B. Barth: Europa nach dem Großen Krieg

Cover
Titel
Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938


Autor(en)
Barth, Boris
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gunther Mai, Universität Erfurt

Der Titel ist Programm: Das Buch will keine Gesamtdarstellung der Zwischenkriegszeit sein, sondern konzentriert sich auf die „Krise der Demokratie“ im Gefolge des Ersten Weltkrieges, nicht auf die Praxis der Diktaturen an der Macht (S. 21). In sieben großen Kapiteln behandelt Barth sein Thema. Nach der Hinführung zum Thema aus der Vorgeschichte bis 1914/18 folgen Untersuchungen zu der Pariser Weltordnung, der paramilitärischen Gewalt und den Kriegen nach dem Krieg, den Ethnisierungen und Vertreibungen, der „unzulänglichen“ ökonomischen Rekonstruktion, dem Kampf um die Staatsform und schließlich der Offensive gegen den Parlamentarismus. Diese Gliederung orientiert sich an systematischen Fragestellungen, die gleichwohl einer chronologischen Abfolge entsprechen: vom Friedensschluss 1918/19 bis zur Herausforderung durch rechtsradikale, nationalrevolutionäre bzw. faschistische Bewegungen. Alle Kapitel sind vergleichend angelegt, mit einem erfreulich breiten Akzent auf den osteuropäischen Ländern. Die Tschechoslowakei wird immer wieder als Beispiel einer gelungenen Staatsneubildung herangezogen, während die vermeintlich „unproblematischeren“ Staaten in Skandinavien, die Benelux-Staaten oder die Schweiz randständig bleiben, obwohl diese Länder gute Beispiele dafür sind, dass auch in länger etablierten und im Kriege neutralen Staaten die gleichen Konfliktmuster zu beobachten waren, die aber nicht zu autoritären Lösungen führten. Die einzelnen Kapitel sind differenziert und belesen, vor allem auch gut lesbar, und jeweils mit einem (allerdings sehr knappen) Fazit versehen.

Einleitend sieht Barth im 19. Jahrhundert einen „langfristigen Trend hin zu parlamentarischen Regierungsformen“, zur Organisation von Interessen in politischen Parteien und zur institutionellen Beherrschung sozialer Verteilungskämpfe (S. 10–13). Er benennt idealtypisch vier Entstehungsformen von Demokratien: die Siedlergesellschaften in den USA und die Schweiz als Sonderfälle, dazu das britische evolutionäre Modell der Parlamentarisierung (mit Abstrichen auch in den Niederlanden), das „immer breiteren Bevölkerungsschichten die aktive und passive Teilnahme am politischen Leben“ ermöglichte, sowie das 1789, 1830 und 1848 revolutionär etablierte System in Frankreich. Doch gehört zur Demokratie mehr als eine parlamentarische Regierungsform, ob als Monarchie oder Republik, eine gewaltenteilende Verfassung und ein allgemeines Wahlrecht. Dazu gehören auch „zivilgesellschaftliche Normen, ohne die Demokratien Belastungsproben nur schwer überstehen können“ (S. 38), doch werden diese im weiteren Verlauf kaum thematisiert. Mehrheitsprinzip, Schutz der Minderheiten oder Akzeptanz einer Opposition – diese Prinzipien wurden in der Regel zwar von der gemäßigten Linken respektiert, aber zumeist nicht von der Rechten. Zwar dominierte auch bei den Sozialdemokraten das Denken in Kategorien von „Klassengesellschaft“ und „Klassenkampf“ (ohne diese Kategorien kann man die Zeit nicht verstehen!), bei der Rechten prägte es jedoch das Handeln: durch konterrevolutionäre, paramilitärisch organisierte Gewalt, durch die Aushebelung von Bürgerrechten in Verwaltung und Justiz, durch Kulturkampf gegen Avantgarde und Modernismus, gegen Frauenemanzipation und Bildungsreform. In letzteren Punkten trifft die Rede von der „Demokratie ohne Demokraten“ (so abgegriffen die Formel sein mag) auch für die männlichen Angehörigen der gemäßigten, an sich staatstragenden Linken zu, wie Erich Fromm um 1930 demonstriert hat. Scheiterte also die Demokratie oder „nur“ der halbherzige Versuch, sie überhaupt erst einmal zu etablieren und zu erproben?

