H. Ludwig: Das albanische Europa

: Das albanische Europa. Kontroverse Konzepte zur europäischen Zugehörigkeit in der Intellektuellendebatte Kadare-Qosja. Wiesbaden 2015 : Harrassowitz Verlag, ISBN 978-3-447-10500-2 257 S., mit 26 Abb. € 52,00

: Gewalt und Koexistenz:. Muslime und Christen im spätosmanischen Kosovo (1870-1913). Berlin 2015 : de Gruyter, ISBN 978-3-11-046159-6 € 54,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zsofia Turoczy, Leipzig

Albanien ist seit dem 24. Juni 2014 offiziell EU-Beitrittskandidat. Mit der im Sommer 2016 verabschiedeten Justizreform treibt das Land die Verhandlungen voran. Wer kennt jedoch die aktuellen Diskurse in der albanischen Öffentlichkeit über Europa? Wer kennt die meinungsführenden Akteure dieser Diskurse? Wer weiß über die innergesellschaftlichen Entwicklungen des Beitrittskandidaten Bescheid? Und wie soll sich ohne ein solches Wissen ein innereuropäisches, interkulturelles Verständnis entwickeln? Die Arbeit, die unter dem Titel „Das albanische Europa. Kontroverse Konzepte zur europäischen Zugehörigkeit in der Intellektuellendebatte Kadare-Qosja“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation eingereicht wurde, wirft diese Fragen auf. Dazu wird die Debatte, die in den 2000er-Jahren zwischen zwei führenden Intellektuellen im albanischen Sprachraum, Ismail Kadare und Rexhep Qoshja stattfand, mit Methoden der Kulturwissenschaft dargelegt und analysiert. Abgesehen vom Egin Cekas Aufsatz1 ist diese Intellektuellendebatte noch nicht untersucht worden, die Arbeit schließt also eine Forschungslücke.

Die Grundlage für die Untersuchung bieten die Texte vom Ismail Kadare (‚Identiteti Evropian i Shqiptarëve‘; ‚Die europäische Identität der Albaner‘) und zwei Gegenschriften des kosovarischen Rhexhep Qosja (‚Realiteti i shpërfillur‘; ‚Die vernachlässigte Realität‘ und ‚Të vërtetat e vonuara‘; ‚Verspätete Wahrheiten‘). Ergänzend werden in die Analyse Texte anderer albanischen Intellektuellen einbezogen, die in den drei damals größten albanischen Tageszeitungen ‚Shekulli‘, ‚Ship‘ und ‚Korrieri‘ bezüglich der Debatte erschienen. Die publizistischen Texte zur Identität und Europäizität der Albaner werden lediglich exemplarisch und überwiegend deskriptiv dargestellt. Diese Beiträge reichen von der bloßen Parteinahme bis zur Konzeptualisierung, und dienen in der Untersuchung zur Relativierung und Ergänzung der pointierten Meinungen von Kadare und Qosja. In den meisten Texten dieser Intellektuellen spielt – sogar mehr als bei Kadare und Qosja – die nahe Zukunft eine außerordentlich wichtige Rolle. Sie verknüpfen die Identitätskonstruktion mit dem Weg in die Europäische Union, wobei die pessimistischen Stimmen überwiegen.

Als Ismail Kadares Essay am 27. März 2006 in der Tagesszeitung ‚Shekulli‘ erschien, entfachte er eine hoch emotionalisierte Debatte über die Identität der Albaner, in der oft ein polemischer Ton herrschte und mitunter schwere Beleidigungen ausgetauscht wurden. Die Hauptakteure der Debatte sind Autoren mehrerer Romane und Essays und gehören zum Kanon der albanischen Literatur. Kadare gilt als Kritiker totalitärer Regime; seine literarischen und essayistischen Werke wurden mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Rexhep Qosja ist international zwar weniger bekannt, aber im albanischen Sprachraum verfügt er eindeutig über die Meinungshoheit. Er ist auch als Literaturwissenschaftler tätig und war während des Kosovokriegs in die Friedensverhandlungen involviert. Ihre Debatte gewinnt durch das von Henry Ludwig ins Zentrum seiner Forschung gestellte Axiom Gewicht, dass durch Kommunikation Macht auf andere ausgeübt werden kann, insbesondere Deutungsmacht (S. 1, 217). Wenn derjenige, der sich öffentlicher Kommunikation bedient, ein Intellektueller ist, – spätestens seit der Dreyfus-Affäre besteht kein Zweifel daran – kann er die öffentliche Meinung lenken, in Bezug auf politische Macht Ideologien hinterfragen oder unterstützen. Damit sind Intellektuelle Produzenten und Kritiker der Ideologie zugleich. Die albanischen Intellektuellen tragen dabei als schweres Erbe den Enverismus, die Ideologie des albanischen Kommunismus, in dem jegliche intellektuelle Tätigkeit gefährlich bis tödlich sein konnte. „Europa stellt in diesem Zusammenhang den Sinnhorizont dar“ (S. 4), wie Ludwig erklärt, vor dem der Kampf um Deutungshoheit der konkurrierenden Konzepte zur albanischen Identität ausgefochten wird.

