R. Gingeras: Mustafa Kemal Atatürk

Cover
Titel
Mustafa Kemal Ataturk. Heir to the Empire


Autor(en)
Gingeras, Ryan
Reihe
World in a Life
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 13,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Fuhrmann, Europainstitut der Istanbul Bilgi Universität

Mustafa Kemal Atatürk ist ohne Frage die international bekannteste türkische historische Persönlichkeit. Dennoch gibt sein Leben immer noch Anlass zu sowohl akademischer als auch öffentlicher Debatte. Entsprechend zahlreich sind die zu ihm veröffentlichten Biographien, von denen in neuerer Zeit vor allem die von Şükrü Hanioğlu, Klaus Kreiser und Andrew Mango Beachtung fanden.1 Die neue Serie der Oxford University Press, „The World in a Life“, hat sich zum Ziel gesetzt, das Leben von Figuren von globaler Bedeutung in einem Format abzuhandeln, das der Wochenlektüre eines nordamerikanischen BA-Kurses entspricht: ca. 200 Seiten in Taschenbuchformat. Für die nicht leichte Aufgabe, das Thema auf dieses Format und dieses Zielpublikum runterzubrechen (Mangos Buch erstreckt sich beispielsweise über 666 Seiten), hat sich Ryan Gingeras gefunden, der mit seinem „Heroin, Organized Crime, and the Making of Modern Turkey“2 eher für eine unkonventionelle Perspektive auf die türkische Staatsgründung bekannt wurde.

Das erste Kapitel widmet sich Mustafas Kindheit und Jugend. Laut Gingeras wurde er durch seine Geburtsstadt Saloniki geprägt, die im osmanischen Vergleich durch Weltoffenheit sowie Multikulturalität, Freizügigkeit im Punkte Alkohol und gemischtgeschlechtliche Gesellschaft auffiel und somit für viele jungtürkische Aktivisten als Vorbild für eine moderne Türkei galt, auch wenn Mustafas politische Einstellungen in dieser Frühphase nicht immer eindeutig belegt sind. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Kriegsphase von 1911 bis 1918, während der das Sultansreich auseinanderfiel und gleichzeitig Mustafa Kemal vom einfachen Offizier zum Pascha aufstieg. Beachtenswert sind in dieser Phase laut dem Autor neben den militärischen Erfolgen vor allem die überlieferten starken Aussagen, die sich einerseits in kaum verheimlichter Insubordination gegenüber der politisch-militärischen Führung unter Enver Pascha niederschlugen und andererseits in programmatischen Ansichten zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen, die seine späteren Amtshandlungen vorwegnahmen. Im dritten Kapitel wird Mustafa Kemal Pascha zum Anführer des nationalen Widerstands gegen die Nachkriegsordnung Anatoliens. Gingeras betont, dass die Gegenregierung in Ankara keineswegs Ausdruck eines geeinten nationalen Willens war, sondern dass sie auf den Widerstand verschiedenster Gruppierungen stieß. Neben Anhängern des kollaborierenden Sultans und politischen und militärischen Rivalen waren dies christliche, alevitische und kurdische Bewohner Anatoliens, aber auch türkisch-sunnitische Provinzbewohner, die gegen die von Ankara eingeforderten Kriegsanstrengungen rebellierten. Erst die an sich sehr späte Übernahme der Kriegsführung und die anschließende Wende im Geschehen auf dem Schlachtplatz brachte Mustafa Kemal in die Rolle des unumschränkten Anführers.

