J. Kiepe: Für die Revolution auf die Schulbank

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Titel
Für die Revolution auf die Schulbank. Eine alltagsgeschichtliche Studie über die SED-Funktionärsausbildung in Thüringen


Autor(en)
Kiepe, Jan
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 101
Erschienen
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Rau, Institut für Zeitgeschichte, Berlin

Wer sich schon einmal mit Biographien von SED-Funktionären beschäftigt hat, wird den zahllosen Hinweisen auf Parteischulbesuche in ihren Kaderakten kaum Aufmerksamkeit geschenkt haben. Warum auch? Dass angehende Funktionäre dort das ideologische Rüstzeug erhielten, um im Funktionärsalltag im Sinne der Staatspartei zu bestehen, ist bekannt. Für manche mag der Gang zur Schulbank eine lästige Pflichtübung gewesen sein, für andere eine Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und Netzwerke aufzubauen. Auch dies ist bekannt. Die Dissertationsschrift von Jan Kiepe zeigt dagegen, dass es sich dennoch lohnt, einen Blick hinter die Mauern der „roten Klöster“ zu werfen. Die Stärke dieser Arbeit ist, dass der Autor die Funktionärsschulen als Echolote dafür begreift, wie Schulungsakteure (Kursant/innen und Lehrer/innen) vorgegebene Rollenerwartungen auffassten. Er knüpft damit an den in der DDR-Forschung etablierten Ansatz Alf Lüdtkes „Herrschaft als soziale Praxis“ an.

Der Autor geht dabei vom Selbstverständnis der SED als fortschrittliche Bewegung aus und möchte untersuchen, inwiefern die Parteischulen ihrer Funktion gerecht wurden, die Bewegung im staatssozialistischen System aufrechtzuerhalten und wie sie ihre Schüler/innen bzw. Kursant/innen diesbezüglich zu angehenden Funktionär/innen erzogen. Kiepe verspricht, eine alltagsgeschichtliche Studie vorzulegen, was – wie im Verlauf der Einleitung deutlich wird – allerdings nur bedingt zutrifft. Denn er schildert zwar „Episoden aus dem Schulungsalltag“ (S. 22). Es geht ihm aber nicht darum, die Eigenlogik und Strukturen der Funktionärsausbildung an sich zu untersuchen, sondern er greift sich bestimmte Situationen heraus, um „Metamorphosen des Bewegungsverständnis[ses]“ (S. 11) nachzuvollziehen. Auch die Einteilung der Kapitel zeigt, dass sich Kiepe an übergreifenden Zäsuren orientiert, die ihm für die Entwicklung des Bewegungs-Verständnisses zentral erscheinen. Das sind der Wandel der SED in eine Kaderpartei (Kapitel IV), der „Neue Kurs“ (Kapitel V) und der Siebenjahresplan (Kapitel VI), was allerdings leider nicht im Inhaltsverzeichnis durch Nennung von Jahreszahlen ersichtlich ist, sondern erst beim Lesen deutlich wird. Alltagsgeschichte im engeren Sinne kann die Arbeit auch deshalb nur bedingt sein, da der Autor ausschließlich Quellen aus staatlichen Provenienzen heranzieht, aber keine genuinen Alltagszeugnisse der Akteure. Individuelle Wahrnehmungen werden in seinen Quellen nur vermittelt wiedergegeben. Das hat zur Folge, dass viele Urteile Kiepes über die Motive Einzelner im Ungefähren und Spekulativen bleiben. Zudem erfährt man über die biographischen Hintergründe der Akteure kaum etwas.

Räumlich beschränkt sich die Studie auf verschiedene Kreispartei-, Bezirkspartei- und Sonderschulen (letztere existierten nur von 1959 bis 1964) in Thüringen bzw. den Bezirken Gera, Erfurt und Suhl, wo die Funktionärsausbildung innerhalb der organisierten Arbeiterschaft auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, wo aber auch die Nationalsozialisten schon früh Regierungsverantwortung übernommen hatten. Den Endpunkt seines Untersuchungszeitraums setzt Kiepe Mitte der 1960er-Jahre, als die SED die 1959 gegründeten Sonderparteischulen, die neben dem Primat der Politik auch das Primat der Ökonomie in der Parteischulung verankern sollten, wieder auflöste.

Im ersten Kapitel skizziert Kiepe die Entwicklung des Verständnisses vom „lebendigen Organismus“ in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die sich anschließenden chronologisch und sachthematisch strukturierten Kapitel mit den Überschriften „Aufbruch“ (1945–1947), „Herausforderung“ (1948–1953), „Umbruch“ (1954–1959) und „Rückzug“ (1960–1965) schildern die häufig konfliktträchtigen Beziehungen zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen sowie Kursant/innen untereinander. Dabei gelingt es Kiepe, die bisherige Ansicht zu widerlegen, dass Parteischulbesuche lediglich lästige Pflichtübungen waren. Deutlich zeigt der Autor, mit welchen Problemen die Akteure zu hadern hatten. Schüler/innen waren besonders in der SBZ/frühen DDR nur schwer an die stundenlange geistige Arbeit und strikte Lerndisziplin zu gewöhnen, die SED-Führung stellte Lehrer/innen zudem immer wieder vor unverhoffte Kurswechsel, auf die letztgenannte reagieren mussten. Über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg zentral war vor allem die Frage, inwiefern den Schüler/innen Mitsprachemöglichkeiten zugestanden werden sollten. In ihrem Bestreben, die Idee der Bewegung aufrechtzuerhalten, scheiterten Lehrer/innen aber häufig an der Herrschaftsrealität, den Bedürfnissen und Erwartungen der Schüler/innen (die vielmehr lernten, mit zwei Zungen zu sprechen) und zuweilen an sich selbst.

