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Titel
Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren


Autor(en)
Sonnenberg, Uwe
Reihe
Geschichte der Gegenwart 11
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Department of English, Germanics and Romance Studies, Universität Kopenhagen

Nach dem kleinen Boom, den kürzlich die Geschichte des Lesens in den 1970er- und 1980er-Jahren durch die Bücher von Ulrich Raulff und Philipp Felsch erlebt hat1, legt jetzt Uwe Sonnenberg eine ausgezeichnet recherchierte Darstellung zum linksradikalen und alternativen Buchhandel vor, der Sozial- und Kulturgeschichte gleichermaßen bietet und damit ein umfassendes Bild von Inhalten, Infrastruktur und Konflikten des linken Lesens in den langen 1970er-Jahren zeichnet. Hier steht nicht so sehr der theoretische Paradigmenwechsel vom Marxismus zum Poststrukturalismus im Mittelpunkt, wie er von Raulff anhand der eigenen Lesesozialisation und von Felsch am Mikrokosmos des Merve-Verlags illustriert wird – oder doch, ja, auch das, aber eingebettet in eine breitere Geschichte der linken Bewegungen und ihrer Wissensproduktion und -rezeption. Angelpunkt der Darstellung ist die Geschichte des Verbandes des linken Buchhandels (VLB), der 1970 gegründet wurde, als Klammer zahlreicher linker Verlage und Buchhandlungen von den Sammlungs- und Spaltungsprozessen in dieser Szene geprägt war und 1980 „variantenreich“ (S. 478) entschlief, eben weil hier Differenzierungsprozesse vonstattengingen, die nicht mehr unter diesem einen Dach zu versammeln waren, und gleichzeitig die Abgrenzung vom „bürgerlichen“ Buchhandel erodierte. In den 1970er-Jahren sollen dem VLB immerhin 150 bis 200 Verlage, Vertriebe, Buchläden und Druckereien angehört haben – ein doch recht umfassendes Netzwerk einer „Gegenöffentlichkeit“, wie sie manchen schon 1968 vorgeschwebt hatte. Sonnenberg hat sich dafür entschieden, die Verlage und Buchhandlungen von SPD, DKP und den zahlreichen maoistischen Gruppen auszugliedern, weil sie eben Parteiaufgaben erfüllten und damit weniger den Wandlungsprozess innerhalb der breiten linken Szene widerspiegeln. Glücklicherweise folgt der Verfasser diesem Vorsatz nicht dogmatisch, sondern verweist immer wieder auf Berührungspunkte und nicht zuletzt Konflikte zwischen diesen linken Lagern, so dass Sammlungs- und Differenzierungsprozesse auch im Rest der linken Szene aufscheinen.

Das Buch ist in fünf Hauptkapitel gegliedert: Vorgeschichte, Literaturproduzenten- und Demokratisierungsdebatten 1967–1970, die Organisation der linken Verlags- und Buchhandelsszene 1970–1973, der linke Buchhandel im aufsteigenden Alternativmilieu 1973–1977 und der auf einen zweiten Gründungsboom folgende Niedergang bis 1980. Das Buch beginnt weit vor der Gründung des VLB mit einem konzisen Überblick zum linken Buch seit der Französischen Revolution, um sich aber schnell den Verlagen der Neuen Linken seit den frühen 1960er-Jahren zu widmen – Neue Kritik, Trikont, Voltaire und Wagenbach werden hier als Beispiele genauer beschrieben. Besonders begrüßenswert ist, dass Sonnenberg schon im ersten Kapitel den engeren Fokus der Darstellung durchbricht und sie zur Gesellschaft als Ganzes hin öffnet, indem er der Entdeckung linker Literatur durch etablierte Verlage wie insbesondere Rowohlt, Suhrkamp und Fischer einige Aufmerksamkeit widmet, die sehr zügig auf dem „Markt für Marx“ (Adelheid von Saldern) Raum griffen und den Massenbedarf an linker Literatur mit oft eigens geschaffenen Reihen bedienten. Protagonisten, Verlage, Reihen, Auflagenhöhen – über all dies wird hier zuverlässig informiert. Ebenso zügig, wie sie hier in Erscheinung traten, reduzierten die großen Verlage das entsprechende Programm auch wieder, sobald die Nachfrage nachließ, was, wie Sonnenberg an vielen Beispielen herausarbeitet, ab 1973 der Fall ist. Auch später bettet der Verfasser die Entwicklung immer wieder in den gesamtgesellschaftlichen Kontext ein, so dass hier weit mehr in den Blick kommt als nur die linke Szene.