Im Hauptteil ist eine gewisse quantitative Asymmetrie bemerkbar: während Kadares Text auf 89 Seiten analysiert wird, muss der Leser bei Qosjas beiden Texten nur mit 32 Seiten auskommen, obwohl Ludwig in diesem Teil auch die Konzepte miteinander vergleicht. Diese Ungleichheit verleiht der Analyse den Anschein des Unfertigen. Ludwig untersucht die Texte in zwei Schritten. Er kategorisiert zunächst Schlüsselbegriffe und Konzepte in Bezug auf Europa und die Identität der Albaner. Dabei werden die Konzepte nicht nur als Produkte, sondern auch als Produktion analysiert. Sodann werden die Konzepte mit dem Verfahren des Concept-Map visuell dargestellt. Dadurch werden die historisch bedingten Topoi sowie die Selbst- und Fremdbilder sichtbar, andererseits können die den Konzepten unterliegende Denkmuster dargelegt werden.

Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Intellektuellen liegt darin, dass Kadare in seiner Argumentation von Albanien ausgeht, Qosjas Bezugspunkt ist hingegen der gesamte albanische Siedlungsraum und dessen albanischsprachigen Bewohner. Die beiden Autoren gehen somit von unterschiedlichen Standpunkten aus, wenn sie die Europäizität der Albaner konzeptualisieren. Kadare verortet Albanien als Teil Europas, womit geographisch Westeuropa und kulturhistorisch der christliche Kulturkreis gemeint ist. Deshalb fordert er die komplette Hinwendung zum Westen und dem christlichen Kulturkreis und sieht in der religiösen Zersplitterung der Albaner einen Nachteil. Gleichzeitig distanziert sich Kadare von Asien, vom Osten, da er das orthodoxe Christentum und den Islam, als Träger der Rückständigkeit und Europafeindlichkeit wertet. Qosja hingegen argumentiert für die Rolle Albaniens als Vermittler zwischen Ost und West, sowohl geopolitisch als auch kulturell. Das tut er aus der Sicht einer gesamtalbanischen, jedoch heterogenen Identität. Dabei glaubt er in der Vielfalt der Religionen gerade einen Vorteil, eine historisch gegebene Chance zu erkennen, eine Synthese zwischen den westlichen und östlichen Kulturen bilden zu können. Qosja fordert die Gleichstellung der Religionen in der Identitätsbildung der Albaner.

Ludwig modelliert anschaulich die Logik des gegenseitigen Vorwurfs der zwei Intellektuellen: Beide beschuldigen einander, durch ihre Konzepte eine faktische Isolierung Albaniens herbeizuführen. Kadare zufolge sei eine Vermittlerfunktion Albaniens zwischen Okzident und Orient – nicht zuletzt wegen seiner korrupten politischen Elite – illusorisch, dem Land werde nie ein so großes Gewicht in der internationalen Politik zugesprochen werden. Albanien isoliere sich gerade durch seine ersehnte Sonderrolle als Vermittler zwischen Ost und West, was der Schriftsteller sarkastisch „Sandwich” nennt. Er befürchtet, die Vermittlung zwischen den Kulturen führe zu einer Weder-Noch-Rolle. Qosja wirft dagegen Kadare vor, einen Teil der Albaner dadurch ausgrenzen zu wollen, dass er den Islam nicht als einen Teil der albanischen Identität anerkenne und dass er islamfeindliche Polemik verbreite. Qosja warnt vor einer Isolation von Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung und generell vom Osten als Ergebis einer westlich orientierten Politik. Er lehnt die Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit ab und prangert Kadare und die albanische Politik an, in der Öffentlichkeit die Trennung des Staates und der Kirche nicht einzuhalten. Daraufhin wirft Kadare Qosja Christenfeindlichkeit vor (S. 179ff). Sie vertreten also gegensätzliche Meinungen dahingehend, ob der Islam und daran anknüpfend das osmanische Erbe Bestandteil der albanischen Identität oder eben im Gegenteil, Hindernis für eine europäische Identitätskonstruktion sei. Kadare unterscheidet dabei einen europäischen und einen nichteuropäischen Islam, wobei der letztere nie ein Teil Albaniens oder Europas gewesen sei und werden dürfe. Qosja hingegen sieht den Islam ohne Einschränkung als Teil der albanischen Identität an und beurteilt ihn positiv, sowohl im Hinblick auf die Identitätskontruktion als auch auf die Geopolitik. Der einzige Punkt, in dem die beiden Schriftsteller übereinstimmen, ist das „Konzept Politiker“ (S. 221), das gänzlich gegen das „Konzept Europa als finales Ziel“ gerichtet sei. Beide verurteilen die albanische Politiker, die unfähig sind, in den albanischen Ländern die Demokratisierungsprozesse voranzubringen und dadurch Albanien einen festen Platz in der europäischen Gemeinschaft zu sichern.

