine Kultur- und Gesellschaftsgeschichte Polens zu schreiben, betritt weitgehend Neuland in der Forschung. Diese orientierte sich bis jetzt meistens an der dichotomischen Spaltung zwischen dem Staat und der Gesellschaft, oft als ein Kampf zwischen Fremdherrschaft und Unterdrückung interpretiert. Dementgegen widmet Markus Krzoska sein Interesse insbesondere der sozialen Alltagspraxis, in der diverse Verflechtungen und Kontakte im Vordergrund stehen. Der Autor versucht gesellschaftliche Zusammenhänge sowohl im regionalen, als auch im internationalen Rahmen, etwa mit den realsozialistischen Nachbarstaaten und den westlichen Ländern, zu beschreiben und zu analysieren. Dieser Blickwinkel beansprucht jedoch, bislang vorrangig vertretene Geschichtsinterpretationen in Frage zu stellen: Zum einem muss mit dem Bild einer völligen Trennung des Kontinents zwischen 1945 und 1989 durch zwei gegensätzliche Systeme, zum anderen einer Sonderrolle Polens in Europa etwa durch den Katholizismus und die Widerstandsbereitschaft innerhalb des sowjetischen Lagers aufgeräumt werden.

Anhand bereits vorhandener Untersuchungen, also auf unveröffentlichtes Archivmaterial verzichtend, analysiert Krzoska die polnische Gesellschaft unter dem Leitbegriff der Mobilität, das heißt als sich stets in Bewegung befindend. Dabei bedient er sich diverser Mobilitätbegrifflichkeiten, die von Georg Simmel über Talcott Parsons bis hin zu Wolfgang Bonß reichen, und versteht diese als ein weites Spektrum von Beweglichkeit, das sich vom Wechsel gesellschaftlicher Positionen bis hin zur geographischen Ortsveränderung erstreckt. Gerade dieses „unterwegs sein“ in sozialer und räumlicher Perspektive mache – so Krzoska – die Geschichte Polens anschlussfähig an die europäische Geschichte.

Da im Zentrum dieser Studie kulturgeschichtliche Ansätze stehen, folgt deren Aufbau nicht der Chronologie oder politischen Ereignissen, die ohnehin „das Leben der Polinnen und Polen nicht entscheidend prägten“ (S. 27), sondern ist systematisch nach diversen Themen in elf Kapitel geordnet. Darin wird die polnische Gesellschaft unter anderem aus dem Blickwinkel der sozialen Positionen, Migrationen und Emigrationen, der Religion und des Glaubens, des alltäglichen Lebens, aber auch der Anpassung an das Regime, bzw. des gegen den Staat geleisteten Widerstandes untersucht.

Der Zweite Weltkrieg stellt mit seinen vielfältigen Folgen einen wichtigen und konstanten Bezugspunkt für die polnische Gesellschaft dar, was jedoch auch für viele andere europäische Gesellschaften gilt. Grund dafür sind nicht nur die immer noch lebendigen familiären Erinnerungen und Überlieferungen, sondern auch der Neubeginn und die damit zusammenhängenden gesellschaftliche Umwälzungen. Das betrifft im Nachkriegs-Polen sowohl Flucht und Vertreibung, regionale Migrationen und transnationale Emigrationen als auch tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaftsordnung. Diese brachten hier eine Industrialisierung nach sowjetischem Muster, gleichwohl gibt es Vergleichspunkte mit anderen europäischen Ländern etwa im Bereich der Herausbildung der Bürokratie und Funktionärskaste, sowie des Wandels von einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft hin zur Industriegesellschaft. Solche Vergleichsaspekte versucht Krzoska in der sozialen Alltagspraxis vieler anderer Bereiche aufzuzeigen. Europäische Verflechtungen in der Kultur und im Alltag sind überall dort nicht überraschend, wo statt einer Sowjetisierung eher eine konstante Verwestlichung stattfand. Dabei gelingt es Krzoska, den Mythos eines spezifisch polnischen Katholizismus zumindest teilweise zu beseitigen und die polnische Katholische Kirche mit allen ihren Besonderheiten vor allem als Teil „einer globalen Organisation mit Sitz in Rom“ zu erläutern (S. 130).

