C. Manasse: Der Schriftsteller Karl Lieblich

Cover
Titel
Auf der Suche nach einer neuen jüdischen Identität. Der Schriftsteller Karl Lieblich (1895–1984) und seine Vision einer interterritorialen Nation


Autor(en)
Manasse, Christoph
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Fiedler, Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg / Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichte der Juden in der Moderne ist eine Geschichte von Säkularisierungs- und Pluralisierungsprozessen. War das vormoderne Judentum durch den sakralen Text und das religiöse Gesetz geeint, beförderte die Begegnung mit der Moderne eine Differenzierung in unterschiedliche Judenheiten. „Den Juden ist als Nation alles zu verweigern und als Individuen alles zu gewähren“ lautete die kanonische Aussage während der französischen Revolution, die den französischen Juden die Aufgabe ihrer Gemeindeautonomie abrang und sie als citoyen – gleichberechtigte Staatsbürger – emanzipierte. Ihre religiöse Zugehörigkeit war fortan Privatangelegenheit. Auch in Deutschland hatte sich über die Dauer eines Jahrhunderts ein solcher Emanzipations- und Konfessionalisierungsprozess vollzogen, der die hiesigen Juden in deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens verwandelte. Eine andere Entwicklung durchlief stattdessen die Modernisierung und Säkularisierung der Juden im östlichen Europa: Innerhalb der ethnisch zerklüfteten Imperien nahmen auch sie eine nationale Prägung an. Nach dem Ersten Weltkrieg und im Zuge der Entstehung moderner Nationalstaaten aus der Verfallsmasse der multinationalen Großreiche wurde sie nun zu einer nationalen Minderheit. Nation oder Konfession markiert mithin zwei unterschiedliche Selbstverständnisse jüdischer Existenz in der Moderne.

Umso schillernder hebt sich vor diesem Hintergrund die Biographie von Karl Lieblich (1895–1984) ab. Als in Stuttgart geborenen deutschen Juden stand dessen Lebenswerk schließlich im Zeichen des Versuchs, auch für die deutschen Juden eine Anerkennung als nationales Kollektiv zu erwirken und damit Begriffe, die recht eigentlich dem jüdischen Erfahrungsraum Ostmitteleuropas entstammten, in den Kontext der Weimarer Republik zu übertragen. Durchaus analog zu den Begriffswelten Simon Dubnows – des Autors der „Weltgeschichte des jüdischen Volkes“ und Historikers der Juden als säkularer diasporischer Nation, entwarf Lieblich ein Bild der Juden als interterritorialer „Gürtel- und Mörtelnation“.

Bereits 2013 hat der Schweizer Historiker und Archivar Christoph Manasse seine Dissertation zu Lieblich an der Universität Basel verteidigt. Zwei Jahre später ist der Text nun beim Böhlau Verlag unter dem Titel „Auf der Suche nach einer neuen jüdischen Identität. Der Schriftsteller Karl Lieblich (1895–1984) und seine Suche nach einer interterritorialen Nation“ veröffentlicht worden. In 13 Kapiteln und einem Epilog geht der Autor darin dem Leben und Werk des Schriftstellers und Juristen nach, um damit das Oeuvre einer weithin vergessenen Persönlichkeit des deutschsprachigen Judentums wieder in Erinnerung zu rufen.

Allein mit der familiären Herkunft begnügt sich Manasse nicht, um die Entstehung von Lieblichs nationaljüdischem Selbstverständnis nachzuzeichnen. Denn zwar stammten dessen Eltern beide aus Galizien und waren erst 1891 nach Stuttgart gekommen. Der 1895 geborene Sohn sollte demgegenüber zuerst eine regelrechte „Abneigung gegen alles Östliche“ (S. 39) ausbilden und sich stattdessen ganz seiner Zugehörigkeit zum Deutschen Reich verschreiben. Noch inmitten seines Jura-Studiums war er 1915 patriotisch als Kriegsfreiwilliger in den Ersten Weltkrieg gezogen und 1920 zudem aus der jüdischen Heimatgemeinde ausgetreten. Dass er diesen Schritt nur acht Jahre später revidierte und seine jüdische Zugehörigkeit nun zu erneuen suchte und in den Begriffen einer nicht-territorialen Volksgruppe fasste, dafür führt Manasse zahlreiche Gründe an. Nachhaltig wirkte auf den jungen Lieblich jedenfalls ebenso die Erfahrung der sogenannten „Judenzählung“, die einem Ausschluss aus der deutschen Nation gleichkam, wie ihn eine darauffolgende „Welle des Antisemitismus“ – in den Worten Simon Dubnows – schließlich wieder „ans jüdische Ufer geworfen“ hatte (S. 159).

