Erinnerungen an die KZ-Haft: Zwei neu edierte Ego-Dokumente

: Mein Gedächtnis nimmt es so wahr. Erinnerungen an den Holocaust, bearb. und mit einem Nachwort von Inge Grolle, hrsg. im Auftrag des Vereins für Hamburgische Geschichte von Linde Apel. Göttingen 2015 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1698-0 184 S. € 12,90

: Elf Jahre. Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern, hrsg. und kommentiert von Kathrin Helldorfer, Annette Kraus und Jörg Skriebeleit im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg / Stiftung Bayrische Gedenkstätten. Göttingen 2014 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1398-9 336 S. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominique Schröder, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Provokant wirft Jörg Skriebeleit in seinen Bemerkungen zum Auftakt der Reihe „Flossenbürger Forum“, die dem Erinnerungsbericht von Carl Schrade vorangestellt sind, die Frage auf: „Noch ein Zeitzeugenbericht?“ Der Herausgeber konzediert, dass viele, die dieses Buch in den Händen halten, sich dieselbe Frage mit einem gewissen „Unterton des Unbehagens – wenn nicht des Überdrusses“ stellen mögen (S. 7). Auch die Herausgeber haben sich diese Frage gestellt. Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist mehr als begrüßenswert, dass sie sich für die Publikation entschieden haben. Carl Schrade begann bereits im Sommer 1945 auf Anraten eines Freundes seinen Bericht zu verfassen, wobei er selbst davon ausging, „dass es schon eine Menge ähnlicher Werke“ geben würde, „wenn dieses Buch in die Welt tritt“ (S. 320). Damit behielt er nur zum Teil Recht, denn Relevanz für die Forschung erhält der Text neben seiner Bedeutung als individuellem Zeugnis insbesondere aus der Tatsache, dass der Autor zur Gruppe der als „Berufsverbrecher“ verfolgten Opfer des nationalsozialistischen Regimes gehörte – einer Gruppe, deren Stigmatisierung nach dem Ende der NS-Diktatur bis in die jüngere Vergangenheit ihre Fortsetzung fand. Auch aus diesem Grund fand Schrades Text zu Lebzeiten keinen Verlag. Erst im Jahr 2010 tauchte das Manuskript im Nachlass eines Mithäftlings wieder auf. Mit Schrades Erinnerungen liegt nun endlich ein erster Text vor, der Einblicke in die Erfahrungsgeschichte dieser Häftlingsgruppe und darüber hinaus in den „Alltag“ der sogenannten frühen Lager gibt, die in der Erinnerungsliteratur bislang kaum eine Rolle spielen.1

Carl Schrade, der 1896 in Zürich als Sohn deutscher Eltern geboren wurde, musste bereits bis 1934 erste Haftstrafen wegen verschiedener Eigentumsdelikte verbüßen und geriet dadurch frühzeitig ins Visier der nationalsozialistischen Verfolgungsmaschinerie. So nimmt sein Bericht den Leser mit auf eine „elf Jahre und drei Wochen“ (S. 316) dauernde Tortur von den Lagern Lichtenburg und Esterwegen bis hin nach Sachsenhausen, Buchenwald und schließlich Flossenbürg, wo er am 23. April 1945 die Befreiung durch die Amerikaner erlebte. Sein detaillierter Bericht scheut nicht davor zurück, Grausamkeiten zu benennen – er will nichts verschweigen, damit „jeder Mensch, der nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Objektivität dürstet, seine eigenen Schlüsse daraus ziehen kann“ (S. 320). Mehrfach erkrankt Schrade schwer oder wird zur Arbeit in unerträglichen Kommandos eingeteilt und überlebt durch Glück und die Hilfe anderer. Er erinnert an das Schicksal seiner Mithäftlinge, versucht ihre individuellen (Leidens-)Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren. Er klagt schonungslos an und bleibt doch differenziert, wenn er über Täter wie Opfer schreibt. Deutlich wird in Schrades Text: Nicht alle Deutschen in den Lagern waren automatisch skrupellose Täter, auch wenn sie Uniform trugen; nicht alle Häftlinge waren automatisch Teil einer Solidargemeinschaft. Sein Wertmaßstab blieb dabei stets die Menschlichkeit eines jeden Einzelnen angesichts „einer Menschheit, die doch so unendlich hässlich und niedrig ist“ (S. 221).