Barth beschreibt insgesamt anschaulich und überzeugend (unter Bezug auf Lutz Raphael und den „totalen“ Nationalismus, S. 65–67), wie sehr allein die Folgen des Weltkrieges die Voraussetzungen für Demokratie zunichtemachten. Das vielleicht prägendste Ergebnis war der sich radikalisierende Nationalismus, der weit über den Vorkriegs-Nationalismus hinausging, indem er sich endgültig „ethnisierte“ (vgl. Kap. 4). Jedoch, das kommt zu kurz, war es weniger das Prinzip des Nationalstaats als vielmehr der Wille zum ethnisch reinen Nationalstaat, der diese Radikalität begründete. Dieser „integrale“ Nationalismus war per se anti-demokratisch: weil er zum einen die Minderheiten ausschloss (bis zur Vertreibung) und weil er zum anderen das Recht der Nation auf Freiheit (Souveränität) über das Recht auf Freiheit des einzelnen Nationszugehörigen stellte. Das Lebensrecht der Nation konnte nicht an Mehrheitsentscheidungen gebunden werden, nicht an die kurzsichtigen Konsumwünsche der Unterschichten, nicht an Interventionsrechte z.B. des Völkerbundes (Minderheitenschutz). Das eine regelte man durch Unterdrückung, das andere durch Vertreibung – und beides war am ehesten durch autoritäre Regime zu gewährleisten. Welche Variante sich zu etablieren vermochte, das arbeitet Barth anschaulich heraus, entschied sich je nach Personen und Strukturen, nach Machtkonstellationen und historischen Vorerfahrungen (vgl. dazu Kap. 7).

Barth sieht das weitreichende Destabilisierungspotential dieser Ethnisierung durchaus (S. 107), indem der ethnische Nationalismus auch „eine ökonomische Komponente“ hatte (S. 125). Doch diese Einsicht geht etwas unter hinter dem breit referierten Argument von Puttkamers, die in den Bodenreformen neu geschaffenen Klein- und Kleinstbetriebe seien nicht lebensfähig gewesen. Denn „Effizienz“ und „Weltmarktfähigkeit“ (S. 125) waren nie das Ziel der Zeitgenossen, die ganz andere Prioritäten setzten: Zur nationalen Souveränität gehörte untrennbar die ökonomische Unabhängigkeit – unter anderem durch die „Nationalisierung“ des Bodens. Bodenreformen erfolgten zumeist auf Kosten des fremdländischen, aber nicht des indigenen Adels, etwa in Ungarn, Polen oder der Tschechoslowakei. Zugleich war damit eine staatstreue Eigentümerschicht geschaffen worden, die auf dem Lande gehalten wurde; alternative Einkommensmöglichkeiten in Stadt und Industrie waren ohnehin nicht vorhanden. Zudem wurde im Interesse der Mehrheitsethnie eine Auswanderung der pauperisierten Landarmen verhindert, die als Arbeitskräfte für den Großgrundbesitz erhalten blieben. Hier bleiben Unstimmigkeiten zwischen Fremdurteil und eigenem Urteil, letzteres oft in knappen Sätzen „versteckt“, vielfach unaufgelöst und irritieren den Leser. Denn dass die ökonomische Rekonstruktion „unzulänglich“ gewesen sei, wie die Kapitelüberschrift betont, ist die theoretische Perspektive aus heutiger Sicht. Aus Sicht der Zeitgenossen war sie unumgänglich. Einerseits war die Agrarkrise für die Ent-Demokratisierung mitverantwortlich (S. 127), dem wird man ohne weiteres zustimmen; andererseits verwundert die Kritik aus der Retrospektive von 100 Jahren, „extreme Notlagen [… seien] nicht als ökonomisch kaum zu vermeidende Anpassungen an weltwirtschaftliche Trends interpretiert“ worden, „sondern als nationale Fehlentwicklungen, die auch auf der nationalen Ebene korrigiert werden mussten“. Ähnlich irritiert die Kritik, die klassischen nationalstaatlichen Historiographien hätten „übersehen“, dass die verbreitete Inflation ein globales Problem darstellte: „Deshalb hätte die Währungsstabilisierung nach 1918 auch in internationaler Kooperation angegangen werden müssen.“ (S. 114) Dass die Weltwirtschaftskrise eventuell international zu lösen gewesen wäre, mag aus heutiger Sicht richtig sein; allein ein Reichskanzler Brüning war an einer Verschärfung der Krise interessiert, weil er der Überzeugung war, dass das Land, das durch harte Maßnahmen als erstes wieder aus der Krise herauskam, auf internationaler Ebene einen wirtschaftlichen, vor allem auch einen außenpolitischen Vorteil haben würde. Eben daran, das sieht auch Barth (S. 143), scheiterte im Sommer 1933 die Weltwirtschaftskonferenz in London. Der (ökonomische) Nationalismus erwies sich als stärker. Es gab, hier wird man Barth abermals zustimmen (S. 147), das Gefühl einer fatalen Systemkrise des Kapitalismus – und damit auch der liberalen (nicht der demokratischen!) Werte, die mit diesem verbunden waren. Der autoritäre Staat sollte eine „gerechte“ Verteilung der Ressourcen nach innen und die (ökonomische, aber bald auch militärische) Eroberung neuer Ressourcen nach außen gewährleisten. Selbst wenn dem einen oder anderen Verantwortlichen sowohl die Ursachen gewisser Krisenphänomene als auch die möglichen Lösungswege bewusst gewesen sein sollten, so lag das Unvermögen der Regierungen meist an dem Vorrang nationaler Interessen und keineswegs nur an einem „zu wenig“ und „zu spät“ der Maßnahmen.

