E. Cohn: The High Title of a Communist

Cover
Titel
The High Title of a Communist. Postwar Party Discipline and the Values of the Soviet Regime


Autor(en)
Cohn, Edward
Anzahl Seiten
XVII, 268 S.
Preis
€ 47,93
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Krüger, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Was verbindet einen Fabrikdirektor aus Kemerowo, Sibirien, der 1959 eine außereheliche Affäre hat und dessen Sohn des ‚Rowdytums‘ (chuliganstwo) beschuldigt wird, mit einem Moldauer Komsomolzen, der 1949 verschwiegen hatte, Jude zu sein, oder mit einer Kolchos-Vorsitzenden, die 1947 64 kg Getreide und 2 200 Rubel unterschlagen hatte (S. 3)? Sie alle hätten durch ihr Verhalten gezeigt, den „erhabenen Titel eines Kommunisten“ (wysokoje swanije komunista) nicht zu verdienen, und wurden aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ausgeschlossen. Dies ist der Aufhänger für das Buch des Russlandhistorikers Edward Cohn (Grinnel College, Iowa) über das parteiinterne Disziplinierungssystem der KPdSU zwischen 1945 und 1964. Seine Hauptthese ist dabei, dass die Entstalinisierung dieses Systems nicht mit der üblichen Zäsur 1953 eingesetzt habe, sondern in unterschiedlicher Ausprägung bereits ab Ende des Krieges zu beobachten sei (S. 8).

Was jedoch war ein Kommunist, und was war ein guter Kommunist? Was machte diesen „erhabenen Titel“ aus, auf welchem Wertesystem fußte er, und wie veränderte sich dieses? Welche realen Probleme wurden mit dieser abstrakten Kategorie in Verbindung gebracht? Wie wollte die Partei kontrollieren, wer sich Kommunist nennen durfte? Cohn legt eine Studie vor, in der er den Systemwandel der internen Parteidisziplinierung seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Sturz von Nikita Chruschtschow nachzeichnet. Hierfür hat er eine Vielzahl von Akten, Protokollen und Berichten ausgewertet, in kleinteiliger Fleißarbeit Zahlen und Statistiken gesammelt und diese in übersichtliche Tabellen umgewandelt. Die verschiedenen Kategorien des Disziplinierungssystems werden von einer Vielzahl konkreter Einzelfälle illustriert, die jeweils das Spezifische daran beleuchten sollen.

Im ersten, einem einleitenden Überblick dienenden Kapitel zeichnet Cohn die grundsätzliche Funktion des Parteidisziplinarsystems und seine Entwicklung in den ersten Jahrzehnten der Partei nach. Sein Fokus liegt dabei auf der Parteikontrollkommission (komissija partijnowo kontrolja, KPK), die in diesem System die Deutungshoheit innehatte und das Verhalten von Parteimitgliedern überwachen sollte. Das Selbstverständnis jener Bolschewiki, die bereits vor 1917 in die Partei eingetreten waren, war eindeutig: Sie begriffen sich als elitäre Vorhut der Arbeiterklasse, die zum Wohl derselben das zaristische Regime stürzen und diese Revolution verteidigen sollte. Doch nach 1917 begann sich die Partei grundlegend zu verändern. Aus einer Kaderpartei überzeugter Revolutionäre wurde binnen zweieinhalb Jahrzehnte eine Massenpartei. Der Große Terror und die Jahre des Zweiten Weltkriegs trugen ebenso zum Wandel bei wie die Hoffnungen vieler Menschen auf verbesserte Karrierechancen, wenn sie in die Partei eintraten. Aus einer von Arbeitern dominierten Partei von 350.000 Mitgliedern (Oktober 1917) wurde eine Massenpartei mit über 6 Millionen Mitgliedern (1950: 6,34 Mio.)1 – „dominated by white-collar veterans, who often saw ‚the Great Patriotic War‘ (and not the October Revolution) as the key event in their political development“ (S. 20).

Chruschtschow begrüßte diese Öffnung einerseits, denn die KPdSU sollte eine Partei des ganzen Volkes sein. Andererseits brachte diese Entwicklung auch eine wachsende Bürokratisierung mit sich, weshalb bald Kampagnen starteten, die Partei wiederzubeleben und einfache Bauern und Arbeiter als aktive Kräfte in die Transformation des Landes einzubinden. Das Verhalten aller Mitglieder in der Öffentlichkeit wie auch im privaten Leben sollte dabei die Parteicharta regeln, die 1952 überarbeitet und 1960 um eine deutlich moralische Komponente erweitert wurde. Verstießen Parteimitglieder gegen diesen häufig nicht eindeutigen Verhaltenskodex, so wurde ein Disziplinarverfahren angestrengt, an dessen Ende gegebenenfalls über den Parteiausschluss der Betroffenen entschieden wurde.

