B. Braun u.a. (Hrsg.): Unterwegs zum Nachbarn

Cover
Titel
Unterwegs zum Nachbarn. Deutsch-polnische Filmbegegnungen


Herausgeber
Braun, Brigitte; Dębski, Andrzej; Gwóźdź, Andrzej
Reihe
Filmgeschichte International 23
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 39,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Schlott, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Der in enger Zusammenarbeit von renommierten Medienwissenschaftler/innen und Filmhistoriker/innen entstandene Sammelband setzt, wie bereits der von Konrad Klejsa und Schamma Schahadat herausgegebene Band „Deutsche und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften“1, die Arbeit an einer Verflechtungsgeschichte des deutschen und polnischen Kinos fort. Die dort vorhandene inhaltliche Gliederung mit den übergeordneten Begriffen ‚Geschichte‘, ‚Koproduktionen‘ und ‚Ästhetik‘ erweist sich im Hinblick auf die vergleichende Problemstellung des vorliegenden Bandes insofern als überzeugender, weil die beiden hier verwendeten diffusen Sammelbegriffe ‚Begegnungen, Durchdringung, Zusammenarbeit‘ wie auch ‚Geschichte und Erinnerung‘ den kompakten Prozess der gegenseitigen Beeinflussung der polnischen und deutschen Filmschaffenden in methodischer Hinsicht nicht ausreichend gliedern.

In der sehr knappen Einleitung listen die Herausgeber/innen das breite Panorama der „komplizierten deutsch-polnischen Nachbarschaft im Bereich Film“ (S. 1) auf, eine problemorientierte Gliederung ist jedoch daraus nicht entstanden. Sie übernehmen zwar den Titel „Unterwegs zum Nachbarn“ aus dem fundierten Beitrag der renommierten Filmwissenschaftlerin Margarete Wach, die den komplexen Prozess der annähernden Zusammenarbeit zwischen Filmschaffenden aus beiden Ländern an solchen Begriffen wie ‚Gastarbeiter’ oder ‚Grenzgänger‘ anschaulich macht, und damit auch die „kinematografischen Europäisierungsprozesse vor und nach der Wende“ (S. 25) thematisiert. Eine aus diesem übergreifenden Prozess abgeleitete Fragestellung ist aber insofern nicht entwickelt worden, als die Herausgeber/innen unter den beiden Sammelbegriffen ganz unterschiedliche thematische Beiträge zusammenfassen. Neben den ethisch und ästhetisch orientierten Beiträgen von Andrzej Dębski und Ewa Fiuk zu Stereotypenbildungen und „Schnittstellen“ im deutschen und polnischen Gegenwartsfilm sind filmhistorische Artikel wie Magdalena Abraham-Diefenbachs „Kinogeschichte als Archäologie des Alltags an der deutsch-polnischen Grenze 1945–1989“ und Konrad Klejsas Text über die enge Zusammenarbeit zwischen dem aus Łódź stammenden Filmproduzenten Artur Brauner, dem weitgehend unbekannten Drehbuchautor Jan Fethke und dem berühmten Regisseur Fritz Lang aufgenommen worden. Diese Vermengung von unterschiedlichen Aspekten deutsch-polnischer bzw. DDR-polnischer wie auch bundesdeutsch-polnischer Filmgeschichte wirkt auf den Leser verwirrend, wenngleich die einzelnen Beiträge eine hohe Aussagekraft aufweisen. Zu nennen sind Lars Lockhecks Betrachtung zu „Die Sonnenbrucks“ (DDR 1951) als erstem deutsch-polnischen Gemeinschaftsfilm, Ralf Schenks Beitrag zur Entstehung des deutsch-polnischen „Signale – ein Weltraumabenteuer“ (DDR/Polen 1970) und Andrzej Gwóźdźs vergleichende Analyse der Filme „Opętanie“ (Polen 1973) und „Die Schlüssel“ (DDR 1972), die beide die historisch belastete und ideologiebeladene Verhinderung von Verständigung zwischen Polen und DDR-Deutschen thematisieren. Gwóźdź verweist in seiner vergleichenden Filmanalyse auf die stark differierende Verarbeitung von kulturellem Gedächtnis in Polen beziehungsweise in der DDR. Er greift damit eines der gravierenden Probleme in der „nachbarschaftlichen“ Beziehung zwischen den beiden staatssozialistischen Ländern auf. Diesen Forschungsansatz verfolgt auch Regina Immel in ihrer Untersuchung über den Filmaustausch zwischen den bundesdeutschen und polnischen Fernsehagenturen während des Kalten Kriegs.

