Die deutsche Reformpädagogik und der Missbrauchsskandal

: Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal. Die Geschichte der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime 1947–2012. Bad Heilbrunn 2015 : Julius Klinkhardt Verlag, ISBN 978-3-7815-2067-7 703 S. € 49,90

: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die »Karriere« des Gerold Becker. Weinheim 2016 : Beltz Juventa, ISBN 978-3-7799-3345-8 608 S. € 58,00

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Britta L. Behm, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin / Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, Berlin

Das Jahr 2010 kann in Deutschland1 inzwischen als „eine Art Wende“ in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten gelten.2 Eine Realisierung der Verbrechen und der Existenz(möglichkeit) systemischer Risikokonstellationen begann im Januar 2010 mit der Selbst-Anzeige von körperlicher wie sexueller Gewalt in den 1970er- und 1980er-Jahren im katholischen Berliner Canisius-Kolleg. Ab März gerieten dann nicht mehr nur konfessionell regulierte Organisationen in den Fokus, sondern mit der medialen Wahrnehmung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule – besonders unter der Leitung Gerold Beckers zwischen 1972 und 1985 – auch das bisherige Flaggschiff der reformpädagogischen deutschen Landerziehungsheime (im Folgenden: LEH).

Die Studien von Jens Brachmann und Jürgen Oelkers stellen zwei der inzwischen erschienenen historiographischen Bearbeitungen des Themas ‚Missbrauch‘ in pädagogischen Settings dar. Die Bildungshistoriker greifen unterschiedlich auf das Thema zu: Brachmann legt eine „Institutionengeschichte“ des 1947 gegründeten Dachverbands deutscher LEH vor (Brachmann, S. 19), Oelkers die Biographie eines der Haupttäter.3 Eingefasst sind beide Versuche historiographischer Aufarbeitung allerdings durch eine weitere Zielrichtung: den Anspruch, am jeweiligen Gegenstand eine Neudeutung ‚der‘ deutschen Reformpädagogik nach dem jüngst realisierten Wissen um den vielfachen Missbrauch zu leisten. Brachmann flaggt das bereits im Titel aus. Es geht ihm um „Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal“. Oelkers überschreibt seine Studie zwar mit „Pädagogik, Elite, Missbrauch“, adressiert aber entlang der Biographie Gerold Beckers (1936–2010) durchgängig die Reformpädagogik, zumal er leitend die These verfolgt, dass der „Fall Gerold Becker auch ein Fall Hartmut von Hentig“ sei (Oelkers, S. 14), ohne dessen Protektion und ohne dessen einen rhetorischen „Schutzwall“ bietende reformpädagogische Programmatik Becker nicht hätte agieren können (ebd., S. 18). Oelkers setzt damit in radikalisierter Weise eine Lesart fort, die spätestens seit seiner zuerst 1989 publizierten „Dogmengeschichte“ der Reformpädagogik die bis dato (und teilweise bis 2010) dominant positive (Selbst-)Erzählung vieler deutscher Bildungshistoriker/innen kontrastiert.4

Die gut 700 Seiten umfassende Arbeit Brachmanns wurde zwischen 2011 und 2015 im Auftrag der „Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime e.V.“ erstellt, welche sich 2012 in Reaktion auf den Missbrauchsskandal neu strukturiert und in „Die Internate Vereinigung e.V.“ umbenannt hat. Die Studie steht explizit im Kontext der „Organisationsentwicklung“ der Vereinigung: Die „kritische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit war […] eine Säule, um das Fundament des institutionellen Zusammenhalts zu stabilisieren“ und „den Fortbestand des reformpädagogischen Dachverbandes zu sichern“ (Brachmann 2015, S. 19; S. 419f.; vgl. zu den Zielen auch S. 18f., S. 392, S. 428). Angestrebt wurde dabei ein „verständnis- und ergebnisoffene[r] Zugriff“ (ebd., S. 357) mit einem laut Brachmann unbeschränkten Zugang zu umfangreichem, bislang nicht ausgewerteten Material des Archivs der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime und weiterer Archive der LEH (ebd., S. 19–21 und S. 258, Anm. 158).5 Darüber hinaus führte der Autor Interviews mit ehemaligen Vorstandsmitgliedern.6

