L. Rollason (Hrsg.): Thorney Liber Vitae

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Titel
The Thorney Liber Vitae (London, British Library, Additional MS 40,000, fols 1–12r). Edition, Facsimile and Study


Herausgeber
Rollason, Lynda
Erschienen
Woodbridge 2015: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
XXXIV, 317 S.
Preis
£ 95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Lieven, Geschichte des Frühmittelalters, Ruhr-Universität Bochum

Die Erschließung und Auswertung von Gedenk- und Verbrüderungsbüchern gehört hierzulande seit vielen Jahrzehnten zu den etablierten Forschungsfeldern der mittelalterlichen Sozialgeschichte, ja man kann sogar sagen, dass in Deutschland die Bemühungen um die Gedenküberlieferung vornehmlich des frühen Mittelalters die Forschung zeitweise maßgeblich bestimmt hat. Neben Gerd Tellenbach war insbesondere Karl Schmid Pionier auf diesem Gebiet. Vor allem ihm ist das methodische Rüstzeug zu verdanken, das uns heute in die Lage versetzt, die schier endlosen Aneinanderreihungen von Namen, die für sich genommen dem Historiker nichts sagen und stumm bleiben, zum Sprechen zu bringen: So ging Schmid davon aus, dass die Namen in aller Regel nicht zufällig oder nach Belieben zusammengestellt worden waren. Vielmehr fasste er solche, die von gleicher Hand, in einem Zug und mit gleicher Tinte zum Zweck des kollektiven Gebetsgedenkens in die Verbrüderungsbücher aufgenommen worden waren, zu Einträgen zusammen und grenzte sie mit der gleichen Methode von anderen Einträgen ab. Durch den Abgleich mit anderweitig erhobenen Befunden konnten auf dieser Grundlage mitunter einzelne Personen identifiziert oder soziale Gruppen ausgemacht werden, die sich nicht selten als monastische Gemeinschaften oder adlige Verwandtenkreise zu erkennen gaben.

Die von Schmid und seinem Schülerkreis verantworteten MGH-Editionen zeichnen sich durch ihre einleitenden Kommentare und umfangreichen Register aus, die dem Benutzer eine systematische Auswertung der Verbrüderungsbücher überhaupt erst ermöglichen. Da sich die alphabetische Sortierung nach Namenschreibungen (wie sie im 19. Jahrhundert üblich war) als Ordnungsprinzip eines Registers, das auch für personengeschichtliche, namenkundliche und sprachwissenschaftliche Forschungen geeignet sein soll, nicht bewährt hat, wurde als Ordnungsprinzip das lemmatisierte Personennamenregister eingeführt, in dem namenkundlich gleiche Namen unter einem Lemma subsumiert werden und das damit gewissermaßen das Herzstück der „MGH-Register“ bildet. Dem skizzierten Muster der MGH-Editionen sehen sich die Bearbeiter – wie sie selbst hervorheben – in der hier zu besprechenden Ausgabe des liber vitae von Thorney Abbey verpflichtet, der in Deutschland vor allem durch Jan Gerchow bekannt gemacht worden ist.1 Nach der Edition des liber vitae von Durham, die 2007 erschienen ist2, liegt damit das zweite (und älteste) von drei angelsächsischen Gedenkbüchern in einer kritischen Ausgabe vor. Einzig der liber vitae von Hyde Abbey in Winchester ist noch nicht in einer modernen Edition zugänglich.

Der liber vitae von Thorney wurde um 1100 angelegt und ist Teil einer älteren Evangelienhandschrift des frühen 10. Jahrhunderts, die dem paläographischen Befund zufolge wohl in einem Scriptorium des Westfränkischen Reichs entstanden ist. Schon zwischen 920 und 950 scheint der Codex nach England gelangt zu sein, wo er 973 aus Anlass ihrer (Neu-)Gründung der Abtei Throney übergeben worden sein muss. Noch an der Wende des 10. zum 11. Jahrhundert glossierten und rubrizierten angelsächsische Schreiber die Handschrift, bis vor 1093/94 zunächst nur ein einzelner Stifter- bzw. Wohltätereintrag Eingang in den liber vitae fand. Um 1100 wurden dann aber unter Abt Gunthar die ersten umfangreicheren Namenlisten aufgenommen. Zum Zweck des liturgischen Gedenkens hat man in dieser Zeit eine Reihe neuer Blätter in die Handschrift eingefügt und zugleich mit Blindlinien versehen, um die Namen kolumnenweise aufzeichnen zu können. Bei den späteren Nameneinträgen wurde die Kolumneneinteilung – trotz der vorhandenen Blindlinien – allerdings wieder aufgegeben. Stattdessen trug man die Namen zeilenweise ein. Den Schlusspunkt der 2133 Nameneinträge setzt eine Äbteliste von Thorney aus dem 15. Jahrhundert, die bis zu Abt Johannes Ramsey (1450–1457) reicht, so dass der liber vitae in der Zeit von um 1100 bis um die Mitte des 15. Jahrhunderts zum Aufzeichnen der Namen verwendet wurde. Ihr zeitlicher Horizont reicht jedoch über den Zeitpunkt der Anlage hinaus bis in das letzte Viertel des 10. Jahrhunderts zurück, wenn die Namenaufzeichnungen mit Knut dem Großen und seinen Earls sowie dem ersten Abt von Thorney, Godemann (973/85–1013), beginnen.

