Cover
Titel
Falsche Scham. Strategien der Überzeugung in Aufklärungsfilmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (1918–1935)


Autor(en)
Gertiser, Anita
Reihe
Cadrage. Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 1
Erschienen
Göttingen 2015: V&R unipress
Anzahl Seiten
297 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anita Winkler, Lehrstuhl für Medizingeschichte, Universität Zürich

Geschlechtskrankheiten haftet etwas Schamhaftes an. Zum einen ist Scham geknüpft an kollektive kulturelle, soziale, politische und religiöse Vorstellungen von Sexualität, zum anderen ist Sexualität etwas Intimes und findet zurückgezogen hinter verschlossenen Türen statt. Geschlechtskrankheiten indes machen mit ihren äusseren Merkmalen das heimliche Begehren publik, und ihre Entdeckung wird zum Akt der Beschämung. Kulturell geprägte Schamvorstellungen und die Beschämung als eine Form der Selbsterkenntnis eröffnen das Spannungsfeld, in dem Anita Gertiser die Geschichte der Aufklärungsfilme zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zwischen 1918 und 1935 verortet. Mit Fokus auf Lehr- und (semi-)fiktionale Filme zur Gesundheitsaufklärung widmet sich Gertiser einem Filmgenre, das lange Zeit weder in den Filmwissenschaften noch in den Geschichtswissenschaften grössere Beachtung fand. Sogenannte Gebrauchsfilme werden erst seit jüngster Zeit in den Filmwissenschaften rezipiert. Ähnlich wird in den Geschichtswissenschaften erst seit etwa fünf Jahren der Gebrauchsfilm verstärkt als historische Quelle genutzt.

Im Zentrum der Studie steht die Frage, welche Strategien die Filme einsetzten, um über Geschlechtskrankheiten aufzuklären. Gertiser formuliert zwei zentrale Thesen: Erstens trachteten medizinische Aufklärungsfilme danach, religiös-moralischen Vorstellungen über Geschlechtskrankheiten und deren Mythologisierung entgegenzuwirken. Gertiser übersieht dabei nicht, dass auch die Inszenierung von medizinischem Wissen über Geschlechtskrankheiten nicht wertfrei war. Zweitens vermittelten Filme nicht nur ein bestimmtes Wissen über Sexualität, das medizinischen Ordnungsmustern von ‚normal’ und ‚pathologisch’ folgte, sondern ihnen kam auch eine Erziehungsfunktion zu, die auf die Steuerung sozialen Verhaltens abzielte. Die Filme versuchten daher auch möglichst empathisch und emotional ihr Publikum anzusprechen, um es von der Richtigkeit bzw. Falschheit der vorgeführten Verhaltensweisen zu überzeugen.

Zunächst zeichnet Gertiser das politisch-moralische Klima nach, in welchem die Filme entstanden sind. Sie verweist auf die zeitgenössischen Debatten zu Gesundheitspolitik und Geschlechtskrankheiten und beleuchtet die ambivalente Rolle des Mediums Film, das zwischen Aufklärungsinstrument und ‚Schund’ seine Berechtigung suchte. Während Gertiser sich hierbei auf die umfangreiche Literatur zur Weimarer Republik stützen kann, kommt ihr eigenständiger wissenschaftlicher Beitrag in den folgenden Analysen von 13 ausgewählten Filmen zum Tragen. Die Filmauswahl basiert auf gestaltungs- bzw. gattungsspezifischen Überlegungen, wobei die gestalterische Variationsbreite der Filme von Trickanimationen über mikroskopische Aufnahmen von Krankheitserregern bis hin zu Filmen mit fiktionalen Rahmenhandlungen reichte. In Bezug auf die Gattung berücksichtigt Gertiser zum einen dokumentarische oder Lehrfilme, bei denen der Schwerpunkt auf der Vermittlung medizinischen Wissens lag. Zum anderen nimmt sie (teil-)fiktionale Filme, die das didaktische Instrumentarium in die Rahmenhandlung verlagern, in den Fokus. Diese pragmatische, aber, wie auch Gertiser zu bedenken gibt, keineswegs unproblematische Einteilung dient ihr als strukturierendes Element, entlang dessen sie die Analysen anordnet.