Neben den Vorläufern und nachdem es anfangs, im Umfeld der Studentenbewegung, in erster Linie um die Verbreitung von Informations- und Schulungsmaterialien gegangen war, kam es nach der Frankfurter Buchmesse von 1968 zur Gründung zahlreicher linker Verlage. „Die Zeit [...] der offenen Gemischtwarenverlage ist vorbei“, konstatierte Dieter E. Zimmer im Jahr darauf (S. 105). Die Literaturproduzenten verstanden den Buchhandel als „zentralen Sektor der Bewusstseinsindustrie“ (S. 139), der zu demokratisieren war und daher den Aufbau eigener, linker Buchhandlungen erforderte. Immer wieder arbeitet Sonnenberg die Konflikte innerhalb des VLB, der Verlage und Buchhandlungen heraus – ob es nun um die Umsetzung von Mitbestimmungsforderungen, die Rolle professioneller Buchhändler ging oder um andere aus dem Postulat der Kollektivität oder aus politischen Dissonanzen sich ergebende Misshelligkeiten. Der bekannten Spaltung des Wagenbach-Verlags von 1973 entsprachen in diesen Jahren zahlreiche andere Dissoziationen oder jedenfalls dramatische Auseinandersetzungen auf der Mikro-Ebene. Mit der Entstehung des Alternativmilieus in den nachfolgenden Jahren bildete sich in der Hochzeit des VLB sein „in der deutschen Buchhandelsgeschichte einzigartiger Charakter“ (S. 275) heraus als ein Zusammenschluss autonomer Projekte, der von der Buchproduktion über den Vertrieb bis zu einem Netz von Verkaufsstellen in der ganzen Bundesrepublik und West-Berlin den gesamten Produktions- und Distributionsprozess umfasste.

Vorbildlich analysiert der Verfasser auch die inhaltlichen Akzentverschiebungen im Angebot der linken Verlage und Buchhandlungen, stets eingearbeitet in die Veränderungen des politischen und gesellschaftlichen Kontextes. So wird deutlich, dass der große Nachholbedarf an sozialistischer Theorie, der noch die frühen Jahre stark bestimmt hatte, seit 1973 einer stärkeren Differenzierung wich, auch einer stärkeren Profilierung der einzelnen Verlage, die sich etwa auf Probleme der Arbeiterbewegung konzentrierten (VSA), die situationistische Tradition bedienten (Edition Nautilus) oder zwischen Klassikern und von Frauenbewegung und Psychoanalyse ausgelösten Thesenbildungen etwa über historische „Männerphantasien“ (Roter Stern) oszillieren konnten. So wandelte sich das Selbstverständnis der VLB-Szene „von Marx zum Maulwurf“, was auf die Gestaltung der VLB-Einkaufstasche abhebt, die zunächst ein Karl-Marx-Kopf (Motto: „Ohne Theorie keine Revolution“), ab 1976 der Maulwurf als ebenso schlaues wie subversives „Wappentier der Revolution“ zierte.

Die gesamte linke Szene war wiederum 1976/77 mit der Positionsfindung zum „bewaffneten Kampf“ beschäftigt. Scharf wird hier herausgearbeitet, wie linke Verlage und Buchhandlungen einerseits aus dem Umfeld der RAF unter Druck gesetzt wurden, andererseits von staatlicher Seite häufig als „Sympathisanten“ verdächtigt und mit Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen überzogen wurden. So richteten sich, wie Sonnenberg herausgefunden hat, nicht weniger als ein Viertel aller Verfahren nach dem 1976 vom Bundestag beschlossenen § 88a („Verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten“) gegen Buchhandlungen, die inkriminierte Schriften bereithielten, was einer eklatanten Einschränkung der Meinungsfreiheit entsprach.

