C. von Braun (Hrsg.): Was war deutsches Judentum?

Cover
Titel
Was war deutsches Judentum?. 1870–1933


Herausgeber
Braun, Christina von
Reihe
Europäisch-Jüdische Studien Beitrage 24
Erschienen
Oldenburg 2015: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 325 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Joachim Hahn, Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen

Vor fünf Jahren wurde am 30. Mai 2012 das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg feierlich eröffnet. Im November des darauffolgenden Jahres fand unter der Frage „Was war deutsches Judentum? 1870–1933“ in Berlin dessen erste größere, internationale Tagung statt, auf deren Grundlage der hier zu besprechende Sammelband entstand. Das legt es nahe, den im Titel angekündigten bilanzierenden Rückblick auf das deutsche Judentum vor 1933 zugleich als Versuch einer Standortbestimmung der gegenwärtigen Jüdischen Studien zu verstehen, für die das neugeschaffene Zentrum sich als maßgebliche Institution zu etablieren versucht.

Als richtig erweist sich dabei der Eindruck, dass der wie eine gesprächsgenerierende Fragestellung formulierte Tagungs- und Buchtitel auf eine Pluralität von Antworten aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen vorausdeutet. Entsprechend enthält der Band eine ganze Reihe, häufig disziplinenübergreifender Forschungsbeiträge, die – dies sei vorweggenommen – überwiegend sehr gelungen sind und einige neue Erkenntnisse enthalten. Zu nennen sind hier exemplarisch etwa Isabel Enzenbachs Aufsatz „Kennwort: Gummi“ zu einem bislang wenig bekannten Aspekt der Aufklärungsarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der im Kampf um den öffentlichen Raum seit 1918 auch „Spuckis“, also gummierte Aufkleber, mit anti-antisemitischen Botschaften einsetzte. Oder Hildegard Frübis, die an Max Liebermann, Else Lasker-Schüler und Issachar ber Ryback die Bedeutung jüdischer Kunst in der Moderne veranschaulicht, ein von der Forschung noch immer vernachlässigter Gegenstand. Frübis erkennt im Projekt einer jüdischen Kunst in der Moderne einen eigenen Handlungsraum, den sie in Anknüpfung an Shulamit Volkovs Begriff einer „dritten Sphäre“ beschreibt: „Eine dritte Sphäre wird neu geschaffen, in welche Elemente unterschiedlicher Provenienz hinein spielen: Jüdische Kunst- und Kulturtraditionen ebenso wie die künstlerischen Entwicklungen der allgemeinen Moderne und Avantgarde, die spezifischen Bedingungen einer Minderheits- gegenüber einer Mehrheitskultur und nicht zuletzt der Antisemitismus.“ (S. 86) Das mag genügen, um den von der Herausgeberin und maßgeblichen Mitbegründerin des Zentrums, Christina von Braun, behaupteten „innovativen wissenschaftlichen Impetus“ (S. 3) der Jüdischen Studien im Band abgebildet zu sehen.

Heißt es in der Einleitung der Herausgeberin dagegen unter Verweis auf die grundsätzliche Interdisziplinarität des Bandes hinsichtlich der Zuordnung der Aufsätze zu übergeordneten Bereichen wie Religion, Politik, Kunst oder Philosophie, diese sei „eher willkürlich“ (S. 3), so ist das verwirrend. Belehrt doch bereits ein Blick ins Inhaltsverzeichnis darüber, dass sich die Rubriken überwiegend auf verschiedene Felder der Geschichtswissenschaften beziehen. Die im Band umgesetzte Gliederung erscheint mit ihrer Aufteilung in Geistes-, Kultur-, Wissenschafts-, Politik- sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Grunde sogar recht stringent. Obendrein unterstreicht sie die grundlegende historische Orientierung, die alle Beiträge miteinander verbindet.

Verwirrung stiftet darüber hinaus auch die im Untertitel vorgenommene zeitliche Begrenzung, zumal in der Einleitung abweichend vom Untertitel der Zeitraum von „1800 bis 1933“ (S. 2f.) genannt wird. Wenn Gideon Reuveni in seinem sehr anregenden Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte als Wirtschaftsgeschichte daran erinnert, dass noch bis vor kurzem die Erforschung deutsch-jüdischer Geschichte von der Annahme ausging, dass diese mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg ein Ende gefunden habe, während wir gegenwärtig einer veränderten Wirklichkeit gegenüberstünden, in der die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die am schnellsten wachsende in Europa sei (S. 225), so findet sich darin meines Erachtens eine entscheidende Erklärung für die Datierungsschwierigkeit des Bandes. Denn offensichtlich gehört zur gegenwärtig erreichten Ausdifferenzierung der Jüdischen Studien, dass frühere Narrative und Erklärungsansätze überdacht und zum Teil verworfen werden. Noch nicht einmal das Jahr 1933 stellt daher in allen Beiträgen die alles entscheidende Zäsur dar. Vielfach beziehen die Autor/innen zudem auch ihre eigene akademisch-biographische Erfahrung in die Betrachtung mit ein, wodurch der Topos vom unwiderruflichen Ende der deutsch-jüdischen Geschichte selbst als zeitlich gebunden erscheint.