Eingeleitet wird die Edition durch mehrere Essays, die den liber vitae in verschiedene Kontexte einordnen. So gibt zunächst Lynda Rollason einen Überblick über die Geschichte der Abtei und stellt dabei Bezüge her zu möglichen Anlässen für die Anlage des liber vitae, zum Zeitraum seines Gebrauchs, zu möglichen Vorlagen usw. Richard Gameson nimmt im Anschluss daran die Evangelien der Handschrift in den Blick und geht dabei vor allem ihrer Datierung, ihrer geographischen Verortung, späteren redaktionellen Eingriffen und anderen Gebrauchsspuren sowie dem Buchschmuck und der Geschichte der Handschrift nach. Katharine Keats-Rohan gibt sodann einen Überblick über die sozialgeschichtlich-prosopographischen Auswertungsmöglichkeiten des liber vitae, indem sie exemplarisch einige Einträge näher beleuchtet und neben dem zeitlichen Horizont der Nameneinträge ihr geographisches Einzugsgebiet in den Blick nimmt.

Den Ausgangspunkt der Edition, die in wesentlichen Teilen schon vor geraumer Zeit von Cecily Clark (†) besorgt wurde, bilden die einzelnen paläographischen Einheiten (Einträge), die auf jeder Seite fortlaufend nummeriert werden (1v1, 1v2, 1v3 usw.). Ihre Wiedergabe ist dabei an den Prozess der Füllung des liber vitae angelehnt, wobei die Datierung einer Schreiberhand in der Regel mithilfe des paläographischen Befunds erfolgt, mitunter ergänzt durch personengeschichtliche Erkenntnisse. Weitere Kriterien für die (relativ-)chronologische Abschichtung der Einträge wie etwa ihre räumliche Anordnung (innerhalb oder außerhalb des Linienschemas) oder ihr Verhältnis zueinander (z.B. Rücksichtnahme eines Schreibers auf einen älteren Eintrag) haben offenbar nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Verzichtet wird zudem auf eine graphische Unterscheidung des Anlagebestands von Nachträgen durch Fett- und Petitdruck. Um die Namen eindeutig bezeichnen und ansprechen zu können, werden sie innerhalb der einzelnen Einträge fortlaufend durchgezählt. Nicht immer ist es jedoch möglich, aus der Zählung der Namen auf die Reihenfolge im Eintrag zu schließen, vor allem dann nicht, wenn er sich aus einzelnen Namen, Namenblöcken oder Namenreihen zusammensetzt, die ein Schreiber (z.B. aus Platzgründen) räumlich getrennt voneinander niedergeschrieben hat.

Im Anschluss an die Edition folgen weitere Beiträge, die den liber vitae von Thorney als solchen betreffen. Angeführt werden diese von einer ausführlichen Abhandlung zum Konzept, zur Anfertigung und zur Paläographie des Gedenkbuchs (Richard Gamenson). Ihr folgen namenkundliche Ausführungen über die im liber vitae enthaltenen Personennamen (John Insley/Olof von Feilitzen). Großen Raum nimmt sodann eine umfassende Prosopographie ein, die den im liber vitae verzeichneten Personenkreis nach weltlichen und klerikalen bzw. monastischen Zugehörigkeiten systematisch erfasst und mithilfe von kurzen Personenkommentaren erschließt. Kleinere Beiträge wie etwa zum Reliquienverzeichnis des späten 11. Jahrhunderts oder zu philologischen Aspekten einzelner Einträge beschließen den Kommentarteil. Ihm folgt neben einem farbigen Faksimile auch ein solches in schwarz-weiß, in dem die Abgrenzungen der einzelnen Einträge zu Dokumentationszwecken graphisch kenntlich gemacht wurden. Beschlossen wird der Band durch zwei Indices. Der erste Index enthält ein lemmatisiertes Personennamenregister, während der zweite Index die Personennamen der Prosopographie und aller anderen Beiträge nachweist und zugleich mit dem vorangegangenen Register verknüpft. Insbesondere das lemmatisierte Personennamenregister ist dabei nicht einfach als Zusatzleistung ohne eigenen Wert zu verstehen. Im Gegenteil muss es als unverzichtbares Arbeitsinstrument gelten, das im Vergleich zu einem einfachen Namenregister die Qualität der Edition auf eine völlig andere Stufe der Texterschließung hebt, indem handschriftliche Befunde in eine neue Form überführt werden, ohne dass an ihnen Veränderungen vorgenommen werden müssten.

Unter dem Strich ist den Herausgebern und Bearbeitern der Edition eine große Sachkenntnis zu attestieren. Sie lehnen sich an das Vorbild der MGH-Editionen an, übernehmen aber nicht wahllos alles, was in der Reihe der „Libri memoriales et Necrologia“ zum Standard gehört, sondern wählen mit Umsicht und Augenmaß das aus, was für den liber vitae von Thorney wichtig ist. Sie führen kompetent und mit der vielfach gebotenen Vorsicht in die zahlreichen Facetten der Handschrift (Paläographie, Kodikologie usw.) ein und bieten damit der Forschung eine verlässliche Grundlage, sich intensiv mit der angelsächsischen Memorialüberlieferung auseinanderzusetzen. Zu hoffen bleibt, dass nach den Gedenkbüchern von Durham und Thorney bald auch der liber vitae von Hyde Abbey (Winchester) in vergleichbarer Weise der Forschung zugänglich gemacht wird.

Anmerkungen:
1 Jan Gerchow, Die Gedenküberlieferung der Angelsachsen. Mit einem Katalog der libri vitae und Necrologien (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 20), Berlin 1988, S. 186–197.
2 The Durham Liber vitae. London, British Library, MS Cotton Domitian A. VII, ed. by David and Lynda Rollason, London 2007.

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