H. Lethen u.a. (Hrsg.): Auf die Wirklichkeit zeigen

Cover
Titel
Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader


Herausgeber
Lethen, Helmut; Jäger, Ludwig; Koschorke, Albrecht
Reihe
Schauplätze der Evidenz: Schriftenreihe des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Frietsch, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Als der Reader „Auf die Wirklichkeit zeigen“ 2015 gedruckt wurde, war das Adjektiv „postfaktisch“ meines Wissens noch nicht in Umlauf. Die irritierende Präsenz dieses Wortes in den aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten zeigt, dass Evidenz nicht allein ein kulturwissenschaftliches Problem ist; an die Kulturwissenschaften kann man sich allerdings wenden, um die Tragweite der gegenwärtigen Auseinandersetzungen zu reflektieren und die Verwendung von Begriffen wie „faktisch“, „Evidenz“ oder „Wahrheit“ zu präzisieren.

Der hier zu rezensierende Band, der vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien herausgegeben wurde, leistet dabei mehr als nur eine Begriffsklärung. Er führt in den Kapiteln „Situation der Theorie“, „Rhetorik der Evidenz“, „Die Wirklichkeit der Medien“, „Praktiken der Evidenz-Herstellung“, „Ökonomien der Sichtbarkeit“ sowohl terminologische wie bild- und medienwissenschaftliche, historische und ontologische Dimensionen des Themas vor Augen. Die sechzehn gesammelten Beiträge entstanden seit 2006 im Rahmen des Schwerpunkts „Kulturen der Evidenz“ am IFK beziehungsweise wurden für diesen Kontext aktualisiert. Sie sind systematisch-sachlich und nicht historisch-chronologisch geordnet. Eine Stärke des Readers besteht darin, zu überraschen: Entgegen der Programmatik des Klappentextes, dem zufolge sich die Kulturwissenschaften zu lange auf Zeichen- und Konstruktionsprozesse konzentrierten und darüber sowohl die Wirklichkeit aus den Augen verloren hätten wie auch Gefahr gelaufen seien, den Graben zwischen sciences und humanities zu vertiefen, vermitteln die Beiträge, dass man zwar „auf die Wirklichkeit zeigen“, diese aber dennoch auf vielfältige Weise konstruiert und vermittelt sein kann. So divers die Argumentationszusammenhänge sind, scheinen die Autorinnen und Autoren mehrheitlich in zwei Feststellungen überein zu kommen: 1. Es lassen sich unterschiedliche Begriffe von Evidenz herausarbeiten, die mit unterschiedlichen Bereichen des Wirklichen korrespondieren. So wird man etwa im Bereich der Kunst mit anderen Evidenzen konfrontiert als im Bereich der Geschichtsschreibung. 2. Die Erfahrung von Evidenz ist eine vermittelte. Diese Feststellung reduziert Evidenz jedoch nicht zwingend auf Ideologie oder gar Betrug und die Analyse der Verfahren, denen sie sich verdankt, nicht notwendig auf Ideologiekritik: Dass Dinge, Artefakte und Sachverhalte, die uns begegnen, historisch, gesellschaftlich, künstlerisch und wissenschaftlich vielfältig bearbeitet sind, ist zunächst Ausdruck ihrer Komplexität und für sich genommen noch kein Hinweis auf eine betrügerische Absicht.