Brachmanns Untersuchung umfasst neun Kapitel: neben der Vor- und Gründungsgeschichte des Verbands sowie Einzelportraits der 27 Mitgliedsschulen (Kap. 2; dazu ebd., S. 52f.) die biographisch orientierten Skizzen von Georg Picht sowie aller Vorstandsvorsitzenden, eines weiteren Vorstandsmitglieds und ihrer jeweiligen Tätigkeit im Dachverband bis 2010 (Kap. 3), einen systematischen Part zu „Themen und Debatten“ (Kap. 4) und eine „Chronik“ bis 2012 (Kap. 5). Den Abschluss bildet mit fast 200 Seiten die Edition ausgewählter, zumeist programmatischer und teilweise bis dahin unveröffentlichter Texte vor allem des Führungspersonals des Verbands (Kap. 9). Den Schwerpunkt der Untersuchung stellt mit gut einem Drittel des Gesamttexts das biographisch angelegte dritte Kapitel dar. Dabei liegt in der Deutung Hellmut Beckers, der annähernd 25 Jahre als Vorstandsvorsitzender amtierte (1969–1993) und bereits vorher für die Vereinigung juristisch und beratend tätig gewesen war, das eigentliche Zentrum der Studie und der Schlüssel zur Gesamtnarration.

Was Brachmann bei einer Selbstzueignung zu einer „verantwortliche[n] Geschichtsschreibung“ und einer durch die Empathie gegenüber den Opfern begründeten „engagierte[n] Perspektive“ vorlegt, ist eine Art Hybrid aus historisch-kritischer und programmatischer Darstellung, mit deutlich heterogenem historiographischen Ertrag (Zitate: ebd., S. 357, S. 497). Angesichts der bis dato kaum erforschten Geschichte der LEH nach 19457 und des privilegierten Quellenzugangs leistet er auf Basis eines immensen Arbeitspensums einen substantiellen Beitrag zu der von ihm anvisierten „bildungshistorische[n] Grundlagenforschung“ (ebd, S. 497). Das betrifft die Entwicklung der Verbandsgeschichte im engeren Sinne (führende Personen, Konzeptionen / Kontroversen, Entscheidungsstrukturen, Binnen- und Außenkommunikation, Strategien im Umgang mit dem Thema sexueller Missbrauch). Vor allem aber gelingt es Brachmann gerade über den biographischen Zugriff, ein weit in wissenschaftliche, politische, mediale wie wirtschaftliche Wissens- und Handlungsfelder der Bundesrepublik hineinreichendes Netzwerk von „führenden Vertretern des LEH-Milieus“ aufzuzeigen (ebd., S. 428). Er weist dabei auf (personal gebundene) Funktionslogiken dieses Netzwerkes hin, denen offenbar auch die Hinnahme von Missbrauchsverbrechen eingeschrieben war, die in der Studie unmissverständlich benannt werden. Zudem konkretisiert der Autor überzeugend den erheblichen Einfluss dieser Akteure auf die Formierung von Bildungsdiskursen und auf die Bildungspolitik der Bundesrepublik, besonders zwischen den späten 1950er- und den 1970er-Jahren (die Politik der Re-education wird kaum behandelt). Die von Brachmann primär auf Grundlage programmatischer Texte entwickelte und durchgängig transportierte These, dass die LEH die bildungspolitischen Reformen in den 1960er- und 1970er-Jahren maßgeblich vorbereitet hätten („Taktgeber bildungsreformerischer Dynamik“, „Odenwaldschule als dem Leuchtturm demokratischer Bildungsinnovation der Bonner Republik“), bleibt allerdings deutlich zu nah an der Selbstdarstellung der Akteure und wäre unter Einbeziehung der hier bereits vorliegenden Fachliteratur8 sowie anhand weiterer empirischer Studien zu prüfen (Zitate: ebd., S. 215, S. 186, vgl. zudem z.B. S. 23, S. 151, S. 448).

