M. Kipp: »Großreinemachen im Osten«

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Titel
»Großreinemachen im Osten«. Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Kipp, Michaela
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
493 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wigbert Benz, Karlsruhe

Die vorliegende Studie stellt die überarbeitete und gekürzte Fassung einer 2009 von der Universität Bielefeld angenommenen Dissertation dar. Sie analysiert die Bedeutung von Ordnungs- und Sauberkeitsvorstellungen aus der Alltagswelt der Soldaten für deren Akzeptanz des Vernichtungskrieges und ihrem entsprechend brutalisierten Handeln beim „Grossreinemachen im Osten“. Dabei knüpft Michaela Kipp an Forschungen an, die bereits gezeigt haben, dass ideologische Indoktrination als Erklärungsmuster für die Integration der Masse von Wehrmachtssoldaten in die verbrecherische Kriegführung und ihren aktiven Part, den sie dabei ausübten, keinesfalls ausreicht, sondern handlungsleitende Faktoren wie Gruppenzwang und integrative Wirkung von Kameradschaftsvorstellungen eine wichtige Rolle spielten.1 Über die Ergebnisse dieser Studien und entsprechender Untersuchungen von Feldpostbriefen hinausgehend, die eine „Teilidentiät der Motive“ von Soldaten und NS-Staat rekonstruieren2, richtet sie den Fokus auf die Handlungsrelevanz mentaler Strukturen, wie sie in Feldpostbriefen von Soldaten zum Ausdruck kommen.

Kipp stützt sich bei ihrer Untersuchung auf mehr als 7000 Feldpostbriefe, vorwiegend an der Ostfront eingesetzter Soldaten und gleicht ihre qualitative Analyse mit den Befunden der einschlägigen Forschung zum Vernichtungscharakter des „Unternehmens Barbarossa“ ab. Ihr umfassendes Korpus an Feldpostbriefen besteht aus einer Reihe von Briefserien und Tagebüchern aus verschiedenen Landesarchiven und der Sammlung Feldpost im Berliner Museum für Kommunikation sowie 1.250 losen Briefen aus der Sammlung Sterz der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte. Diesen Fundus an Quellen wertet sie im Hinblick auf Alltagsvorstellungen und Einstellungen der Verfasser zum Kriegsgeschehen aus und stellt ihre Ergebnisse in drei Großkapiteln vor: den Sauberkeits- und Ordnungsdiskursen, der Radikalisierung des Sagbaren als gesellschaftlichem Kontext und der Radikalisierung des Machbaren im Vernichtungskrieg.

Die Sauberkeits- und Ordnungsdiskurse in Feldpostbriefen aus dem Osteinsatz kreisen häufig um die Gegensätze von „Sauberkeit und Dreck“ sowie „Ordnung und Chaos“. Es gilt, den „schmutzigen Osten“ zu „säubern“. Dabei passt für die Briefeschreiber die Vorstellung von den übermächtigen Läusen, deren man sich erwehren müsse, besser ins Bild, als das vom übermächtigen Gegner. Die Ebenen der Bekämpfung von Menschen und Ungeziefer wird semantisch verwischt oder wie es ein Gefreiter in einem Brief an seine Frau im November 1942 ausdrückt: „So hat man hier seinen Kampf gegen Russen und Läuse.“ (S. 61) Das Elend der angetroffenen sowjetischen Zivilbevölkerung wird so gut wie nie auch als Ergebnis deren kriegsbedingter Lage, sondern ausschließlich als Beweis für deren angebliche kulturelle Minderwertigkeit angesehen. Im Unterschied zu dieser bei Soldaten der Wehrmacht vorherrschenden dehumanisierenden Sichtweise zeigt die Untersuchung italienischer Feldpostbriefe, worauf Kipp ausdrücklich hinweist, eine grundsätzlich abweichende Einschätzung der vorgefundenen Lebensverhältnisse. Italienische Einsatzkräfte im besetzten Osten berichten in ihren Briefen immer wieder voll Mitleid von den hungernden Menschen, die sie im Krieg sahen und drücken ihr Bedauern über die Verheerungen des Krieges gegenüber diesen Menschen aus.3