Solche kulturtypologischen komparatistischen Analysen sollten auch im Fokus künftiger Publikationen zur transnationalen vergleichenden Filmgeschichte stehen. Einen derartigen Untersuchungsansatz finden wir, einsortiert unter der Rubrik ‚Geschichte und Erinnerung‘, auch in dem lobenswerten Beitrag von Magdalena Saryusz-Wolska über Andrzej Wajdas Film „Das Massaker von Katyń“ (Polen 2007). Sie beschreibt und interpretiert nicht nur die publizistische und wissenschaftliche Rezeption in Polen und Deutschland, sondern bezieht sowohl die historisch schwer belastete russische Täter-Geschichte (und deren figürliche Ausblendung durch den Regisseur im Film) als auch die Rezeptionsgeschichte des Films in ihre Analyse ein.

Die Aufarbeitung der komplizierten deutsch-polnischen Geschichte im 20. Jahrhundert aus der Perspektive des Mediums Film leistet der Beitrag von Brigitte Braun, die den „Kampf um polnische Herzen“ (S. 207) während des Ersten Weltkriegs auf dem Hintergrund der aggressiven und kriegerischen Außenpolitik des Kaiserreichs gegenüber Russland bewertet. Mit der nach 1918 einsetzenden polenfeindlichen Kulturpolitik setzen sich weitere Aufsätze auseinander, die aus deutscher und polnischer Perspektive die in den 1930er-Jahren von Schlesien ausgehende propagandistische Verunglimpfung des polnischen Nachbarn kommentieren.

Der wohl originellste Beitrag ist dem Spielfilm „Mauerhase“ (Polen/Deutschland 2009) von Bartosz Konopka gewidmet, eine deutsch-polnische Produktion, die Jakob Christoph Heller unter Verweis auf Michel Foucaults und Giorgio Agambens Thesen zur Biopolitik als „Paradigma europäischer Erinnerung“ (S. 372) bezeichnet.2 Der Dokumentarfilm, in dessen Mittelpunkt – im Grenzstreifen der Berliner Mauer von 1961 bis 1989 – eingesperrte Kaninchen stehen, intendiert, so Heller, „eine analogische Re-Narration des Mauerfalls aus ‚tierlicher‘ Perspektive“ (S. 374). Damit einher gehe eine Verfremdung der Geschehnisse, in der ein Kollektiv die Welt um sich und ihre Veränderungen nicht begreife. Dieser Verfremdungseffekt besitze ein Identifikationspotential, das nicht einfach an nationale Erfahrungen rückgebunden werden könne. Gemeinsam mit der Ästhetisierung der Ereignisse, das heißt ihrer filmischen Umsetzung, und der Politisierung des Tieres als Spielball zwischen nationalen Interessen werde das Kaninchen damit auch zum Objekt einer Ethik, in der die Sprachlosigkeit des Tieres die Vorrangigkeit des Lebens, „der Lebenswelt vor jeder national-politischen Interpretation“ (ebd.) behaupte. In erinnerungskultureller Intervention stelle dieser Film „die Verantwortung für das Leben jenseits von Kultur, Ethnizität und Nationalität, […] das Erbe, die Basis Europas“ (S. 375) dar.

Der Sammelband, der weiterhin eine nützliche Filmografie deutsch-polnischer Spielfilm-Produktionen von 1916 bis 2011 enthält, zeichnet sich – ungeachtet der aufgezeigten Mängel in der Gliederung – durch problembewusste und methodisch hoch differenzierte Beiträge aus. Sie beleuchten die schwer beschädigte deutsch-polnische Vergangenheit aus einer filmwissenschaftlichen Perspektive, die über die nationalen Grenzen hinausgehend im Ansatz europäisch orientierte Interpretationsmuster enthält.

Anmerkungen:
1 Konrad Klejsa / Schamma Schahadat (Hrsg.), Deutsche und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften, Marburg 2011.
2 Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main 2006; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002.

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