Irritationen stellen sich dort ein, wo sich der Verfasser zu eng an die Verbandsinteressen anlehnt. Die sieben, zum Abschluss der Studie hin mit offensichtlich hoher Identifikation des Autors gegebenen Empfehlungen für eine gelingende „Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt“ etwa beruhen nur teilweise auf der vorab geleisteten historiographischen Arbeit (S. 393–401; Zitat: S. 393), sind aber in Bezug auf das Aufgabenspektrum von Historikerinnen und Historikern im Kontext von Auftragsforschung diskutierbar.

Ambivalenter muss die Bewertung der Darstellung Hellmut Beckers ausfallen. Positiv hervorzuheben ist, dass Brachmann Beckers Bedeutung für die deutsche Bildungsgeschichte über ein bisher wenig beachtetes Handlungsfeld materialgesättigt unterlegen kann. Auch da strukturelle (und organisationstheoretische) Aspekte in der Arbeit fast völlig unberücksichtigt bleiben, ist die Schlüsselposition allerdings fraglich, die ihm Brachmann für die Geschichte des LEH Verbands zuspricht (vgl. etwa S. 23, S. 158f. od. S. 357f.). Zudem lagert sich offenbar gerade an dieser Stelle der Einfluss des Verbandsinteresses ein. So stilisiert und exemplifiziert Brachmann besonders an der Person und am Wirken Hellmut Beckers (dessen Verdienste für die Vereinigung durchgängig betont werden) zwei Typen des organisatorischen Selbstverständnisses, zwischen denen sich die Verbandsgeschichte seit 1947 bewegt habe („Werteverbund“ vs. „lediglich pragmatischer Interessenverbund“, ebd., S. 303, S. 389). Darin liegt zwar eine anregende historiographische Syntheseleistung, allerdings wird hierüber auch die Gesamtnarration weniger transparent, denn leitmotivisch gestaltet, die dann funktional in die erwähnten Empfehlungen münden kann – mit dem Rat des Autors, der Option des Werteverbundes künftig den Vorrang zu geben (ebd., S. 388f.; vgl. dazu auch S. 359). Darüber hinaus wird primär über die Deutung Beckers die Integration der Missbrauchs-Verbrechen in die Narration der Geschichte der LEH und der damit weitgehend gleichgesetzten Geschichte der jüngeren deutschen Reformpädagogik geleistet. Wenngleich Brachmann zwar auch von einer „Täterkultur“ spricht (ebd., S. 392), liegt der Akzent doch deutlich auf der These, dass besonders die durch Hellmut Becker etablierte autoritäre, „parahöfische“ Führungs- und „Partizipationskultur“ (ebd., S. 198)9 nicht nur jeden wirksamen Widerstand dagegen verhindert habe, dass er Gerold Becker jahrzehntelang massiv protegierte (womit sich Becker zum „Komplizen“ gemacht habe, ebd., S. 282). Auch lange nach dem Tod des „LEH-Patriarch[en]“ (ebd., S. 289) im Jahr 1993 sei die Vereinigung aufgrund dieser Vorprägung nicht in der Lage gewesen, gegenüber den Missbrauchsverbrechen organisatorisch wie pädagogisch verantwortungsvoll zu reagieren (vgl. ebd. bes. S. 164–234).10

Ist mit dieser Lesart für eine „Institutionengeschichte“ noch indirekt die produktive Frage nach dem Verhältnis von personenbezogenen und strukturell orientierten historiographischen Zugriffen aufgeworfen (besonders in Bezug auf die Bedeutung von Führungspersonal in Organisationen), so ist das teilweise verklärende Urteil Brachmanns über Hellmut Becker allenfalls erstaunlich. Etwa wenn er diesen als den – nach dessen Vater Carl Heinrich Becker – „zweiten großen deutschen Bildungspolitiker […] des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet (ebd., S. 233); offenbar ohne zum Beispiel von Friedrich Althoff Notiz genommen zu haben oder zumindest zu erläutern, wie sich ‚Größe‘ bildungspolitisch definiert und was derlei (in den biographischen Teilen öfters gegebenen) Beurteilungen jenseits von Identifikationsangeboten an historiographischem Erkenntnisgewinn produzieren.