Es sollte schließlich aber die Begegnung mit den Texten Martin Bubers, insbesondere dessen Schriften zur jüdischen Volkskultur des Chassidismus, sein, die für Lieblich wesentliche Inspiration für seine eigene Suche nach einem neuen jüdischen Kollektivempfinden wurden. Schon vor dem ersten Weltkrieg waren Bubers „Drei Reden über das Judentum“ zum Vademekum einer ganzen Generation „post-emanzipatorischer“ Juden geworden, denen sie Aufruf der Hinwendung zu einer neuen jüdischen Gemeinschaft war. Jetzt sollte Bubers Rede vom „Geist des Judentums“, dessen gemeinschaftlicher ebenso wie menschheitlicher Bedeutung auch zur Grundlage seiner eigenen Neuerfindung werden. Lieblichs Rückkehr in die jüdische Gemeinde im Jahre 1928 war deshalb zugleich mit der Abgrenzung gegen einen ihm verengt scheinenden Begriff der Religion einhergegangen: An deren Stelle setzte er eine Vision von kultureller und politischer Erneuerung, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, wie das Bewusstsein von dessen historischem Auftrag. Auf Grundlage der jüdischen diasporischen Existenz wie deren messianischem Erwartungshorizont, wollte er aus dem nicht-territorialen Charakter des Volkes eine menschheitliche Aufgabe herleiten. Als ubiquitäres „Gürtelvolk“, „Weltminderheit“ und „interterritoriale Nation“ (S. 290) galten ihm die Juden zugleich als „Mörtelvolk“, das zwischen den Völkern lebend gleichsam zu universeller Versöhnung und der Geburt einer neuen Menschheit beitragen sollte. Es war diese universalistische Gesinnung, von der alle weiteren Schriften Lieblichs zehrten.

Dass Manasse die Ausarbeitung von Lieblichs Ideen dabei chronologisch entlang der Abfassung von dessen Texten beschreibt, gereicht der Darstellung nicht immer zum Vorteil. Zwar lässt sich so bis ins Detail die Genese von Lieblichs intellektueller Entwicklung nachvollziehen, die Manasse von dessen ersten Vortrag im Stuttgarter „Berthold-Auerbach-Verein“ im Jahre 1919 bis hin zu dessen letztem Vortrag im Jahre 1982 nachvollzieht – der inhaltliche Mehrwert tritt gegenüber den zahlreichen Wiederholungen und Längen der Darstellung jedoch zurück. Lieblichs Positionierung innerhalb der unterschiedlichen jüdischen Strömungen in der Weimarer Republik ist dennoch unverkennbar. Seit seinem ersten Text aus dem Jahre 1919 nimmt eine doppelte Abgrenzung Konturen an: einerseits gegenüber der assimiliatorischen Haltung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens; andererseits gegen die nationalen Territorialisierungsabsichten des deutschen Zionismus. Gegenüber der nicht-jüdischen Umwelt, bestimmte ein solches Selbstverständnis wiederum Lieblichs Haltung zum Antisemitismus, weshalb Manasse dem Thema ein eigenes Kapitel widmet (S. 101–124): Denn gleichwohl sich auch ihm die Begegnung mit antisemitischen Ressentiments selbst eingebrannt hatte, wollte er in der feindlichen Fremdzuschreibung zugleich ein gemeinschaftsstiftendes Potential für die sich differenzierenden Judenheiten ausmachen. Das war freilich lange bevor auch nur zu erahnen war, welch tödliche Gewalt aus der judenfeindlichen Verschwörungstheorie erwachsen sollte. Lieblich selbst hatte auf die Judenfeindschaft seiner Zeit noch mit Forderung nach einer juristischen Anerkennung der deutschen Juden reagiert, die ihnen den Status einer nationalen Minderheit garantieren und sie zugleich als Teil einer universell verstreuten Nation bestätigen sollte. Mit Beidem zehrte er dabei von politischen Diskussionen, die innerhalb der niedergehenden Habsburgermonarchie geführt wurden, wie dem reichen Erfahrungsschatz einer nichtstaatlichen jüdischen Diplomatie der Zwischenkriegszeit.

