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Titel
Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss


Autor(en)
Nassehi, Armin
Erschienen
Hamburg 2015: Murmann Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Johst, Berlin

Für Armin Nassehi hat die letzte Stunde der Wahrheit geschlagen: Eine Beschreibung der Gesellschaft mit den überkommenen Theorien und Begriffen sei nicht mehr möglich, es gebe keine Zentralperspektive mehr für die Beschreibung von Gesellschaft (S. 294), so die Ausgangshypothese des Buchs. Wie lässt sich Gesellschaft trotzdem beschreiben, wie ist Kritik möglich, wenn es keine Erkenntnis jenseits der Grenzen der jeweiligen Funktionslogik gibt? Bereits der Untertitel des Werks macht deutlich, worauf Nassehis Analyse zielt, „warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss“. Es geht dem Autor um nichts weniger als um alternative Möglichkeiten der Beschreibung von Gesellschaft – ein wissenssoziologischer Griff nach den Sternen, wie Volker Weiß in der „Zeit“ Nassehis Ansinnen kommentierte.1

Ausgangspunkt des Buchs ist die Feststellung, dass die meisten öffentlich anschlussfähigen Diagnosen der Gesellschaft hauptsächlich darauf zielen, die Komplexität und Unübersichtlichkeit, die Perspektivendifferenz und Widersprüchlichkeit der modernen Gesellschaft zu negieren oder zu ignorieren (S. 12). Warum, so fragt der Autor, gibt es nur Beschreibungstraditionen, die sich an Unterscheidungen orientieren, die uns mehr Informationen suggerieren, als sie erzeugen können. Nassehi interessiert sich hierbei weniger für die soziologischen Großtheorien, sondern für die öffentlich anschlussfähigen Diagnosen der Gesellschaft, die sichtbar werdenden und folgenreichen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Gegenstand des Buchs ist somit vor allem die Semantik der politischen Sprache. Aus Sicht des Autors verhindern tradierte Begriffe und Unterscheidungen eine der Komplexität der modernen differenzierten Gesellschaft angemessene Beschreibung und vermitteln die trügerische Illusion der Steuerbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen.

Besonders deutlich zeigt sich der Widerspruch zwischen der Komplexität der Gesellschaft und den uns zur Verfügung stehenden Chiffren und Begriffen in der Unterscheidung zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv. Die Hartnäckigkeit, mit der wir an dieser Unterscheidung festhalten, beruht für Nassehi auf einem Ordnungsbedürfnis, das vor den Ordnungsproblemen einer differenzierten, komplexen Gesellschaft kapituliert (S. 26). Indem wir uns dieser zentralen Unterscheidung bedienen, so ließe sich diese zentrale These seines Buchs umschreiben, bewegen wir uns in einem vertrauten Koordinatensystem, das jedoch längst nicht mehr die Wirklichkeit komplexer Gesellschaften abbildet, uns jedoch wohlvertraut ist und Orientierung bietet.

In seiner Analyse der Unterscheidung zwischen rechts und links kommt Nassehi zu überraschenden Einsichten, die seit der Flüchtlingskrise und dem Aufstieg der AfD an Bedeutung gewonnen haben. Das Rechte, so stellt Nassehi fest, sei uns als Kategorie in Deutschland abhandengekommen, niemand wolle mehr rechts sein, die rechte Seite falle weg oder finde sich nur noch an den Rändern – im Umkreis von Zeitschriften wie“ Junge Freiheit“ und „Sezession“. Links oder wenigstens linksliberal zu sein, sei dagegen durchaus erwartbar und stelle den Normalfall des Argumentierens dar (S. 29). Die Selbstbeschreibung als links oder linksliberal dient für Nassehi vor allem der moralischen Selbstvergewisserung, auf der richtigen Seite zu stehen. Der tatsächliche Lebensstil stehe allerdings häufig im Gegensatz zum linken Selbstbild. Genüsslich seziert Nassehi die Widersprüche zwischen linkem Reden und rechtem Leben. Der großstädtische Alltag der Wohlsituierten sei eindeutig rechter, konservativer geworden. Der gut situierte, gebildete, kritische Bürger würde sich selbst niemals als konservativ ansehen, aber in der Bildungspolitik auf die Privilegien distinktiver Schulformen bestehen (S. 51). Die Unterscheidung zwischen Rechts und Links dient aus Sicht Nassehis immer auch dazu, tatsächliche Werthaltungen und politische Orientierungen zu verdecken.