Die Geschichte Polens in globale Prozesse einzuordnen, stellt jedoch nur eine von vielen Perspektiven dar, die diese Studie dem Leser bietet. Ansatzweise thematisiert Krzoska auch regionale Betrachtungsweisen, wobei sich Ausdifferenzierungen nicht etwa erst nach 1989, sondern schon früh im zentralisierten kommunistischen System nachweisen lassen. Die Unterschiede regionaler Entwicklungen betreffen sowohl die Mentalität und Kultur als auch die wirtschaftliche Entwicklung, die nur teilweise auf die Industrialisierungsprojekte des Regimes zurückzuführen ist und zum Teil von diversen, sich innerhalb des Systems entwickelnden Freiräumen abhing (S. 237–247).

Die These der Arbeit, dass die polnische Gesellschaft mobil war und ist, versucht Krzoska in einer weitgespannten Multiperspektivität zu bestätigen. Dafür analysiert er Migrationen respektive Emigrationen als soziale Veränderungen, die in die Zeit vor 1945 zurück reichen. Ein solcher Langzeitblick erlaubt ihm, Kontinuitäten und Brüche greifbar zu machen und somit auch die kommunistische Periode in der Geschichte Polens nicht unbedingt hermetisch zu fassen und Zäsuren wie 1989 als Wendejahr noch einmal zur Diskussion zu stellen. In diesem Kontext veranschaulicht Krzoska beispielsweise, wie wenig sich das ländliche Leben etwa im Vergleich zur Arbeiterschaft während des gesamten 20. Jahrhunderts veränderte, wie komplex die Gesellschaftsgruppe „Intelligenz“ zu verstehen ist, wie sich diese zentrale polnische Begrifflichkeit über die Jahrzehnte veränderte, und wie sich das Verständnis von „Europa“ und vom „in Europa zu sein“ in unterschiedlichen intellektuellen Kreisen und diversen Perioden entwickelte.

Auch wenn „die Beweglichkeit“ als einen Schlüsselbegriff im Zentrum der Untersuchung steht, ist die Mobilität der polnischen Gesellschaft nicht in allen Themenbereichen gleichmäßig plausibel betrachtet, was sicher teilweise auf den Stand der Forschung zurückgeführt werden muss. Während Krzoska die Entwicklungen etwa im Bereich der Religion und des Glaubens, der diplomatischen Beziehungen Polens in Europa oder der Geschichtsdebatten bis in die Gegenwart analysiert, betrachtet er die Alltagspraxis in Polen nur bis zum Ende des Kommunismus. Und das obwohl zu vermuten ist, dass sich durch die Transformation zur Demokratie, die neuen unbegrenzten Reisemöglichkeiten und die freie Teilhabe an der globalen Kommunikation gerade in diesem Bereich weitgehende Umwälzungen in der polnischen Gesellschaft vollzogen und noch vollziehen. Eine Reflektion dieser Veränderungen fehlt in Krzoskas Buch.

Offen bleibt auch die Frage, ob die Situation der Frauen in Polen ausschließlich durch deren in der Nachkriegszeit stark gestiegene Berufstätigkeit als Parallele zur europäischen Entwicklung zu sehen und auf ihre die Rolle in der Opposition reduziert werden kann (S. 176–179). Gerade hier hätte sich Raum geboten für eine Darstellung gesellschaftlicher Mobilität, die von Einzelinitiativen weniger Künstlerinnen und Intellektueller vor 1989 bis hin zu einer institutionalisierten Frauenbewegung nach 1989 reichte. Völlig außer Betracht bleiben die Veränderungen sozialer Positionen der Mittelschicht, ihrer neuen gesellschaftlichen Rolle, Mentalität und alltäglichen Praxis. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob gerade kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Fragestellungen in einer so komplexen und weitgespannten Makroperspektive doch nicht zu erheblichen Verkürzungen führen und nicht besser durch Fallstudien zu erläutern sind.

Dennoch gelingt es Markus Krzoska mit seiner Studie, einen neuen Blick auf die Geschichte Polens und somit gleichzeitig auf die Geschichte Europas zu leisten. Durch den multiperspektivischen Blick, einerseits im europäischen Rahmen, andererseits quer durch die Entwicklung der polnischen Gesellschaft seit 1945, wird deutlich, dass die Prozesse im Europa des Kalten Krieges zwar politisch auseinander liefen, auf der gesellschaftlichen und kulturellen Ebene jedoch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zu vermerken hatten. Somit liefert diese Arbeit einen wichtigen Perspektivenwechsel für die europäische Zeitgeschichte, indem sich die gemeinsame Geschichtserfahrung weniger auf politische und mehr auf gesellschaftliche Entwicklungen konzentriert.

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