Eine ähnliche, tendenzielle Engführung in der Wahrnehmung der Forschung11, aber auch des Quellenmaterials spiegelt sich in Brachmanns Lesart von Hellmut Becker als genuinem Nachfolger seines, im Kontext des George-Milieus interpretierten Vaters (v.a. S. 164–206). Dabei überliest der Autor in seiner ansonsten ausführlichen Lektüre der autobiographischen ‚Auskünfte‘, die Hellmut Becker in mehreren Interviews mit Frithjof Hager gibt, auch einen Widerspruch, der ihm hätte auffallen können und müssen. Denn Becker reklamiert neben Hinweisen auf George mehrfach den großen Einfluss von Max Horkheimer und, weniger ausgeprägt, von Theodor W. Adorno.12 Auch wenn der Selbstdarstellung Beckers durchaus mit Skepsis zu begegnen ist (was in der Studie nicht reflektiert wird), liefert Brachmann so einen um die Ansätze von kritischer Theorie quasi ‚halbiert‘ gedeuteten Becker und vergibt damit die Chance, diesem Widerspruch, der für eine Bildungsgeschichte der Bundesrepublik insgesamt relevant ist und der noch einer Interpretation (und gegebenenfalls Auflösung) bedarf, nachzugehen.

Dass es Brachmann allerdings – das ist einer der Hauptkritikpunkte – möglicherweise (auch) um die historiographische Prägung eines reformpädagogischen Narrativs geht, für das irritierende Forschungsliteratur teilweise ausgeblendet wird, indiziert zumindest der Umgang mit Hellmut Beckers Tätigkeit im Wilhelmstraßenprozess (1947–1949), als Verteidiger Ernst von Weizsäckers, des zeitweiligen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt (AA) während des „Dritten Reiches“. Hier kann es nicht ausreichen, auf die in jüngerer Zeit grundlegende Darstellung der Geschichte des Amtes von Eckart Conze et al. in einer Fußnote hinzuweisen, im Haupttext aber vorrangig Beckers Version des Prozesses zu übernehmen (vgl. ebd., S. 202ff. und S. 202, Anm. 105). Dieses Vorgehen kennt in der positivsten Lesart die intensive fachliche Diskussion nicht, die im Anschluss an Conzes (pointiertes) Diktum von der „verbrecherischen Organisation“ des AA geführt worden ist.13 Weniger freundlich formuliert wird hier einer nach 1945 konstruierten geschichtspolitischen Entlastungs-Legende (eines Amtes und einer weitverzweigten bundesrepublikanischen Elite) Raum gegeben und damit – ob bewusst oder nicht – auch der Deutung der jüngeren deutschen Reformpädagogik eingeschrieben.

Brachmann bleibt insofern zu eng der eigenen Positionierung in der Debatte um die Deutung von Reformpädagogik verhaftet, wobei die zurückhaltende Auseinandersetzung mit relevanter Fachliteratur schließlich auch den Ansatz der Studie schwächt: Brachmann will keine „klassische Institutionengeschichte“ schreiben (ebd., S. 23). Vielmehr beansprucht er durch die Kombination mit Ansätzen der Wissenschafts-, Institutionen-, Organisations- und Biographieforschung sowie der „Bildungsphilosophie und der Historischen Bildungsforschung“ einen „innovativen Ansatz“ (ebd., S. 357) und bezeichnet damit ein wichtiges Projekt. Allerdings bleibt die Auseinandersetzung mit den Profilen und dem theoretisch-methodologischen Diskussionsstand der hier beanspruchten Disziplinen und Zugriffe aus, wodurch letztlich unklar ist, was Brachmanns leitende theoretische Bezugspunkte und analytische Begriffe sind und in welche Geschichte(n) sich die vorgelegte Studie eigentlich einschreiben will.