Auf dieser Grundlage steht auch das umfassende Kapitel des Buches über „Karl Lieblichs Vorbilder – Die kulturellen Minderheitenkonzepte in Ost- und Mitteleuropa“ (S. 243–303). Ob es dafür wirklich des weit ausholenden Exkurses über die Entstehung von Minderheitenbegriff und Minderheitenrecht im imperialen Kontext der Habsburgermonarchie sowie der eindringlichen Betrachtung von Karl Renners und Otto Bauers Konzepten zur Nationalitätenfrage bedurfte, sei dahingestellt, zumal Manasse auch Lieblichs Bezugnahme auf deren Theorien offen lässt. Erst die Diskussion der jüdischen Initiativen auf den Pariser Friedenskonferenz 1918/19, die auf die Erwirkung eines völkerrechtlich gesicherten Minderheitenschutzes in den neu entstehenden Nationalstaaten Ostmitteleuropas drangen, legt schließlich Bezüge zu Lieblichs Werk offen. So stellt Manasse Lieblich als genauen Beobachter der Tätigkeit des Comité des Delegations Juives vor, das seit seiner Gründung für die internationale Durchsetzung eines völkerrechtlich garantierten Schutzes der nationalen Minderheiten Ostmitteleuropas eintrat. Als in Paris 1927 ein Prozess gegen Salomon Schwarzbart geführt wurde, einem polnischen Juden der in den Straßen der Stadt den ukrainischen Hauptverantwortlichen einer Welle antijüdischer Pogrome erschossen hatte, organisierte das Comité Schwarzbarts Verteidigung, errang seinen Freispruch und verwandelte den Prozess in eine öffentliche Bühne, um die bedrängte Lage der osteuropäischen Juden zu thematisieren. Auch Lieblich wohnte dem Prozess zeitweilig bei und hatte seine Eindrücke wenig später in der Novelle „Rausch und Finsternis“ verarbeitet (S. 46).

Seine eigenen Bemühungen, trotz der gültigen staatsbürgerschaftlichen Rechte zusätzlich eine Anerkennung als nationale Minderheit auch für die deutschen Juden zu erwirken, erlebte einen ersten institutionellen Höhepunkt im Dezember 1930 mit der Gründung des „Bundes für Neues Judentum“. „Von der Theorie zur Konkreten Tat“ lautet deshalb auch die Überschrift, unter der Manasse Lieblichs erste organisierte Versuche diskutiert, die deutschen Juden aus einer Religionsgemeinschaft in öffentlich-rechtliche Körperschaft personal-nationaler Autonomie zu verwandeln. „Auf Gegenliebe“ – auch das macht Manasse deutlich – war diese Idee unter der Mehrheit der deutschen Juden jedoch nicht gestoßen. Vielmehr war sie als Angriff auf die eigene Emanzipationsgeschichte, mithin als Infragestellung der eigenen Zugehörigkeit zur deutschen Nation wahrgenommen worden. Dass Lieblich seine Frage „Was geschieht mit den Juden?“ 1932 zudem als „Offene[n] Brief an Adolf Hitler“ formulierte und er gerade in dessen judenfeindlicher Gesinnung die Grundlage für eine Anerkennung der nationalen Differenz der deutschen Juden erkennen wollte, schürte Unmut und Ablehnung indes weit über die deutschen Juden hinaus. Auch Simon Dubnow, auf den Lieblich immer wieder Bezug genommen hatte, wandte sich von ihm ab. Dessen „Offenen Brief“ war ihm nichts anderes als eine „captatio benevolentiae bei dem schlimmsten aller Hamane“ (S. 229).