Im Folgenden werden die Jahre des radikalen politischen Umbruchs (1922–1927) beschrieben, in denen Staatsform, Regierungssystem und die Rolle der Religion neu definiert wurden. Dies folgte einer klaren Vorstellung, wie eine Gesellschaft des 20. Jahrhunderts auszusehen hatte. Der Weg zu diesem Umbruch wurde jedoch einseitig von Kemals Visionen geprägt. Sogar frühere politische Weggefährten wurden hierfür leichtfertig geopfert. Die sogenannte Revolution fand in einer Atmosphäre statt, die sich als Fortsetzung des vorangegangenen Überlebenskampfes des Staates verstehen lässt, während dessen nur Befehl und Gehorsam zählen und Diskussionen und Kompromisse nicht tolerierbar sind. Es folgt die Zeit, in der Mustafa Kemal den Beinamen Atatürk annimmt und entsprechend die Rollen wechselt vom Bilderstürmer zum Übervater der Nation. Zwischen 1927 und 1938 zog er sich zunehmend aus dem politischen Tagesgeschäft zurück und setzte stattdessen Impulse für den kulturellen Wandel. Abschließend widmet sich Ryan Gingeras dessen Erbe und der Legende Atatürk, die nach wie vor eine große Rolle spielt. Er plädiert jedoch dafür, ihn weder für seine diktatorischen Praktiken zu verdammen, noch ihn für seine progressiven Ideale zu heroisieren, sondern ihn aus dem Kontext seiner Zeit zu verstehen. Mustafa Kemals Ideologie und auch seine Kompromisslosigkeit seien in ihrer Entstehung als Varianten des jungtürkischen Denkens zu verstehen, ferner müsste die autoritäre, die Gesellschaft umstürzende Herrschaftsform in einem Kontext mit anderen Regimen der Zwischenkriegszeit von Japan über Mittel- und Osteuropa bis Südamerika gesehen werden. Es folgen Quellenhäppchen, auf Textverständnis abzielende Leitfragen und weiterführende Literatur.

Ryan Gingeras meistert die Aufgabe, ein schwieriges Thema, dem zahlreiche, ausufernde Debatten anhängen, in ein kleines, handliches und verständliches Format zu pressen. Zu Themen wie Mustafa Kemals Haltung zum Armeniergenozid oder zur Zerstörung Izmirs findet er auf wenigen Seiten ein schlüssiges Fazit. Auch finden sich im Buch zahlreiche Anekdoten aus dem Leben des Gazis, da diese im Schulbuchwissen über ihn einen prominenten Platz innehaben. Im Wesentlichen richtet die Biographie das Augenmerk auf die Entstehung und den Werdegang Mustafa Kemals politischer Ansichten. Hierin folgt Gingeras weitgehend Erik Jan Zürchers These, dass zwischen jungtürkischer und kemalistischer Programmatik eher die Kontinuität als der Bruch bemerkenswert sei.

Bei all dem vermisst man ein wenig den innovativen Blick, die neue Perspektiven, die in Gingeras’ bisherigen Arbeiten stets beachtenswert waren. Anstatt die Legende Atatürk abzutun, könnte man sich gerade dieses Themas annehmen. Schließlich werden bis heute soziopolitische Konflikte in der Türkei häufig als populäre Dispute um die Historiographie zu Atatürk ausgetragen, beispielsweise um die Frage, ob er von konvertierten Juden (Dönme, ehemalige häretische Anhänger des Sabbatai Zvi) abstammt. Gleichzeitig versuchen jüngere und weniger dogmatische Kemalisten einen neuen Mustafa zu erfinden, der weniger einem strengen Übervater, sondern einem Lebemenschen mit progressiven Idealen entspricht. Auch wäre es interessant gewesen, anstatt in klassisch historischer Miene dem Herrschenden über die Schulter zu schauen, öfter die Perspektive zu wechseln, also nicht nur die Politik und Mentalität des Präsidenten zu verstehen, sondern auch deren zeitgenössische Wahrnehmung stärker mit einzubeziehen. Dies tut der Autor des häufigeren, hätte hier aber weiter gehen können. Die transnationale Einordnung hätte stärker Bestandteil des Haupttextes sein können und nicht nur im Fazit angedeutet werden sollen. Allerdings bleibt es festzuhalten, dass Gingeras seine Aufgabe, Studienanfängern eine präzise und zugleich distanzierte Einführung in das Leben einer wichtigen Persönlichkeit zu liefern, mehr als erfüllt.

Anmerkungen:
1 M. Şükrü Hanioğlu, Ataturk: An Intellectual Biography, Princeton 2011; Klaus Kreiser, Atatürk. Eine Biographie, München 2008; Andrew Mango, Atatürk. The Biography oft he Founder of the Modern Turkey, New York 2000.
2 Ryan Gingeras, Heroin, Organized Crime, and the Making of Modern Turkey, Oxford 2014.