Nach einem knappen Kapitel zur Theorie-Diskussion, in dem Albrecht Koschorke die Kontroverse um den Konstruktivismus, Ludwig Jäger semantische Verfahren der Herstellung von Evidenz und Marcus Twellmann die Herausforderung der Deskription im Bereich der Ethnologie und der Science Studies thematisieren, widmen sich Rüdiger Campe und Jakob Moser dem Evidenz-Begriff, der – ausgerechnet, möchte man sagen – in der antiken Rhetorik geprägt wurde. Der römische Rhetor Cicero terminologisierte ihn, so Campe, für sein Verfahren, dem Auditorium durch die Rede etwas lebhaft vor Augen zu stellen. Evidentia wurde demnach bereits in der Antike als etwas Hergestelltes konzeptionalisiert. Lukrez wiederum, so Moser, warnte vor den inneren Bildern, die etwa im Bereich der Erotik durch die Rede entstehen, und stellte der Evidenz des inneren Auges die manifeste Gewissheit voran, die der Tastsinn verschaffe. Diese sei nicht auf das Haptische beschränkt, sondern läge allen Sinnen zugrunde. Auf den Tastsinn bezieht sich auch Niklaus Largier, der herausarbeitet, dass dieser nicht-fokussierte Sinn in der mittelalterlichen Mystik zum Medium der seelischen Erfahrung wurde. In den Schriften der Mystiker und Mystikerinnen erweise sich seelische Erfahrung jedoch gerade als modellierbar und nicht als unmittelbar gegeben.

Zu der Formulierung, evident sei, was (allen) einleuchtet, gelangt Jan-Dirk Müller in seinem Beitrag über Sebastian Brants „Narrenschiff“. Müller verdeutlicht damit sowohl die gesellschaftliche wie die historische Dimension und Wandelbarkeit von Evidenz. Die Beweisfunktion des Bildes sei in der Frühen Neuzeit noch in der rhetorischen Tradition der Antike gestanden. Sie habe darin bestanden, das sichtbare Wesen – etwa des Narren – zu zeigen. So dokumentierten die bildlichen Darstellungen in Brants Narrenschiff nicht etwa, dass Narren im 15. und 16. Jahrhundert tatsächlich über Flüsse transportiert worden seien; erst wenn wir die Holzschnitte modern als wissenschaftliche Bilder sähen, könnten wir sie auf diese Weise (fehl-)interpretieren.

Dass die Prozesse der Evidenzgenerierung in Hinblick auf das wissenschaftliche Bild viel zu ungenau erforscht seien, macht Claus Zittel geltend. An Editionen von Werken Descartes’ zeigt er auf, welche Abweichungen in der Argumentation von Text und Bild sich aus dem Eingriff der Editoren ergeben können. Dass Descartes den Körper als Maschine verstanden habe, sei eine Erfindung der Postcartesianer, die entsprechende Bilder erst hinzufügten. Zittel argumentiert schließlich etwas konventionell für genauere Lektüre: Die Philosophen sollten nicht nur auf die Bilder sehen, sondern beim Mitdenken eigene innere Bilder entwickeln, mit denen die normierten Bilder der Drucke hinterfragt werden könnten.

Jakob Tanner wiederum widmet sich Säulen- und Kurvendiagrammen: Diese seien im 18. Jahrhundert in ökonomischen Schriften entwickelt worden. Sie insinuierten eine Naturhaftigkeit von Prozessen und erweckten den Eindruck vollständiger Information. Der Anspruch auf Rationalität, den sie vermittelten, werde jedoch nicht eingelöst. Die Evidenz erweist sich in diesem Fall demnach als scheinhafte.

Besonders einprägsam argumentieren Peter Geimer und Egon Flaig in ihren gegensätzlichen Beiträgen. Geimer macht in seinem Beitrag „Vom Schein, der übrig bleibt. Bild-Evidenz und ihre Kritik“ an fotografischen Arbeiten unter anderem von Larry Sultan und Mike Mandel und Filmen von Harun Farocki deutlich, dass die Analyse der Entstehung und Verfertigung von Evidenz ein anspruchsvoller Prozess ist, wenn er sowohl den Eigenarten des jeweiligen Mediums wie den künstlerischen Verfahren folgt und die Vermittlung beider ontologisch zu beschreiben unternimmt. Das Evidenzerlebnis des Betrachters solle analysiert, jedoch durch die Analyse nicht an den Logos verraten werden, so die explizite Absicht Geimers. Er kommt dabei (mit Roland Barthes) auf den automatischen Evidenzeffekt von Fotografie zu sprechen, der sich ihrer spezifischen Materialität verdanke. Im Unterschied zur Malerei sei das Foto als Abbildung zunächst eine Emanation ohne Sinn beziehungsweise eine Botschaft ohne Code. Darin kann eine ästhetische Stärke der Fotografie gesehen werden, während diese von der typischerweise an sie gestellten Forderung, etwas im juristischen Sinne Evidentes zu dokumentieren, Geimer zufolge fehladressiert oder überfordert ist.