Allerdings wird in den einzelnen Unterkapiteln nicht unbedingt deutlich, wie sich das Bewegungs-Verständnis nun konkret wandelte, wohl auch weil die Quellen hierzu kaum Auskunft geben. Dass die Vorstellung vom „lebendigen Organismus“ aber zunehmend eher als „Hemmschuh denn als Schubkraft für Veränderungen“ (S. 369) wirkte, belegt Kiepe überzeugend. Das ist aber keineswegs überraschend. Ein Grundelement des Bewegungs-Verständnisses war die Auseinandersetzung mit Widersprüchen. In der DDR gab es diese aber offiziell nicht mehr. Wenig überraschend ist vor diesem Hintergrund auch der Befund, dass Anfang der 1960er-Jahre die Fortschrittsgläubigkeit rapide abnahm. Im Grunde bestätigt der Autor damit das bekannte Narrativ von der Transformation der SED in eine Kader- und Staatspartei, ergänzt es aber durch den Blick auf eine zentrale Institution, in der sich der konfliktträchtige Ablauf dieser Entwicklung widerspiegelt. Überzeugen kann die Studie vor allem im Detail, etwa wenn Kiepe beschreibt, wie Kursant/innen lernten, bestimmte Anforderungen wie das stundenlange Aneignen von Wissen im Selbststudium auf Distanz zu halten und andere Akteure gegeneinander auszuspielen.

Ein großes Manko der Arbeit ist aber, dass es der Darstellung insgesamt an Kohärenz und Stringenz mangelt. Das liegt nicht nur an dem zu engen Fokus auf den nicht gänzlich überzeugend dargestellten Wandel des Bewegungs-Verständnisses. Die Großkapitel versammeln eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen zu bestimmten Episoden aus dem Schulungsalltag, ohne dass deutlich wird, warum gerade diese für einen bestimmten Zeitabschnitt repräsentativ sind. Das Kapitel „Aufbruch“, das die Zeit von 1945 bis 1947 in den Blick nimmt, zuweilen aber auch Episoden aus den frühen 1950er-Jahren schildert, widmet sich etwa unter anderem der Praxis des Selbststudiums und der Pausengestaltung; spätere Kapitel thematisieren diese Elemente des Schulungsalltags nicht mehr. Reflexionen darüber, nach welchen Kriterien die Episoden ausgewählt wurden, vermisst man in diesem Buch. War beispielsweise das Selbststudium in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht mehr wichtig, oder ist die Quellenlage für diese Zeit unbefriedigend? Kurze Zusammenfassungen am Ende der Kapitel wären zudem hilfreich gewesen, um die Einzelbefunde aus den Fallstudien zusammenzuführen. Der Leser wird damit bis zum Schlusskapitel alleingelassen. Ein weiteres Problem ist, dass vielen Unterkapiteln verschiedene theoretische Zugänge vorangestellt sind, um einzelne historische Phänomene begrifflich fassen zu können. Das wirkt an vielen Stellen allerdings etwas stark konstruiert, zumal das Erklärungspotential für die Fragestellung nicht unbedingt deutlich wird. Das Operieren mit zu vielen theoretischen Ansätzen verwirrt den Leser und schmälert die Thesenbildung. Auch gerät damit die eigentliche Fragestellung etwas aus dem Blick.

Zu erwähnen ist schließlich auch, dass die zahlreichen Grammatik- und Tippfehler auf ein nachlässiges oder nicht vorhandenes Lektorat schließen lassen, was den Lesefluss deutlich hemmt. Hinzu kommt eine wenig leserfreundliche sprachliche Gestaltung mit vielen redundanten und oft zu allgemein gehaltenen Formulierungen.

Trotz dieser Einwände kann die Studie im Gesamten für sich beanspruchen, einen wichtigen Beitrag zur immer noch erhebliche Lücken aufweisenden Geschichte der SED und ihrer Funktionäre auf den unteren Rängen geleistet zu haben. Nicht nur die gesellschaftliche Realität stellte diese vor konfliktreiche Herausforderungen, auch die ideologischen Vorgaben und die an sie herangetragenen Rollenerwartungen. Auch wenn der Fokus auf das Bewegungs-Verständnis der SED nur bedingt überzeugt, reißt Jan Kiepe viele Einzelthemen an, zeigt die Facettenhaftigkeit des Schulungsalltages und gibt damit zukünftigen Arbeiten eine wichtige Grundlage, um an einzelnen Aspekten weiter zu forschen.