Zu Brachmanns Arbeit fungiert Oelkers‘ gut 600 Seiten umfassende Biographie Gerold Beckers als Kontrastfolie. So zielt Oelkers von seinem historiographischen Zugriff her unverhohlen gerade auf die Destabilisierung biographischer Narrative, die eine bislang dominante, „unkritisch-normative Historiografie der deutschen Reformpädagogik“ seines Erachtens systematisch produziert (Oelkers, S. 484, vgl. auch S. 508). Da diese basal „auf [die] Glaubwürdigkeit“ der dargestellten Person angewiesen sei, sei sie auch „leicht zu erschüttern“ (ebd., S. 13). Im Vordergrund der Studie steht zwar die Biographie Gerold Beckers. Demontiert wird mit dem Nachvollzug dieses Lebens als Täterbiographie aber zugleich und wohl primär dessen vermutlicher Partner Hartmut von Hentig und damit einer der prominentesten Vertreter der deutschen Reformpädagogik nach 1945 (vgl. z.B. ebd., S. 14; S. 151; S. 212ff. oder S. 427ff.).

Zur Anlage der Studie in Kürze: Leitend fragt Oelkers nach der Ursache für die Karriere und die langjährige Anerkennung des Theologen Gerold Becker im pädagogisch-wissenschaftlichen und bildungspolitischen Feld sowie nach den Bedingungen dafür, dass dessen kriminelle Aktivitäten bis zu zwei Jahren vor seinem Tod nicht unterbunden wurden (vgl. ebd., v.a. S. 9, S. 13). Die Antwort wird in neun Kapiteln über die chronologische, überwiegend beschreibende Rekonstruktion des familiären Hintergrunds und die Lebens- wie beruflichen Stationen Beckers gesucht. Zudem ist den Biographien von Opfern Beckers ein eigener Teil gewidmet (Kap. 7), und es wird der Darstellung von weiteren „Pädokriminellen“ vor allem an der Odenwaldschule Raum gegeben (Kap. 6). Oelkers hatte offenbar keinen Zugang zu den Archiven der LEH oder des Dachverbands und stützt sich stattdessen wesentlich auf (zum Teil anonymisierte) Interviews, umfangreiche Recherchen in Melderegistern, Universitätsarchiven und ähnliches sowie auf die inzwischen in größerer Zahl veröffentlichten Berichte und Darstellungen von Opfern Beckers. Zudem berücksichtigt er die Schriften des als Reformpädagogen firmierenden Gerold Becker in breitem Umfang (vgl. ebd., S. 590ff.).

Im Unterschied zu Brachmann kann Oelkers besonders die bis dahin kaum bekannte Jugend-, Studien- und Vikariatszeit (Kap. 2) Beckers nachzeichnen, ebenso wie dessen Tätigkeit im Anschluss an seinen Rückzug von der Leitung der Odenwaldschule 1985, als „Schulentwickler aus Wiesbaden“ (Kap. 8). Weiterhin im Unklaren bleiben auch hier die Gründe für den Rückzug Beckers von der Schulleitung (vgl. Kap. 5). – Ähnlich wie bei Brachmann vermisst man bei Oelkers theoretisch-methodologische Anschlüsse, hier besonders zur Biographieforschung und zur Reflexion auf die Beziehung zwischen der auch in dieser Studie verfolgten Aufarbeitungsabsicht und der gewählten Methodik. Insofern wird es letztlich nicht ganz klar, was die Biographie Gerold Beckers jenseits der so grundlegenden wie begründeten Kritik an den aufgezeigten Unterstützungsstrukturen durch gleich mehrere elitäre Netzwerke und den Einblicken in Beckers Leben für eine historiographische Bearbeitung von Missbrauch wissenschaftlich anbietet. Besonders das zweite Kapitel gerät so zu einer teilweise enervierenden Aufzählung von Begebenheiten, bei der man sich fragt, welchen Aufschluss etwa fehlende Beziehungen zu Frauen in der Jugend oder abwesende Väter in der Familiengeschichte für das Verständnis der Entwicklung einer ‚pädokriminellen Karriere‘ haben (vgl. ebd. z.B. S. 60f. od. S. 24 u. S. 28).