Anders als Schrade wurde der am 11. Dezember 1923 in Hamburg geborene und dort im Kreise einer wohlhabenden Familie aufgewachsene Nathan Ben-Brith bereits als Kind Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Mit der Pogromnacht im November 1938, an die sich Ben-Brith jedoch selbst nicht aktiv erinnert – er vermutet einen „mentalen Schock“ (S. 28) infolge der traumatischen Ereignisse –, endete mit der Verschleppung des Vaters ins KZ Oranienburg „eine schöne und glückliche Kinderzeit“ (S. 12). Im März 1939 konnte sein Vater das Lager verlassen, nachdem er der „Arisierung“ seines gesamten Besitzes zugestimmt hatte. Auf abenteuerlichem Weg gelang auch seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester die Flucht nach Belgien, wo Ben-Brith mit seinen vier Geschwistern bereits zuvor bei Verwandten untergekommen war und versuchte, Fuß zu fassen in einer für ihn fremden Umgebung und Sprache. Eine kurze Phase scheinbarer Normalität endete erneut mit dem Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940, der gleichzeitig die Verhaftung des 16-Jährigen und den Beginn einer jahrelangen Internierung in verschiedenen Lagern markierte. In St. Cyprien und Gurs sammelte er erste Lagererfahrungen, zeitweise zusammen mit Familienangehörigen, die er rückblickend notiert – dabei stets reflektierend, dass seine Erinnerungen höchst subjektiv, lückenhaft und durch später hinzugewonnenes Wissen verändert seien. Anders als viele anderen Zeugen besteht Ben-Brith nicht darauf, dass es so und nicht anders gewesen sei. Er räumt Lücken ein, wenn er etwa schreibt: „Wie schon gesagt, erinnere ich mich nicht an Einzelheiten meiner Ankunft in dieser Stadt und habe auch nicht im Gedächtnis, dass ich dabei eine Überraschung erlebte.“ (S. 45) Überhaupt zeichnet sich sein Bericht neben der immer wieder eingezogenen Metaebene der Reflexion durch die sachliche, fast schon distanzierte Sprache aus, mit der er über das Erlebte berichtet, wozu er sich nach eigenem Bekunden erst „circa 45 Jahre nach Ende der Schoah“ und dann „zuerst nur auf Hebräisch“ (S. 11) durchringen konnte.2

Über die Lager Nexon und Drancy wurde Nathan Ben-Brith in das oberschlesische KZ Ottmuth deportiert, wo er in einer Schuhfabrik Zwangsarbeit leisten musste. Dort erkrankte er schwer und überlebte wie Carl Schrade nur durch Glück und die Zuwendungen von Mithäftlingen, die sich des Jungen annahmen. Wie Schrade differenziert auch Ben-Brith hier, benennt Hilfe und verurteilt diejenigen, die wegsahen, obwohl sie hätten helfen können: „Noch heute, 70 Jahre später, werfe ich ihnen vor, uns in unserer Not nicht geholfen zu haben, obwohl sie die gewünschte Hilfe gar nichts gekostet hätte“ (S. 80). Die Konzentrationslager Blechhammer, das er im Januar 1945 mit einem „Todesmarsch“ verließ, Groß-Rosen und Buchenwald markieren weitere Stationen seines Erinnerungsberichts.

Seine Befreiung erlebte Nathan Ben-Brith mehr tot als lebendig als Mitglied des sogenannten Gleiskommandos, das die Aufgabe hatte, durch Bombardements zerstörte Bahnstrecken für die Flucht von SS-Leuten zu reparieren, in der Nähe von Salzburg. Noch im Juli desselben Jahres ließ er sich nach Frankreich „repatriieren“ (S. 106), wo ihn seine Mutter ausfindig machte, die, wie er, überlebt hatte. Von ihr erfuhr er „nach und nach all das [...], was sie und mein Vater, meine Geschwister, Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen seit meiner Deportation durchgemacht hatten“ (S. 109). Immer wieder ist die lange und weit verzweigte Familiengeschichte der Bundheims, so der Geburtsname Ben-Briths, in Deutschland begleitendes Thema des Buches. Neben den eindrücklichen Schilderungen der Erfahrungen in den Lagern verdeutlicht sie gleichsam als Buch im Buch die lebensgeschichtliche Zäsur, die die Jahre 1933–1945 für Deutsche jüdischer Abstammung markierten.

Abschließend sei – da noch immer keine Selbstverständlichkeit bei der Veröffentlichung von Ego-Dokumenten – positiv hervorgehoben, dass beide Bücher sich durch sehr gründlich recherchierte und ausführliche Fußnoten auszeichnen, die personen- wie ortsbezogene Details ergänzen und kontextualisieren. Eine biographische Einordnung, die ebenfalls sehr überzeugend durch die jeweiligen Mitherausgeber vorgenommen wurde, leistet zur Einordnung der Texte wertvolle Hilfe.

Anmerkungen:
1 Auch hierin scheint sich die fortgesetzte Stigmatisierung zu spiegeln, die Carl Schrade selbst als Zeuge in Ermittlungs- und Strafverfahrenen zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zu erleiden fürchtete, woraufhin er seine Vergangenheit zu modifizieren begann (S. 17). Sein Antrag auf Entschädigung wurde 1958 abgewiesen: „Den Behörden galt er nach wie vor als ‚Berufsverbrecher‘“ (S. 25).
2 So schreibt Ben-Brith beispielsweise über die Erkenntnis, dass er den eigenen Vater nie wiedersehen werde: „Nach längerer Zeit wurde uns bewusst, dass unsere Hoffnung auf die Rückkehr meines Vaters nicht realistisch war und dass auch er zu den sechs Millionen Opfern des Holocausts zählte. Deshalb bestand für unseren Verbleib auf europäischem Boden, auf dem das Leben ohnehin nicht anziehend war, keine weitere Notwendigkeit“ (S. 113).

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