Im zweiten Kapitel widmet sich Cohn der letzten groß angelegten Parteisäuberung vor Stalins Tod, nämlich dem massenhaften Parteiausschluss Hunderttausender von Kriegsgefangenen und Kommunisten, die sich in feindlich besetztem Gebiet aufgehalten hatten. Dabei handelte es sich indes nicht um eine Fortsetzung des Terrors der dreißiger Jahre, sondern um „an attack on the ‚passivity‘ of thousands of Communists and an effort to ensure the discipline of the party masses at a moment of unusually great stress on the Soviet polity“ (S. 80). Die Rehabilitierungsverfahren nach Stalins Tod sind Thema im dritten Kapitel, wobei Cohn klarmacht, dass es eine Sache war, strafrechtlich rehabilitiert zu werden, jedoch deutlich aufwändiger und mitunter von geringerem Erfolg beschieden, seinen Parteistatus wieder zu erlangen (S. 96–98). Zudem verweist Cohn auf die veränderten politischen Grundlinien im Disziplinarwesen: Statt Bestrafung sollte Erziehung (wospitanije) das Ziel jeder parteiinternen Disziplinarmaßnahme sein. Dabei sollte die aufmerksame Öffentlichkeit helfen, den entsprechenden Druck gegenüber dem unter Verfehlungen leidenden Parteimitglied aufzubauen.

Den Schwerpunkt seiner Studie legt Cohn jedoch auf die moralische Komponente, die dem internen Parteidisziplinarsystem zugrunde lag. In Kapitel vier beleuchtet er die Verfahren, die in Fällen von Korruption und administrativen Verfehlungen eingeleitet wurden. Die beiden letzten Kapitel schließlich fokussieren das Privatleben von Parteimitgliedern und untersuchen, wie die Partei versuchte, auch in diesen Bereichen ihre Vorstellung von einer vorbildlichen kommunistischen Lebensführung durchzusetzen. Dabei nimmt er in Kapitel fünf Familien- und Genderbeziehungen in den Blick und verdeutlicht, wie die „öffentliche Meinung“ (obschtschestwennoje mnenije) als Korrektiv helfen sollte, das Verhalten von untreuen Eheleuten oder nachlässigen Eltern auch außerhalb des Zivilrechts zu beeinflussen. Kapitel sechs untersucht solche Disziplinarverfahren, in denen Alkoholmissbrauch Auslöser für ein Fehlverhalten war. Cohn schließt mit der Beobachtung, dass der Umbau des Disziplinierungssystems – wenn auch in seinem Ergebnis nicht so effektiv – eine bedeutende Rolle in einer Zeit spielte, als die Sowjetunion sich von einer revolutionären Vorkriegsregime zu einem bürokratischen Nachkriegsstaat gewandelt habe.

Edward Cohn hat eine wichtige Untersuchung zur KPdSU, ihrem Disziplinierungssystem im Konkreten und den Moralvorstellungen zum ‚richtigen Verhalten‘ eines Kommunisten im Allgemeinen vorgelegt. Dieses Vorhaben bettet er gut in die aktuelle Forschung zur Chruschtschow-Zeit ein, wobei er insbesondere relevante ältere Arbeiten zur Parteigeschichte zur Kenntnis nimmt, da es kaum aktuelle Studien hierzu gibt. Cohn ist unbedingt zu Gute zu halten, zahlreiche interne Parteistatistiken zugänglich gemacht und sie anschaulich zusammengestellt zu haben. Zudem illustriert er die verschiedenen Themen mit einer Vielzahl von Fallbeispielen. Es ist bedauerlich, dass er dabei die Lesbarkeit seines Buches aus den Augen verloren hat, indem er die Beispiele mitunter farblos aneinanderreiht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch zwei zunächst lobenswerte redaktionelle Entscheidungen des Autors: Zum einen anonymisiert Cohn die Namen seiner Fälle (Comrade A, O, Z; S. xvii), was unweigerlich zu einer Distanz zum Text führt, die das Lesevergnügen trübt. Und so wichtig Genauigkeit in der Forschung ist, wäre es besser gewesen, die vielen Zahlen und Statistiken nicht jedes Mal exakt auf die Nachkommastelle im Text zu nennen, sondern hier mit Vergleichsgrößen und Rundungen zu arbeiten oder auf die 19 Tabellen zu verweisen. Ein sorgfältigeres Lektorat hätte auch geholfen, die häufigen Wiederholungen und einige Redundanzen zu vermeiden.

Davon unabhängig ist dieses Buch ein wichtiger und empfehlenswerter Beitrag für die Geschichte der KPdSU, für die Entstalinisierung und für den Wandel der Moral- und Verhaltensvorstellungen in den 1950er- und 1960er-Jahren. Und nicht zuletzt lohnt es sich, um schöne Anekdoten wie folgende zu entdecken: Im Frühsommer 1956 entsandte das ZK der KPdSU einen Untersuchungsbeamten in das südrussische Gebiet Pensa, um herauszufinden, wie ein Funktionär des örtlichen Kreiskomitees seine Kopie der berühmten Geheimrede Chruschtschows verlieren konnte. Er musste feststellen, dass die Kantine des Gebietskomitees jeden Tag Wodka zum Mittagessen anbot, was sich nachteilig auf die Arbeit der Parteimitglieder auswirkte (S. 171).

Anmerkung:
1 Kommunističeskaja Partija Sovetskogo Sojuza, in: Bolšaja sovetskaja ėnciklopedija 12, Moskva 1973, 3. Aufl., Sp. 1619–1670, hier Sp. 1669; online: http://dic.academic.ru/dic.nsf/bse/97424/Коммунистическая (10.04.2017).