Das Buch hinterlässt insofern einen insgesamt zwiespältigen Eindruck. Es scheint bezeichnend, dass das Gesamtfazit des Buches nur knapp anderthalb Seiten umfasst und jeglichen Versuch zu einer Gesamtwürdigung der Zwischenkriegszeit vermeidet. Diese war eine der widersprüchlichsten Phasen der jüngeren Geschichte zwischen urbaner, industriekapitalistischer Modernisierung und agrarischer Nostalgie. Diese Verwerfungen wurden in ihrer Zeit durchaus diagnostiziert, aber mit einer erheblichen Hilflosigkeit hingenommen und autoritär übertüncht. Hitler-Deutschland ersparte durch den Zweiten Weltkrieg den großen und den kleinen Diktatoren den Nachweis, dass sie eher in der Lage gewesen wären, den Ausbau und Umbau ihrer Gesellschaften erfolgreicher zu organisieren als eine offene Gesellschaft. Den enormen Strukturwandel in kürzester Zeit schaffte vor allem die Stalinsche Sowjetunion – indes um den Preis von Millionen Toten. Ansonsten, nimmt man das Jahr 1938 als Maßstab, zementierten die meisten Diktaturen die alten Strukturen; der soziale Wandel dürfte kaum drastischer gewesen sein als in den liberal bleibenden Gesellschaften Nordwesteuropas.

Es gab freilich in der Zwischenkriegszeit neben dem Scheitern des Experiments der politischen Demokratisierung durchaus auch erfolgreiche Demokratisierungen, über die man in dem Buch nichts erfährt, die aber zweifellos zum Erfolg des zweiten Versuchs zur Demokratisierung nach 1945 beigetragen haben dürften. Die Frauen befreiten sich buchstäblich aus dem Korsett, reduzierten die Zahl ihrer Kinder weiter, drängten in Büro und Hörsaal. Die Jugend entdeckte sich als Generation und erweiterte ihre Lebens(t)räume durch Fahrrad und Kino. Die verkürzte Arbeitszeit schuf Freizeit, die zu einem beispiellosen Aufblühen des Vereinswesens und zum Siegeszug massenkultureller Vergnügungen führte. Neben die alten Eliten trat eine neue, „bürgerliche“, vor allem soweit eine (natur-)wissenschaftliche Ausbildung erforderlich war; hier eröffneten sich Aufstiegskanäle für Angehörige der Mittel- und Unterschichten. In Kunst und Kultur behauptete sich gegen alle erbitterten Widerstände die Avantgarde. Das betraf, allemal in West- und Mitteleuropa, in erster Linie die Städte; doch dort lebte inzwischen etwa die Hälfte der Bevölkerung. Mit Elektrizität, Auto, Radio, Wanderkino, Warenhauskatalog und Fußball erreichte die neue Welt aber zunehmend auch das Dorf. Kulturelle Demokratisierung braucht ihre Zeit; auf Widerstand stieß sie zum Beispiel noch in der autoritären Kanzlerdemokratie Adenauers. Aber ihre Anfänge nahm sie zweifellos in der Zwischenkriegszeit, zögernd, aber nachhaltig.