Jenseits dieser Kritik ergibt Oelkers‘ Studie gerade im Vergleich mit Brachmanns Arbeit wertvolle Anregungen für künftige Untersuchungen. So gelangt Oelkers, ohne die Verbandsstudie rezipiert zu haben, vor allem in Bezug auf drei Aspekte zu deutlich anderen Ergebnissen: Er greift erstens die Einschätzung der reformpädagogischen LEH als Modellschulen grundlegend an, indem auch er zwar diese Ansprüche aus programmatischen Texten rekonstruiert, aber auf den fehlenden Nachweis von „Transfereffekte[n]“ in das Regelschulwesen hinweist und damit letztlich empirische Untersuchungen einfordert (ebd., S. 426). Zudem schildert er anhand der Biographien von Opfern und von Kindern/Jugendlichen, die der Odenwaldschule über Jungendämter vermittelt wurden, Fälle deutlichen, auch pädagogischen Versagens (vgl. ebd., Kap. 7). Während Brachmann Gerold Becker, zweitens, als einen, auf seinen Arbeitsstellen scheiternden „dubiosen Theologen“, „Blender“, „Organisationslaie[n] und Verwaltungsdesperado“ resümiert (Brachmann 2015, S. 262, S. 264 u. S. 295), der sich vor allem aufgrund der umfassenden Protektion durch Hellmut Becker gehalten habe (ebd., Kap. 3.7), erscheint er bei Oelkers als eine ambivalentere Person. Insbesondere die Heranziehung weiterer Quellen, etwa der diversen Vorträge und Veröffentlichungen Gerold Beckers nach seinem Rückzug von der Odenwaldschule, und die Rekonstruktion seiner Tätigkeit als Schulberater im Dienst des hessischen Kultusministeriums zeigen ihn als eine bis knapp vor seinem Tod im wissenschaftlichen wie im bildungspolitischen Feld nachgefragte und hoch geschätzte Persönlichkeit (vgl. Oelkers, Kap. 4 u. 5, bes. S. 428). Drittens scheint die bei Brachmann betonte zentrale Rolle Hellmut Beckers für den Werdegang des Namensvetters bei Oelkers zwar auf (z.B. ebd., S. 16). Aber sie wird zugunsten der Aufmerksamkeit für die Rolle von Hentigs und für die These von dessen zentraler Verantwortung zurückgestellt, was angesichts des bei Brachmann vorgestellten Materials nicht wirklich nachvollziehbar ist. Sinnvoll wäre eher die Kombination beider Ergebnisse.

Abschließend und in der Zusammenschau betrachtet, verbinden die Studien zwei Themen: die historiographische Bearbeitung von ‚Missbrauch‘ und die Deutung deutscher Reformpädagogik im Kontext (west-)deutscher Bildungsgeschichte. So unterschiedlich die Einschätzungen zum letztgenannten Thema sind, beide Autoren begegnen sich in einem gewissen affektiven Zugriff auf die deutsche Reformpädagogik und in der Adressierung eines zu eng gefassten bildungshistoriographischen Referenzrahmens. Damit sind die jeweils schwächsten Teile der Arbeiten verbunden. Gegebenenfalls hallt auch besonders beim Thema Reformpädagogik eines der lange Zeit zentralen Probleme von Bildungshistoriographie nach, die in der Erziehungswissenschaft institutionalisiert ist und spätestens seit den 1970er-Jahren mit geschichts- und sozialwissenschaftlichen Standards operiert.14 Die Autoren treffen sich dagegen produktiv und lesenswert in ihrem Hinweis auf die notwendige Neubewertung der Rolle reformpädagogischer LEH für die (bundes-)deutsche Bildungsgeschichte und markieren Forschungsdesiderata. Dazu gehört die weitere Deutung der Person Hellmut Beckers, die Erforschung der Erziehung (und Reproduktion) von ‚Eliten‘ in Westdeutschland (vergleichend zur Geschichte der staatlich organisierten schulischen ‚Massenerziehung‘) und in theoretisch-methodologischer Hinsicht besonders die Präzisierung der Konzeption einer „Institutionengeschichte“15 bei der derzeit oft noch kaum zwischen „Institution“ oder „Organisation“ unterschieden wird und die eines ihrer Zentren in der Frage der Konzeption des Verhältnisses von Akteur und Struktur hätte.