Egon Flaig wiederum argumentiert ideologiekritisch und stellt die These auf, dass es Evidenz nicht für die historische Forschung, sondern nur für das kulturelle Gedächtnis beziehungsweise die Identitätspolitik gebe. Er kritisiert in diesem Zusammenhang Walter Benjamins Anspruch auf Evidenz: Benjamin habe in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte an einem Konzept des kollektiven Unbewussten festgehalten, da dieses der Arbeiterschaft Kraft für den Sieg geben sollte. In einem konzeptionellen Obskurantismus habe er dabei vom Individuellen auf das Kollektive geschlossen: Während das Individuum jedoch auf unbewusste Weise ein kulturelles Gedächtnis ausbilde, werde das Geschichtsbild von Kollektiven bewusst konstruiert. Geschichtsforschung dürfe sich nicht im Sinne einer Identitätspolitik instrumentalisieren lassen, auch wenn diese angeblich die der historischen Verlierer sei.

Der Programmatik des Bandes entsprechend, kreisen einige Beiträge um die Unterschiede geistes- und naturwissenschaftlicher Verfahren. Juliane Vogel und Inka Mülder-Bach kommen dabei auf die Technik des Schneidens zu sprechen: Die Fakten der Naturwissenschaften, so Vogel, seien kurz, ihre Wirklichkeitspräparate seien zugeschnitten, wobei die Bearbeitung zugleich zum Verschwinden gebracht werde. Mülder-Bach weist hingegen darauf hin, dass nicht nur etwa die Anatomie durch Schneiden Wirkliches verändere, sondern beispielsweise auch die Bildmedien, und zitiert Walter Benjamins Analogie von Fotografie und Chirurgie. Marcus Twellmann wiederum betont, dass die Science Studies ihre Aufgabe darin sehen, naturwissenschaftlich-technische Produktionsprozesse aus der Black Box zu holen und ihre wirklichen Abläufe wieder sichtbar zu machen. Twellmann zufolge legen die Science Studies auf diese Weise eine revidierte Evidenzkonzeption nahe, die darin besteht, die eigene (wissenschaftliche) Rhetorik durchschaubar zu machen. Dabei stellt er die These in den Raum, dass ein bewusster Einsatz von Rhetorik und die explizite Reflexion der Darstellungsverfahren Methoden sein könnten, mit denen sich zwischen sciences und humanities vermitteln lasse.

Bei dieser Durchschaubarkeit – welche die wissenschaftliche Arbeit betrifft – dürfte es sich demnach um eine andere handeln als bei jener, der sich der Beitrag von Caspar Hirschi widmet. Hirschi konfrontiert Luhmanns Thesen zur Legitimation durch Verfahren mit den aktuellen Forderungen nach Transparenz in der Politik. Diese haben Hirschi zufolge den Effekt, dass Entscheidungsfindung zunehmend außerhalb der in den Medien dokumentierten Verfahren stattfindet: Während man die Verfahren zum Zweck der Vertrauensbildung aufbläht und eine eigene Verfahrensrhetorik ausbildet, werden die Entscheidungen hinter den Kulissen in einer Kabinettspolitik alten Stils gefällt.

Der Band kann als Plädoyer für eine Ontologie der Gegenwart im Sinne Foucaults gelesen werden und praktiziert diese auf interessante und informative Weise. Auf weitere Bände der Reihe „Schauplätze der Evidenz“ und die weitere Entwicklung des Schwerpunkts „Kulturen der Evidenz“ am IFK kann man gespannt sein.