Ludwig dekonstruiert anschaulich und präzis die Konzepte und die gegenseitigen Vorwürfe der beiden Intellektuellen und deutet sie als leere Ideologien und Polemiken. Ihm zufolge findet eine fundierte Auseinandersetzung mit der albanischen Vergangenheit weder in Kadares noch in Qosjas Essays statt. Beide halten an abgenutzten Topoi und Interpretationsmuster aus Zeiten der Nationalbewegung und des Kommunismus fest, ohne Willen zum Dialog. Ausschließlich die Überzeugung der Öffentlichkeit über die Richtigkeit der eigenen Meinung und die Diffamierung des anderen stünden im Vordergrund.

Die Arbeit weist kleinere Schwächen auf. Die Auseinandersetzung mit den verwendeten Begriffen im Theorieteil gleicht an manchen Stellen einer bloßen Anhäufung von Zitaten. Das häufige Zitieren ohne fundierte Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen ergibt weder Sinn, noch entsteht ein kohärenter Text (z.B.: S. 27, 41f.). Außerdem spricht Ludwig von Osmanismus als ideologischer Strömung des Antieuropäismus bei Kadare (S. 95f). Die Verwendung dieses Begriffs in dieser Bedeutung ist jedoch irreführend. Denn Osmanismus bezeichnet in der historischen Forschung die von Intellektuellen vertretene liberale Ideologie der Tanzimat-Zeit, die die Gleichberechtigung aller Untertanen des Osmanischen Reiches gleich welcher Religion propagierte.2 Kadare hingegen spricht in Bezug auf die Osmanenherrschaft über Grausamkeit und Kolonialismus als Hindernis des Fortschritts und als Vernichtung der albanischen Kultur und Identität (S. 96).

Gleichwohl ist mit Ludwigs Dissertation eine wichtige Arbeit erschienen. Zum ersten Mal können Teile der Essays von Qosja zur albanischen Identität auf Deutsch gelesen werden und die Arbeit beleuchtet den Prozess, wie sich eine Nation selbst identifizieren und sich gegenüber dem Ausland zu artikulieren sucht. Die Kadare-Qosja Debatte greift außerdem aktuelle Themen auf, die auch aus Sicht der Europäischen Union nicht zu vernachlässigen sind. Seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes kann bei albanischen Muslimen „der Prozess der Rückbesinnung auf Religion“ 3 beobachtet werden. Bei diesem Prozess verquicken sich verschiedene Deutungsstränge: genuine Religiosität, kulturelle Selbstvergewisserung, Neugier auf das lange Zeit Tabuisierte und wirtschaftliche Vorteile. Gleichzeitig zeigen islamische Staaten als Förderer von Kultur und Bildung starke Präsenz in den Balkanstaaten mit muslimischem Bevölkerungsanteil. Junge Albaner, die in nahöstlichen Einrichtungen studieren, importieren entsprechendes Gedankengut. So wächst der nach Kadare „nichteuropäisch“ ausgerichtete Islam in diesem Raum. Gerade das Zusammenspiel ungünstiger Umstände, wie stockende Demokratisierungsprozesse, eine stagnierende Wirtschaft, soziale Unruhen, hohe Arbeitslosigkeit und eine idealisierte jedoch unerreichbare EU-Mitgliedschaft können einen Wertewandel herbeiführen, der mit der Stärkung eines „nichteuropäischen“ Islams einhergehen kann. So gilt es Ludwigs Worte zu beherzigen, wenn er vor den Folgen der Erklärung der Balkanländer zu sicheren Herkunftsländern warnt. Er nennt es katastrophal, wenn zehntausende albanische Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden, ohne Aussicht auf Arbeit in politisch und wirtschaftlich lahmgelegten Ländern. Europa sehe wieder nur zu, wie auf dem Balkan erneut ein Pulverfass entsteht (S. 226).

Anmerkungen:
1 Egin Ceka, Die Debatte zwischen Ismail Kadare und Rexhep Qosja um die nationale Identität der Albaner, in: Südosteuropa 54 (2006) 2, S. 451–460.
2 Şerif Mardin, The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas, Princeton N.J. 1962, S. 3 und 328.
3 Jens Oliver Schmitt, Islamisierung bei den Albanern. Zwischen Forschungsfrage und Diskurs. Osmanen und Islam in Südosteuropa, in: Reinhard Lauer / Hans Georg Majer (Hrsg.), Osmanen und Islam in Südosteuropa, Berlin 2013, S. 243–268, hier: S. 243.

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