Natürlich entstehen bei einem solchen gewaltigen Werk Einwände oder Nachfragen zu einzelnen Aspekten. So könnte man bezweifeln, ob die historischen Abweichungen von der kommunistischen Parteilinie tatsächlich erst Mitte der 1970er-Jahre, in der Kritik am ML-Kurs vieler Linksradikaler, in die Regale der Buchhandlungen gelangten. Sicherlich gab es hier eine neue Sensibilisierung in der Abkehr, aber das Interesse für diese Dissoziationen war stark schon in den 1960er-Jahren, wie Rudi Dutschkes „Bibliographie des revolutionären Sozialismus“ von 1966 oder die bei Wolfgang Abendroth gefertigten Dissertationen unter anderem von Karl Hermann Tjaden (1964) und Hans Manfred Bock (1969) zeigen. Dass Bock sie dann 1976 zu einer „Geschichte des ‚linken Radikalismus’“ bis in die damalige Gegenwart hinein verlängerte, dokumentierte die neue Blüte, aber auch den Spannungsbogen zwischen den beiden Konjunkturen. Erst aus dieser Spannung heraus – dem Interesse schon vor der Studentenbewegung und der marxistisch-leninistischen Organisationseuphorie danach ergibt sich überhaupt erst die Frage, warum die antistalinistische Prägung der Linken teilweise in ihr Gegenteil umschlug und erst später reaktiviert wurde.

Eine weitere Nachfrage richtet sich an die Rolle der Belletristik. Der Verfasser beschreibt die linke Leselust im Kontext der VLB-Verlage und Buchhandlungen als in allererster Linie politisch-soziales Bedürfnis. Erst ab Mitte der 1970er-Jahre sei ein „signifikante[r] Anstieg belletristischer Literatur in den Regalen der linken Buchhandlungen“ zu registrieren, bis auf Wagenbach und Rotbuch sei bis dahin von den linken Verlagen keine „erkennbare belletristische Strecke aufgebaut“ worden (S. 309). Das ist eine interessante Beobachtung, zu der man sich eine vertiefende Diskussion gewünscht hätte. Denn natürlich wurde auch in linken Kreisen Unterhaltungsliteratur gelesen, manchen Büchern wie Peter Schneiders „Lenz“ oder Bernward Vespers „Die Reise“ wird üblicherweise sogar zentrale Bedeutung beigemessen. Und an anderer Stelle im Buch wird deutlich, dass Belletristik 1975/76 sogar den ersten Rang bei den Sachgebieten des VLB-Katalogs einnahm. Hinzu kommt, dass die Buchhandlungen auch „bürgerlich“ orderten, so dass das „idealtypische Sortiment“ des linken Buchhandels wohl doch mehr schöngeistige Literatur bereitgehalten haben mag, als es hier erscheint. Die Sache ist analytisch nicht ganz irrelevant, weil sich daraus Schlussfolgerungen für die Disposition des Milieus ableiten ließen, die nicht möglich sind, wenn es als in erster Linie politische Größe aufgefasst wird.

Da sich ja der Wert eines Buches nicht zuletzt aus seinem Anregungspotenzial für weitergehende Forschungen ergibt, sind derartige Nachfragen weniger als Kritik zu verstehen, sondern sollen eher auf mögliche Weiterungen verweisen. Sie werden wohl noch etwas auf sich warten lassen, denn mit „Von Marx zum Maulwurf“ hat Uwe Sonnenberg ein Standardwerk vorgelegt, das das linke Lesen der 1970er-Jahre gründlich erforscht und in einem weiten sozial- und kulturgeschichtlichen Rahmen verortet, der es anschlussfähig macht für Fragen zur Kontur der westdeutschen Gesellschaft „nach dem Boom“. Eines seiner bedeutendsten Verdienste besteht darin, die Trennung von Linksradikalismus und Alternativmilieu relativiert und ihren Zusammenhang als Bruch und Kontinuum zugleich beschrieben zu haben.

Anmerkung:
1 Ulrich Raulff, Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014; Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015.

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