Im Hinblick auf den zweiten gemeinsamen Themenbereich setzen beide Arbeiten, besonders aber die Studie von Brachmann, die Reflexion der Leistungen und Grenzen historiographischer ‚Aufarbeitung‘ von Missbrauch auf die Agenda. Anders formuliert: Wie hier die Rolle von Historikerinnen und Historikern zu definieren ist (zumal im Fall von Auftragsforschung) und wie sich das Thema historisieren lässt, ist bislang erst ansatzweise diskutiert.16 Die zeitliche Konstanz, internationale Dimension und Häufigkeit der ‚aufgedeckten‘ Fälle deutet jedenfalls auf (sexuelle) Gewalt (auch) in pädagogischen Kontexten und Organisationen als Phänomen moderner Gesellschaften hin, das noch wenig verstanden, geschweige denn historisiert ist. Die beiden hier besprochenen Studien leisten für die Bearbeitung dieser Aufgabe jeweils wertvolle Beiträge und seien – auch unter diesem Aspekt und eingedenk der Kritikpunkte – zur Lektüre empfohlen.

Anmerkungen:
1 Nicht berücksichtigt ist hier die internationale Dimension, die eine teilweise deutlich früher beginnende öffentliche Problemwahrnehmung zeigt, in den USA beispielsweise schon in den 1980er-Jahren (siehe dazu besonders den Fall von Missbrauch im Bistum Lafayette/Louisiana, um den 1983 die Diskussion begann, die dann über mehrere Schritte bis hin zu dem 1992 publizierten öffentlichkeitswirksamen Report von Berry führte; vgl. Jason Berry, Lead Us Not Into Temptation: Catholic Priests and the Sexual Abuse of Children, New York 1992).
2 Sabine Andresen, Geleitwort, in: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.), Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten. Forschung zu Prävention und Schutzkonzepten, Berlin 2016, S. 5f.; hier S. 5. – Im Folgenden wird von sexueller Gewalt oder von sexuellem Missbrauch gesprochen, obwohl die Begriffe nicht synonym sind; feministische und an sie anschließende Ansätze legen mit dem Gebrauch der Begriffe sexuelle oder sexualisierte Gewalt anstelle von Missbrauch den Akzent auf das Motiv der Machtausübung.
3 Vgl. vor allem: Zwischenbericht über die Tätigkeit von Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller, Wiesbaden und Präsidentin des OLG Frankfurt am Main a.D. Brigitte Tilmann, Darmstadt vom 28.05.2010. Aufklärung der sexuellen Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010, <http://www.odenwaldschule.de/fileadmin/user_upload/user_upload/service/verantwortung/zwischenbericht_28_05_10.pdf> (13.9.2016); bes. S. 3.
4 Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4., vollständig bearbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim 2005 (1. Auflage: 1989).
5 Die Personalakten der Odenwaldschule waren noch nicht erschlossen. Vgl. Brachmann 2015, S. 283.
6 Zentrale Interviewpartner waren Johann Peter Vogel, Wolfgang Harder und Rolf Mantler; Harder war zwischen 1985 und 1999 zudem Leiter der Odenwaldschule.
7 Ein aktueller Bericht zum Forschungsstand steht aus und wird auch von Brachmann nicht erarbeitet. Vgl. demnächst den Übersichtsartikel von Joachim Scholz, Landerziehungsheime – Hermann Lietz und die Folgen, in: T.-S. Idel / H. Ullrich (Hrsg.), Handbuch Reformpädagogik, Weinheim 2017.
8 Einen Zugang zu entsprechenden Studien bietet z.B. Hans-Ulrich Grunder, Schulreform und Reformschule, Bad Heilbrunn 2015.
9 Die Attributierung als „parahöfisch“ übernimmt Brachmann aus einem Interview mit Rolf Mantler. Vgl. Brachmann, S. 198.