Die historische Wahrnehmung, in einer epochalen Zeitenwende zu leben, die sich ab Ende der 1920er-Jahre vielfach in Texten deutscher Jüdinnen und Juden antreffen lässt, rekonstruiert David Jünger, der in seinem Aufsatz einige, zum Teil kanonische, zum Teil eher unbekannte, damalige Nachrufe auf das deutsche Judentum vorstellt. Zum Signum dieser „Zeitenwende“, wie der von Jünger als vielleicht bedeutendster Vertreter der deutschen Neo-Orthodoxie bezeichnete Isaac Breuer die für ihn mit dem Ersten Weltkrieg beginnende Zeitepoche 1933 im Rückblick charakterisiert, erklärten viele deutsche Juden sowohl den Verlust der Gegenwart als auch eine verstellte Zukunft. Als Ausweg blieb allein der Blick zurück auf die vergangene Epoche deutsch-jüdischer Geschichte (S. 135). Dabei beschreibt Jünger das Paradox, dass zwar die Vergangenheit keine Antworten für die Gegenwart mehr lieferte, aber als Geschehenes „den deutschen Juden und dem deutschen Judentum nicht mehr zu nehmen war“ (S. 141). Nur so sei zu verstehen, warum in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren eine Reihe übergreifender Geschichtsdarstellungen vor allem zum Gegenstand der deutsch-jüdischen Geschichte „von ihrem vermeintlichen Ende aus“ (ebd.) verfasst wurden. Jünger gelingt so eine metareflexive Darstellung zu den wechselnden Bedeutungen, die der Rückbezug auf die Geschichte vor dem Hintergrund der jeweiligen Gegenwart erhält.

Als Stellungnahme innerhalb einer geschichtswissenschaftlichen Debatte erscheint Till van Rahdens Aufsatz über „Juden und die Ambivalenzen der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland von 1800 bis 1933“, worin er für eine Überwindung der obsoleten „Diskrepanz zwischen der Historiographie über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und der jüdischen Geschichtsschreibung“ (S. 251) plädiert. In kritischer Auseinandersetzung mit David Sorkins These einer eigenständigen jüdischen Subkultur, die van Rahden für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als durchaus zutreffend erachtet, regt er für die zukünftige Forschung an, „genauer zwischen einzelnen Zeiträumen, unterschiedlichen Lagern des Bürgertums und Formen der Teilhabe zu unterscheiden“ (S. 256). Weil für die bürgerliche Gesellschaft insgesamt ein Spannungsverhältnis zwischen Partikularismus und Universalismus konstitutiv sei, sollte auch das Verhältnis von Exklusion und Inklusion nicht „als Sonderproblem des jüdischen Bürgertums“ begriffen werden (S. 257). Statt in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts eine alles dominierende Mehrheitskultur zu unterstellen, geht van Rahden von partikularen Identitäten aus, die sich wechselseitig beeinflussten, und einem sich jenseits davon entwickelnden öffentlichen Raum einer gemeinsamen Kultur (S. 257).

Mit Blick auf eine kleine Reminiszenz in Atina Grossmanns ausgezeichnetem Beitrag zur Sexualreform-Bewegung vor 1933 und der „Neuen Frau“ lässt sich abschließend vielleicht am besten veranschaulichen, was die besondere Qualität des Bandes ausmacht. Grossmann erinnert sich an den Besuch der vor den Nazis nach London geflüchteten Ärztin und Psychotherapeutin Charlotte Wolff, die an einem Abend des April 1978 im Lesbischen Aktionszentrum Berlin über weibliche Homosexualität sprach, und zeigt an der von ihr miterlebten „Stimmung von Ressentiment, Ärger und Misstrauen“, mit der Charlotte Wolff dort konfrontiert war, „wie stark die jüdische Kodierung der Sexualreformbewegung noch immer wirkte“ (S. 266). An den stigmatisierenden Zuschreibungen, die offensichtlich bis hinein in den Feminismus der 1970er-Jahre wirksam blieben, mit denen viele Sexualreformer in den 1920er-Jahren und im aufkommenden NS angegriffen wurden, „als jüdisch, bolschewistisch, entartet, als Repräsentanten der Moderne mit ihrer ‚Asphaltkultur‘ und ihrer ‚Systemzeit‘“ (S. 273), verhandelt Grossmann die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Denn ob die „Neue Frau“ jenseits der von den Antisemiten konstruierten jüdischen Kodierung als jüdisch gelten könne, bleibt für die Autorin letztlich offen. Nicht zuletzt in der Sensibilität für die diskursive Konstruktion des eigenen Gegenstands, die die meisten Beiträge auszeichnet, liegt die Stärke dieser Standortbestimmung der Jüdischen Studien. Die Reflexion auf die Gegenwart auch in Einleitung und Titel kenntlich zu machen, hätte dem Band nicht geschadet.