Als Lieblich im Gefolge der Machtübertragung an die Nationalsozialisten einen neuen „Gesetzesentwurf für eine jüdische Kulturautonomie“ anfertigte, waren dem Text nun selbst schon die veränderten Bedingungen eingeschrieben. Weiterhin inspiriert von den Minderheitenkonzepten Ostmitteleuropas war er nun zugleich ein „Versuch, das Konzept der kulturellen Autonomie an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, die unter den Nationalsozialisten verschärft worden waren, und den in Deutschland lebenden Juden eine beschränkte kulturelle Selbstständigkeit zu ermöglichen“ (S. 301). Gerade vor dem Hintergrund einer solchen Diskussion erstaunt es, dass Manasse die Bernheim-Petition des Jahres 1933 unerwähnt lässt. Dass es dem diplomatischen Geschick des Comité zu verdanken war, die Anwendung der antisemitischen Gesetze des Deutschen Reichs für den deutschen Teil Oberschlesiens auszusetzen, dürfte Lieblich vermutlich kaum entgangen sein. Doch während die Ausweitung des deutsch-polnischen Minderheitenabkommens für Oberschlesien von 1922 nun auch den dortigen Juden bis zu dessen Auslaufen im Jahre 1937 einen nationalen Minderheitenschutz garantierte, lebte Lieblich in Stuttgart bereits in einer anderen Zeit. Spätestens mit dem Erlass der Nürnberger Gesetze erkannte auch er, dass es für die deutschen Juden weder Anerkennung noch Zukunft in Nazideutschland gäbe und bereitete er seinen Weg ins Exil vor.

Mit dem Jahr 1935 endet deshalb auch Manasses inhaltliche Diskussion von Lieblichs Oeuvre und verschiebt sich die Darstellung vorrangig in den Bereich des Biographischen: vom Berufsverbot unter den Nazis, dem Weg ins brasilianische Exil ebenso wie der baldigen Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1948 handelt das letzte Kapitel des Buches, das vor dem Hintergrund von Lieblichs Wirken in der Zwischenkriegszeit jedoch viele Fragen aufwirft. Offen bleibt vor allem, wie Lieblich seine politische Utopie einer nicht-staatlichen jüdischen Diasporaexistenz nach dem Holocaust und der Staatsgründung Israels beurteilt hat. Zwar wendet sich Manasse in seinem Epilog Lieblichs Text über „Die Geheimnisse des Maimonides“ zu, einem Vortrag aus dem Jahre 1982, mit dem der Autor an manche seiner früheren Überlegungen anzuschließen suchte. Der Frage, wie diese durch den Zivilisationsbruch der Judenvernichtung, aber auch durch die nationale Territorialisierung jüdischer Existenz verändert wurden, weicht Manasse jedoch aus. So versagt er sich zuletzt einer Interpretation jener Aussage, mit der Lieblich nicht nur eine Neuauflage seiner früheren Texte zurückgewiesen, sondern recht eigentlich die fortdauernde Bedeutung seines gesamten bisherigen Oeuvres in Frage gestellt hatte. „In ‚Wir Jungen Juden‘ war noch als politisches Ziel des Bundes für Neues Judentum gesetzt, dem jüdischen Volk völkerrechtliche Anerkennung zu verschaffen, als einziges Gürtelvolk der Erde, das heißt als geschützte Minderheit, als ‚Interterritoriale Nation‘ leben zu dürfen,“ argumentiert Lieblich schließlich gegen sein vormaliges Geschichtsverständnis jüdischer Existenz. „Heute, nach dem Entstehen des Staates Israel“, heißt es in Revision der einstigen Positionen weiter, „müssen sich jedoch alle Kräfte der Judenheit auf die Erhaltung und Förderung des schwererkämpften Landes konzentrieren“ (S. 333). Im Buch von Manasse geht diese Aussage unter und steht damit paradigmatisch für eine Monographie, die eine exzentrische Persönlichkeit der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen bewahrt hat, aber auf diese Bedeutung zumeist begrenzt bleibt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch