M. Borutta u.a. (Hrsg.): Vertriebene and Pieds-Noirs

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Titel
Vertriebene and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France. Comparative Perspectives


Herausgeber
Borutta, Manuel; Jansen, Jan C.
Erschienen
Basingstoke 2016: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XV, 300 S.
Preis
$ 100.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Insa Breyer, Berlin

Die Idee ist neu, spannend und überzeugt in vieler Hinsicht: Vertriebene und Pieds-Noirs miteinander zu vergleichen, diese auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Einwanderungsgruppen. In ihrer Einleitung verweisen die Herausgeber Manuel Borutta und Jan C. Jansen, wie bei einem Vergleich zu erwarten, auf Ähnlichkeiten und Unterschiede der untersuchten Migrationsgruppen. Auf der einen Seite die Vertriebenen in Deutschland bzw. der Bundesrepublik und der DDR: Ihre Migrationsgeschichte ist nur vor dem Hintergrund der präzedenzlosen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges sowie einer Politik ethnischer Säuberungen in Mittel- und Osteuropa von 1938 bis 1945 zu verstehen (S. 5). Die Geschichte der Pieds-Noir, der sogenannten Algerienfranzosen – also europäischer Siedler, die sich seit der französischen Eroberung Algeriens 1830 dort niedergelassen hatten –, ist hingegen im Kontext der Entkolonialisierung zu sehen. Während die Integration der Vertriebenen in Deutschland im Zusammenhang des Kalten Krieges betrachtet werden muss, sind in Frankreich die politischen Ereignisse einzubeziehen, die zum Ende der Vierten Republik führten (1958). Diese Unterschiede schmälern, so die Herausgeber, nicht den Gewinn eines Vergleiches, handelt es sich doch in beiden Fällen um Migranten, deren nationale Zugehörigkeit nie offiziell in Frage gestellt wurde und deren Einwanderung von starken Integrationsangeboten begleitet war. Zudem formten sowohl Vertriebene als auch Pieds-Noirs eigene Gruppen mit politischem Einfluss (S. 3). Methodisch werden Vertriebene und Pieds-Noirs somit gleichsam als besondere Gruppen von Migranten miteinander verglichen. Überzeugend wird mit Bezug auf Marc Bloch erläutert, warum der Schwerpunkt auf dem Vergleich und nicht auf der Transfer- oder Verflechtungsgeschichte liegt. Das Buch ist in sechs Teile untergliedert, wobei – im Sinne des symmetrischen Vergleiches – jeweils Vertriebene oder Pieds-Noirs anhand relevanter Aspekte untersucht werden.

In Teil I („From Empire to Nation-State: 1945 and 1962“) untersucht Shelley Baranowski „Legacies of Lebensraum: German Identity and Multi-Ethnicity“. Sie vergleicht dabei die Situation in Ost- und Westdeutschland. Baranowski betrachtet eine Politik ethnischer Homogenität und beschreibt, wie besonders in der alten Bundesrepublik und auch nach der Wiedervereinigung an einer vermeintlich natürlichen, ethno-kulturellen Vorstellung festgehalten wurde – und dies vergleichsweise lange, denn erst mit der Jahrtausendwende wurde das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert und damit eine Basis für Einwanderungspolitik gelegt.

Für die französische Seite betont Todd Shepard in „The Birth of the Hexagon: 1962 and the Erasure of France’s Supranational History“, wie jung der Begriff des Hexagon ist, das heißt welchen Bruch die algerische Unabhängigkeit bedeutete. Dabei werden auch die Unterschiede zwischen Vertriebenen und Pieds-Noirs deutlich – eine Politik ethnischer Homogenität auf der einen Seite; diverse Versuche, verbliebene Kolonien zu integrieren, auf der anderen Seite.

In Teil II („Repatriation and Integration“) beschreibt Michael Schwartz im Vergleich der ost- und westdeutschen Situation, wie sich beide Teilstaaten durch die massive Einwanderung veränderten. Auch er zeigt für die Bundesrepublik die Bedeutung ethnischer Homogenität – es habe eine Politik der Eingliederung gegeben, bei der zugleich das Heimatrecht betont worden sei. In der DDR sei dagegen eher eine Politik der Assimilation verfolgt worden. Die Unterschiede finden sich auch in den Begrifflichkeiten, wurde doch in der DDR der Terminus „Aussiedler“ genutzt.

Für den französisch-algerischen Fall betont Yann Scioldo-Zürcher, wie schnell im Frankreich der 1960er-Jahre eine Integrationspolitik umgesetzt wurde. Der Autor nutzt für die Pieds-Noirs den Begriff „National Migrants“ und betont hier auch die Ähnlichkeiten zu den Vertriebenen. Ein wichtiger Unterschied war jedoch, dass von französischer Seite eine Rückkehr-Option frühzeitig ausgeschlossen wurde; durch die Integration sollte die Zukunft der Pieds-Noirs allein in Frankreich gestaltet werden. Scoldio-Zürcher unterstreicht insgesamt die Ähnlichkeiten der privilegierten Situation der damaligen Migranten in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland.

In Teil III („Self-Organization and Representation“) fragt Pertti Ahonen, ob das oftmals einheitlich gezeichnete Bild des 1957/58 gegründeten Bundes der Vertriebenen aus historischer Perspektive stimmt. Er beschreibt die Vertriebenen als eine heterogene und gespaltene Gruppe. So betont er die unterschiedlichen Migrationserfahrungen („Heim ins Reich“, Flucht vor der Roten Armee etc.), die in der Kategorie „Vertriebene“ zusammengefasst wurden, sowie unterschiedliche politische Meinungen.

Demgegenüber hebt Claire Eldridge hervor, dass die Migrationserfahrungen bei den Pieds-Noirs einheitlicher als bei den deutschen Vertriebenen gewesen seien. Doch auch hier seien aus sozio-ökonomischer, politischer und kultureller Sicht sehr unterschiedliche Gruppen zu finden. Dabei konstatiert die Autorin den generellen Versuch der Pieds-Noirs-Gruppen, trotz ihrer Unterschiede kohärent zu erscheinen.

In Teil IV („Political Impact and Participation“) fragt Frank Bösch nach den Gründen für die oft als sehr erfolgreich dargestellte Integration der Vertriebenen in der Bundesrepublik. Diese wird von Historikern unter anderem mit dem anti-kommunistischem Konsens der 1950er-Jahre erklärt. Dagegen argumentiert Bösch, dass die Integration ein langwieriger und ambivalenter Prozess gewesen sei. Ein besonderes Augenmerk seiner Analyse liegt bei den politischen Parteien, vor allem CDU / CSU und SPD.

Eric Savarese beschäftigt sich für die Zeit von 1962 bis zur Gegenwart mit der Heterogenität der Pieds-Noirs und setzt sich beispielsweise mit der Frage der vieldiskutierten (Wahl-)Stimme auseinander. Savarese zufolge ist die verbreitete Annahme falsch, Pieds-Noirs würden bei Wahlen einheitlich stimmen. Zugleich diskutiert er die Gründe, warum Pieds-Noirs überproportional für den Front National stimmen, also für eine rechtsextreme Partei. Dies werde häufig auf sozio-ökonomische Faktoren sowie auf das historische Trauma der Pieds-Noirs zurückgeführt. Demgegenüber stellt der Autor die Erklärung in den Vordergrund, dass Pieds-Noirs neue Einwanderer vielfach als Feinde wahrgenommen hätten – gleichsam in der Kontinuität als ehemalige Kriegsfeinde.

Teil V („Commemorative Practices and Emotions“) beginnt mit einem Beitrag von Tobias Weger zu „Homeland Corners: Memories, Objects, and Emotions of Expellees in Postwar West Germany“. Die Erinnerungen der Vertriebenen sowie die entsprechenden Objekte seien bislang wenig untersucht. Viele Ansätze gingen zurück auf § 96 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes von 1953 zur „Pflege des Kulturgutes“. Einerseits betont Weger die vielfältige Bedeutung von Erinnerungen, Objekten etc.; andererseits stellt er dar, dass diese vielfach auch Elemente von NS-Symbolik und NS-Ideologie enthalten hätten.

Demgegenüber liegt Michèle Baussants Augenmerk in ihrer Untersuchung von „Pied-Noir Pilgrimages, Commemorative Spaces, and Counter-Memory“ auf der Verwobenheit von Erinnerung mit religiösen Praktiken. Den Hintergrund zu dieser Verknüpfung sieht sie in der katholischen Vergangenheit bereits zur Kolonialzeit.

In Teil VI („Politics of Remembrance“) thematisiert Stefan Troebst die transnationale Debatte zur Institutionalisierung und Musealisierung von Zwangsmigration. Diese hatte in ganz Europa Auswirkungen, aber besonders bei Geschichtsmuseen in Polen und Deutschland. Zugleich geht es um die grundsätzliche Frage, welcher Erinnerung welche Bedeutung zukommt: Während Frankreich, Großbritannien und andere westliche Staaten darauf beharrten, dass für die gesamteuropäische Erinnerung der Holocaust zentral sein solle, betonten Polen, Estland und Ungarn vor allem die Bedeutung der kommunistischen Verbrechen, so Troebst.

Jan C. Jansen zeigt die Veränderungen im öffentlichen Umgang mit der Erinnerung an den Algerienkrieg in den 1990er-Jahren und nach der Jahrtausendwende. So wurde von offizieller französischer Seite die Folter eingestanden, was für viele eine positive Wendung bedeutete. Zugleich kursierte schnell das Schlagwort eines Krieges der Erinnerung. 2005 wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach beispielsweise in der Schule die positive Rolle des Kolonialismus vermittelt werden soll.

In einem resümierenden Kapitel diskutiert Etienne François überzeugend die Möglichkeiten und Grenzen des Vergleiches zwischen Vertriebenen und Pieds-Noirs. Betrachte man die Ebene des historischen Geschehens, so dominierten die Unterschiede: Während im Nachkriegsdeutschland Vertriebene 20 Prozent der Bevölkerung ausmachten, stellten im Frankreich der 1960er-Jahre Pieds-Noirs nur ca. 2-3 Prozent der Bevölkerung. Auch die Zahl der Todesopfer von Vertreibung und Migration sowie die Traumata durch Vergewaltigungen etc. unterschieden sich deutlich. Gehe man jedoch nicht von den Ereignissen aus, sondern fokussiere den Vergleich auf die Ebene der Erinnerungen, würden strukturelle Gemeinsamkeiten kenntlich.

Der Sammelband fächert eine Bandbreite interessanter Themen und Aspekte der Vertriebenen und der Pieds-Noirs auf. Die Analyse vergangener Migrationsbewegungen bietet die Chance, aktuelle Entwicklungen historisch einzuordnen und damit auch darauf zu verweisen, in welchem Ausmaß Europa durch Migration aus verschiedensten Ländern und verschiedenster Art geprägt ist. Ausbaufähig erscheint mir der Umgang mit dem Instrumentarium des Vergleiches zwischen Vertriebenen und Pieds-Noirs, da die einzelnen Beiträge meist nur jeweils einen Fall behandeln. Hinzu kommt, dass in den Aufsätzen zu Deutschland teilweise direkt die Situation zwischen der Bundesrepublik und der DDR verglichen wird. Auch innerhalb der sechs Teile des Buches unterscheiden sich die Artikel teilweise stark in ihrem Fokus; ein direkter Vergleich findet sich lediglich kurz in der Einleitung und dann im Resümee. Es ist somit größtenteils an der Leserin oder dem Leser, den Vergleich der jeweiligen Aspekte einzuordnen und Ähnlichkeiten und Unterschiede für sich herauszuarbeiten – ein spannendes Unterfangen, das jedoch stärker im Buch selbst hätte aufgenommen werden können.