Eine zweite zentrale Funktion der Unterscheidung zwischen Links und Rechts besteht für Nassehi darin, in gesellschaftlichen Krisen Lösungsmöglichkeiten zu suggerieren und damit Handlungsoptionen aufzuzeigen, die in Wirklichkeit nicht bestehen. Die Überzeugungskraft linker Lösungsvorschläge beruht für Nassehi auf dem Glauben an einen Umbau der Gesellschaft, die Überzeugungskraft rechter Lösungsansätze dagegen auf konkreten Alltagserfahrungen und Ängsten. Das Rechte sei eine sehr reale Lebenserfahrung, die man normativ kritisieren aber zugleich in ihrer Dynamik verstehen müsse (S. 59). Nassehi zeigt am Beispiel der Sarrazin-Debatte genau, wie sich die Dynamik der Auseinandersetzung erklären lässt und worauf der große Erfolg des Buchs beruht (S. 64). Die Plausibilität rechter Analysen beruhe vor allem darauf, dass sie eine der Moderne inhärente Überforderungssituation artikulierten, die das Rechte anschlussfähig mache (S. 48).

Um die Konjunktur rechten Denkens zu verstehen, muss man sich vorurteilsfrei mit rechten Argumenten auseinandersetzen, so lautet eine der zentralen Forderungen des Buchs. Er halte es für falsch, das rechte oder rechtskonservative Denken für unberührbar zu erklären, so Nassehi, dies sei auch eine Frage der intellektuellen Redlichkeit. Wenn es nicht gelänge, mit den Vertretern dieser Denkungsart zu sprechen, erhöhe sich deren Nimbus als Exkludierte aus dem Mainstream (S. 21). Dem Buch ist ein Briefwechsel des Autors mit Götz Kubitschek beigefügt. Kubitschek ist einer der Hauptvertreter der Neuen Rechten in Deutschland und Gründer des rechtskonservativen Instituts für Staatspolitik. Selbst für den Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie gehört Mut dazu, sich so offen mit dem Vertreter einer politischen Denkhaltung auseinanderzusetzen, die in der publizistischen Öffentlichkeit weitgehend isoliert und tabuisiert ist. Der Autor musste sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, er habe Kubitschek das Podium geliefert, sich als salonfähiger Rechtsintellektueller zu inszenieren.2 Durch den politischen Erfolg der AfD lässt sich die Existenz einer Neuen Rechten ebenso wenig leugnen, wie der Einfluss des rechten Denkens auf wichtige Gruppen innerhalb der Partei. Weder des Erfurter Programm noch die Patriotische Plattform wäre ohne den Einfluss des Instituts für Staatspolitik denkbar. Angesicht dieser Entwicklung kann man dem Autoren nur beipflichten, wenn er postuliert, dass es intelligentere Formen der Auseinandersetzung geben müsse, als eine bloße Ablehnung oder gar Dämonisierung der Position (S. 22).

Leider verhindert diese Aufgeschlossenheit und Vorurteilslosigkeit nicht, dass der Autor in seiner Analyse des rechten Denkens letztlich wiederum auf eine Vereinfachung zurückgreift, die die derzeitige Konjunktur rechter Ideen und Programme nur unzureichend erklärt. Der Kern rechten Denkens, wie es von der Neuen Rechten vertreten werde, sei der Rekurs auf das eigene Volk, dass als transzendentale und vorempirische Bedingung behandelt werde (S. 296). Es ist jedoch zu bezweifeln, dass Nassehi damit den Kern rechten Denkens ausgemacht hat. Ohne Frage spielt die Vorstellung von ethnischer bzw. völkischer Homogenität eine wichtige Rolle, aber rechtes Denken lässt sich gerade nicht auf diese Frage reduzieren, so wenig wie sich linkes Denken auf die Vorstellung eines zielgerichteten Umbaus der Gesellschaft reduzieren lässt. Nassehi unterliegt seinen eigenen Prämissen. Um seine Ausgangshypothese zu bestätigen, wonach sowohl linke wie rechte Positionen mit Vereinfachung auf Komplexität reagieren, muss er diese Positionen ihrerseits vereinfachen und auf zentrale Behauptungen oder Grundannahmen reduzieren. Damit vergibt der Autor die Chance, rechtes Denken einer fundierten Analyse zu unterziehen. Selbst der Briefwechsel zwischen Nassehi und Kubitschek bewegt sich in vorhersehbaren Bahnen und führt zu keinen neuen Einsichten. Das ist schade. An verschiedenen Stellen wird deutlich, wie fruchtbar es sein könnte, sich systematisch mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit rechtes Denken auf der Weigerung beruht, komplexe Zusammenhänge anzuerkennen. Der Vergleich zwischen linken und rechten Positionen würde dann vielleicht eher auf Fragen der Steuerbarkeit oder des Umgangs mit Angst und Überforderung hinauslaufen. Wenn Nassehi immer wieder von der rechten Fantasie der Homogenität spricht (S. 167), dann übersieht er, dass Autoren der Neuen Rechten wie Martin Lichtmesz durchaus ein differenziertes Bild von Volk und Nationalität haben und gerade nicht irgendwelche rassischen Reinheitsvorstellungen vertreten.3