10 Eines ausführlicheren Nachvollzugs bedürften die Hinweise Brachmanns auf das vom Vater (Carl Heinrich Becker) auf den Sohn ‚übergegangene‘ Thema einer, anachronistisch gesprochen, schwulen (Sub-)Kultur. Der Autor formuliert hier allerdings teilweise andeutungshaft und kryptisch, etwa wenn er vom „diskrete[n] Nachleben Stefan Georges“ spricht (vgl. Brachmann, bes. S. 164–206; Zitat: S. 183). Auch da Schwulsein nichts über eine, etwa bei Gerold Becker vorhandene, päderastische Neigung aussagt, bleibt der für diesen Kontext gegebenenfalls zentrale Themenkomplex einer Geschichte von Körpern, Sexualität, Emotionen beziehungsweise ihren gesellschaftlichen Konstruktionen (inklusive der Tabuisierungen) bei Brachmann – wie auch bei Oelkers – letztlich noch unbearbeitet.
11 Brachmann bezieht sich für diese Deutung vor allem auf Ulrich Raulffs Studie zu Georges „Nachleben“, während er etwa die Interpretationen, die Clemens Albrecht et al. liefern, unberücksichtigt lässt, in denen dem Einfluss der Wissenschaftler im Umfeld der sogenannten ‚Frankfurter Schule‘ auf die Geschichte der Bundesrepublik hohe Wirkmächtigkeit zugesprochen wird. Vgl. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. Mit einem Vorwort zur Taschenbuchausgabe. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. München 2012 (1. Auflage 2009) sowie Clemens Albrecht / Günter C. Behrmann / Michael Bock / Harald Homann / Friedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999.
12 Hellmut Becker / Frithjof Hager, Aufklärung als Beruf. Gespräche über Bildung und Politik, München 1992. Vgl. Hinweise auf Horkheimer und Adorno z.B. ebd., S. 75, S. 154f. od. S. 235f.
13 Vgl. Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, bes. S. 375–439. – Zu den anschließenden Kontroversen siehe z.B. Christian Mentel / Martin Sabrow, Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit, in: Dies. (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Frankfurt am Main 2014, S. 9–46.
14 Vgl. zur (produktiven) Entwicklung der Bildungshistoriographie, die zunehmend auch auf internationaler Ebene formiert wird, zum Beispiel – mit Hinweis auf weitere Autorinnen und Autoren – die metahistoriographischen Reflexionen von Fuchs oder McCulloch: Eckhardt Fuchs, Transnational Perspectives in Historical Educational Research, in: Ders. (Hrsg.): Transnationalizing the History of Education, Comparativ 22 (2012) 1, S. 7–14; Gary McCulloch, The changing Rationales of the History of Education: History, education and social science, in: J.E. Larsen (Hrsg.), Knowledge, Politics and the History of Education, Berlin 2012, S. 25–38.
15 Perspektivisch ginge es um eine Klärung historiographischer analytischer Begriffe in Auseinandersetzung mit organisationstheoretischen Angeboten, vor allem aus der Soziologie, aber auch der Politik- und Wirtschaftswissenschaft. – Vgl. zur Sichtung aktueller organisationsbezogener historiographischer Forschungsprojekte den Tagungsbericht: Julia Reus / Christopher Kirchberg, Ein „Trend“ ohne „Turn“? Neue Perspektiven auf die Organisationsgeschichte, in: H-Soz-Kult, 11.12.2015, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6280> (13.9.2016).
16 Siehe dazu die aktuelle Juli-Nummer der History of Education 45 (2016), 4; Special Issue: Marginalized children – methodological and ethical issues in the history of education and childhood.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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