Der Sprachgebrauch vom „Durchkämmen“ und „Säubern“ im Sinne einer „Radikalisierung des Sagbaren“ wie Kipp ihr zweites Großkapitel nennt, findet sich entsprechend in den Befehlen zur Entfernung und Liquidierung von Partisanen und Juden. Ordnung und Sauberkeit als deutsche Tugenden gegen den Dreck und die Verkommenheit der minderwertigen slawischen Massen waren auch ein in der NS-Gesellschaft insgesamt gängiges Bild. Speziell für die Masse der einfachen Soldaten wurden solche Vorstellungen in den von der Propagandaabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht in hoher Auflage herausgegebenen „Mitteilungen für die Truppe“ verbreitet. Alltagserfahrungen der Soldaten, NS-Propaganda und die Diktion verbrecherischer Befehle wirkten zusammen um den Gegner zu entmenschlichen. Die vielfältigen Klagen über Dreck, Wanzen und Läuse gingen Hand in Hand mit Feindbildern in Form aggressiver Wendungen gegen hinterhältige Partisanen und Juden. Häufig beteuerten die Soldaten in ihren Briefen, der Bolschewismus sei noch schlimmer und die Bevölkerung noch verkommener, als man sich überhaupt habe vorstellen können. Kipp nennt diese ineinander verflochtenen Narrative einen „integralen Bestandteil fast jeder Kommunikation zwischen Front und Heimat“, sowohl die offizielle Korrespondenz wie auch die private betreffend (S. 204). Was alles gesagt werden konnte, zeigt Kipp am Beispiel der zur Veröffentlichung gedachten Kriegschronik der lippischen Kleinstadt Lage, die der 1933 zwangspensionierte, als liberal eingeschätzte und den Nationalsozialisten eher fern stehende Schulrat Fritz Geise zusammenstellte. Geise hatte keine Bedenken Feldpostbriefe wie den eines Lager Bürgers vom März 1943 aufzunehmen, der schreibt, selbstverständlich gelte bei diesem Krieg: „Was dabei vor unsere Flinte kommt, wird erschossen. Ganz gleich, ob Frau oder Kind.“ (S. 208) Aber auch viele andere Quellen zeigen, dass von Soldaten, so Kipp, „teilweise offener über genozidale Erlebnisse berichtet wurde, als in der Nachkriegszeit lange vorstellbar schien“ (S. 222).

Für die „Gewaltpraxis im Vernichtungskrieg“ bzw. die „Radikalisierung des Machbaren“ wie Michaela Kipp ihr abschließendes Großkapitel überschreibt, war dieses scheinbar von den Alltagserfahrungen der Soldaten verifizierte Feindbild von dem mit allen Mitteln zu bekämpfenden Konglomerat an Bolschewisten, Juden, Partisanen und zu verachtenden heruntergekommenen Menschenmassen ein wichtiges Motivations- und Legimitationsmuster, um aus eigenem Antrieb zu handeln. Kipp weist zurecht darauf hin, dass der NS- wie auch Wehrmachtsführung „positiv motivierte Soldaten, die sich als eigenständige Akteure statt als entmündigte Befehlsempfänger erleben“ erreichen wollte, die ihre Befehle als Aufträge verstehen und so besser effektiver handeln sollten (S. 338). Aus diesem Grund wurde beim so genannten Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941 verfügt, dass strafbare Handlungen von Wehrmachtsangehörigen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung nicht von Kriegsgerichten verfolgt werden sollten. Nur so ist zu verstehen, dass Wehrmachtssoldaten Briefe an die Heimat richteten, in denen sie sogar die Erschießung von mehreren Tausend Russen rechtfertigten (S. 357) oder ganz selbstverständlich zustimmend über eigenmächtige Gewaltaktionen berichteten, etwa wenn ein Hauptmann im September 1944 schreibt, wo „Heckenschützen“ auftreten, wird eben „das nächste Dorf […] von den Soldaten in begreiflicher Erregung angezündet. Man sieht auch Gehenkte, das sind freundliche Erinnerungen an Rußland“ (S. 399).

Michaela Kipp kann in ihrer überzeugenden qualitativen Auswertung der Feldpostbriefe zeigen, wie sehr die Alltagsüberzeugungen von Wehrmachtssoldaten von eigener Reinlichkeit und feindlichem Schmutz nicht nur das eigene Überlegenheitsgefühl beförderten, sondern eine wichtige mentale Grundlage für die gesteigerte Gewaltbereitschaft im Vernichtungskrieg darstellten. Ihr Kampf um Sauberkeit wurde als Kampf um kulturelle Werte begriffen. Er diente zur Bestätigung des eigenen menschlichen Wertes, den man den Menschen der Gegenseite weitgehend absprach.

Anmerkungen:
1 Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Bataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993; Thomas Kühne, Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.
2 Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg. Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998, S. 370.
3 Nicola della Volpe, „Werden wir es jemals schaffen, nach Italien heimzukehren?“ Italienische Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Detlef Vogel / Wolfram Wette (Hrsg.), Andere Helme – andere Menschen? Heimaterfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Essen 1995, S. 113–134.

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