Letztlich muss aber jeder Lösungsansatz, egal ob von rechts oder links kommend, an der Komplexität der modernen differenzierten Gesellschaft scheitern, so die Grundthese des Buchs. Der Autor führt in diesem Zusammenhang den Begriff der verteilten Intelligenz ein, um eine der zentralen Grundannahmen der Systemtheorie Luhmanns zu veranschaulichen, der zufolge sich die moderne Gesellschaft in autonome Systeme aufgeteilt hat, die einer jeweils unterschiedlichen Logik folgen. Es gibt somit keinen Punkt, von dem aus man die Gesellschaft als Ganzes her analysieren kann, oder in den Worten Luhmanns: „Es gibt keine Repräsentation der Einheit des Systems im System […] kein Einzelsystem kann behaupten, die Gesellschaft im Ganzen durch eine Einzelfunktion zu vertreten.“4 Das grundlegende Dilemma besteht für Nassehi darin, dass herkömmliche Beschreibungen der Gesellschaft an der Illusion einer analogen Abbildung der Welt festhalten, da es keine Beschreibungstradition für Komplexität gibt und für das Problem der sozialen Digitalisierung. Unter Digitalisierung versteht der Autor die Tendenz der einzelnen Funktionssysteme, Informationen nach ihren eigenen Regeln zu verarbeiten und zu verwenden. Damit wird eine zentrale Steuerung überflüssig, zugleich lassen sich digitalisierte Informationen nicht mehr analog abbilden. Die soziale Digitalisierung führt Nassehi zufolge zu einem Verlust klarer Zuordnungen. Konkurrenten um knappe Ressourcen und Lebenschancen haben es immer weniger mit kollektiven, klar identifizierbaren Gegenübern zu tun. Verantwortliche und Schuldige werden immer weniger adressierbar und identifizierbar. Das Gefühl der Krise entstehe letztlich als Anpassungsstörung an das analoge Bild der Welt, das uns mit Ordnung versorgt (S. 139).

Die gesamte Argumentation des Buchs läuft auf die Frage hinaus, wie sich Komplexität beschreiben lässt. Den einzigen möglichen Weg sieht Nassehi in dem Versuch, sich systematisch mit Übersetzungsprozessen auseinanderzusetzen (S. 266ff.). Wiederum bezieht sich der Autor hier auf eine der Grundannahmen Luhmanns, wonach unterschiedliche Systeme nicht unmittelbar miteinander kommunizieren, sondern auf Veränderungen der Umwelt (fremde Systeme stellen stets die Umwelt des einzelnen Systems dar) mit einer Anpassung der eigenen internen Kommunikation an die veränderten Umweltbedingungen reagieren. Nassehi beschreibt diesen Prozess als Übersetzung. Am Beispiel der Debatte um den ärztlich assistierten Suizid möchte der Autor zeigen, wie es trotz des Verzichts auf eine Zentralperspektive zu einer Lösung kommt, in den Worten Nassehis zu einer „punktuellen Koordination von Unkoordinierbarem und einem gemeinsamen Maß für Inkommensurables“ (S. 276). Die entsprechende Herleitung lässt jedoch viele Fragen offen, insbesondere bleibt Nassehis Definition von Übersetzungsprozessen oberflächlich und nicht ganz verständlich. Dies liegt vielleicht auch daran, dass Nassehis Argumente auf Grundannahmen der Systemtheorie beruhen, die der Autor nicht weiter thematisiert. Hierin liegt eines der Grundprobleme des Buchs. Der Versuch, die Grundannahmen der Systemtheorie Luhmanns mit Hilfe vermeintlich anschaulicher Metaphern wie Digitalisierung, verteilte Intelligenz oder Übersetzung zu beschreiben, vermittelt beim Leser mitunter das Gefühl entweder zu viel oder zu wenig zu verstehen. Denn trotz des essayistischen Stils greift der Autor immer wieder auf Begriffe und Konzepte zurück, die sich nur vor dem Hintergrund der Systemtheorie verstehen lassen. Einen Leser, der mit dem systemtheoretischen Zugriff nicht vertraut ist, müssen solche Formulierungen ratlos lassen, denn Nassehi bietet keine Erklärung oder Herleitung der Begriffe an, er verwendet die entsprechenden Termini, als würden sie sich von selbst verstehen. Letztlich bleibt zu bezweifeln, ob es möglich ist, sich auf Luhmann zu beziehen ohne dessen sehr spezifisches Vokabular zu übernehmen. Dessen ungeachtet bietet das Buch zahlreiche überraschende Einsichten und Denkanstöße und fordert nicht zuletzt zu einer Standortbestimmung des eigenen Denkens heraus – und das ist ganz gewiss kein geringer Verdienst.

Anmerkungen:
1 Volker Weiß, Ab wann ist konservativ zu rechts?, in: DIE ZEIT, 19.02.2016, S. 20.
2 Weiß, Ab wann ist konservativ zu rechts?, S. 20.
3 Martin Lichtmez, Die Verteidigung des Eigenen, Fünf Traktate, Schnellroda 2015, S. 20.
4 Niklas Luhmann, Protest, Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt am Main 1996, S. 53.