Im Anschluss an Arbeiten der Kulturwissenschaftlerin Lisa Cartwright und des Medienwissenschaftlers Ramón Reichert weist Gertiser auf die Verschränkung medizinischer Praktiken und bildgebender Verfahren in Aufklärungsfilmen hin.1 Die Visualisierung medizinischer Befunde schreibt sich zweifach in die filmischen Bilder ein: Erstens im Sinne der Registrierung und zweitens im Sinne der Dokumentation und Katalogisierung von medizinischen Daten. Mittels Gross- und Detailaufnahmen wird der geschlechtskranke Körper vermessen, seziert und fragmentiert. So generieren die Filme zum einen den Anspruch des Faktischen. Zum anderen besteht die Leistung der Filme darin, anhand von Bildern von Symptomen, beispielsweise Vernarbungen, die nicht notwendigerweise auf eine Geschlechtskrankheit schliessen lassen, ein Diagnoseverfahren vorzugeben und nosologische Konfigurationen zusammenführen. Gertiser notiert: „Erst im Kontext der Visualisierung werden die medizinischen Befunde als Entitäten für die Zuschauer erfassbar.“ (S. 103)

Besonders gewinnbringend lesen sich die Abschnitte, in denen Gertiser eine Analyse von semi-fiktionalen Filmen vornimmt. Sie kombiniert hier emotionswissenschaftliche Ansätze mit Filmanalyse. Im Gegensatz zu medizinischen Lehrfilmen war in den (semi-)fiktionalen Filmen die Präsentation der Krankheitsbilder durch die Rahmenhandlung motiviert. Das Publikum sah in diesen Filmen durch die Augen der Protagonisten und Protagonistinnen und war dadurch „indirekter, jedoch emotional stärker in das vorgeführte Geschehen auf der Leinwand“ (S. 129) eingebunden. Ekel und Scham fungierten in diesen Filmen als zentrale Überzeugungsstrategien, um das Publikum von der Richtigkeit der moralischen Prämissen zu überzeugen. „Nässende Papeln und wuchernde Geschwulste provozieren – über die blosse Informationsvermittlung hinaus – psychophysiologische ‚Antworten’, d. h. negative Empfindungen, beim Publikum.“ (S. 201) Die filmische Einschreibung des Ekels gab dem Publikum eine bestimmte Lesart vor, die Missinterpretationen minimieren sollte. Die erzieherischen Gebote, so Gertiser, waren eindeutig: Kein vor- oder ausserehelicher Geschlechtsverkehr und bei Verdacht auf Ansteckung einen Spezialisten aufsuchen. Ähnlich verhielt es sich mit Scham. Durch die Sichtbarmachung der körperlichen Defekte sprachen Filme auch das eigene Schamgefühl an. Für Gertiser ergibt sich bei der Anrufung des Schamgefühls eine gewisse Doppelzüngigkeit. Ziel der Filme war es, zeitgenössischer „falscher Scham“ mit wissenschaftlicher Faktizität entgegenzuwirken. Jedoch operierten Filme wie „Le Baiser Qui Tue“ (Regie: Jean Choux, Frankreich 1928) wiederum explizit mit biblischen Ikonographien. Gertiser schlussfolgert, dass das erklärte Ziel der Aufklärungskampagnen, Geschlechtskrankheiten von ihrer religiös-moralischen Stigmatisierung zu befreien, nicht erreicht wurde.

Die in den Einzelanalysen offengebliebene, methodisch nicht unproblematische Frage, ob und welchen Einfluss die Filme auf das Publikum ausübten, greift Gertiser als Ausblick in den Schlussbemerkungen auf. Zum einen meint sie den Erfolg eines Filmes an dem Zulauf an Patienten und Patientinnen in Polikliniken im unmittelbaren Zeitraum während und nach den Filmvorführungen messen zu können. Dabei übersieht sie allerdings die sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen, etwa Gesetzgebungen und exekutive Praktiken, die ebenfalls Einfluss hatten auf die persönliche Entscheidung, sich einer Behandlung zu unterziehen, wie die Studien von Lutz Sauerteig gezeigt haben.2 Gertiser sieht Filmankündigungen in der zeitgenössischen Presse als eine zweite Möglichkeit, wie die Filmanalyse um die Rezeption erweitert werden könnte. Sie stellt aber zugleich die berechtigte Frage, „ob die breite Zustimmung von renommierter Seite die Leute bewog, ins Kino zu gehen, und so dem Film zu einem Erfolg verhalf“ (S. 264)? Gertiser lässt schlussendlich die Auswertung von Filmankündigungen weitgehend unberücksichtigt ebenso wie andere relevante Quellen, darunter Filmbesprechungen und Zensurbescheide. Vor allem letztere lassen, wie Annette Kuhn in ihrem Standardwerk gezeigt hat, weitreichende Rückschlüsse über die Verhandlungen von Moral und Unmoral, politische und sozialhygienische Interessenskonflikte sowie Zensurpraktiken und damit im Zusammenhang stehende zeitgenössische Schamgrenzen zu.3

Trotz der gelungenen und innovativen Filmanalysen bleibt nach der Lektüre ein Wermutstropfen. Zwar wurde die im Jahr 2009 angenommene Dissertation, wie Gertiser eingangs erwähnt, zur Publikation überarbeitet und um das Kapitel „Perzeption und Emotion” ergänzt. Dennoch bleibt die Diskussion zur Geschichte des Aufklärungsfilms auf dem damaligen Forschungsstand stehen. Als Konsequenz werden jüngere Beiträge, etwa Anja Laukötters filmhistorische Publikationen zu Empathie und Emotion in Gesundheitsfilmen4, das einschlägige Themenheft der medizinhistorischen Zeitschrift Gesnerus5 oder auch Kirsten Osterherrs Monographie zur Verschränkung von medizinischem Wissen und audiovisuellen Repräsentationsformen6, nicht berücksichtigt. Daraus ergibt sich, dass der historische Kontext unterbelichtet bleibt, obwohl der turbulente und ereignisreiche Zeitraum, den die Studie untersucht, auch die Filmwirtschaft nicht unberührt liess. Die historisch interessierten Leser und Leserinnen lässt die ansonsten sehr gelungene Studie leider mit offenen Fragen zurück oder stellt diese erst gar nicht. So ist das Buch vor allem einer Leser- und Leserinnenschaft ans Herz zu legen, die an konzisen, detailreichen und sorgfältig durchgeführten Filmanalysen interessiert ist, die teilweise überraschende und jederzeit bemerkenswerte Einsichten bieten.

Anmerkungen:
1 Lisa Cartwright, Screening the Body. Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis 1997; Ramón Reichert, Im Kino der Humanwissenschaften: Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, Bielefeld 2007.
2 Lutz Sauerteig, Krankheit, Sexualität, Gesellschaft: Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999.
3 Annette Kuhn, Cinema, Censorship and Sexuality, 1909–1925, London 1988.
4 Bspw. Anja Laukötter, (Film-)Bilder und medizinische Aufklärung im beginnenden 20. Jahrhundert. Evidenz und Emotionen, in: K. Friedrich / S. Stollfuß (Hrsg.), Blickwechsel. Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur, Marburg 2011, S. 24–38.
5 Iris Ritzmann / Hans-Konrad Schmutz / Eberhard Wolff (Hrsg.), Moving Images. Film in Medicine and Science – Science and Medicine in Film“, in: Gesnerus: Swiss Journal of the History of Medicine and the Sciences 66, 1 (2009).
6 Kirsten Osterherr, Medical Visions: Producing the Patient Through Film, Television and Imaging Technologies, Oxford 2013.