Cover
Titel
Kollision der Kader. Dziga Vertovs Filme, die Visualisierung ihrer Strukturen und die Digital Humanities


Autor(en)
Heftberger, Adelheid
Reihe
Filmerbe 2
Anzahl Seiten
517 S., s/w Abb.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Hesse, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Freie Universität Berlin

Die Filme Dziga Vertovs (1896–1954) erreichen den Westen Europas, und Deutschland insbesondere, in drei Anläufen. Beim ersten Mal, gegen Ende der 1920er-Jahre, als der von Alfred Kerr so getaufte Russenfilm für einiges Aufsehen sorgt, kommt der unverhofft berühmte Regisseur sogar gelegentlich zu Besuch, um eines seiner Werke hier vorzustellen. Autoren wie Walter Benjamin und Siegfried Kracauer setzen ihm die ersten literarischen Denkmäler in deutscher Sprache, so als ahnten sie bereits, dass mit der Erfüllung der revolutionären Hoffnungen, die seine Filme in Aussicht stellen, schon nicht mehr zu rechnen sei. Eine merkwürdige Koinzidenz, dass bald nach der Einführung der synchronen Tonaufnahme, der Vertov in einer experimentellen Filmsymphonie mit dem Titel „Enthusiasmus“ (1930) einen noch heute recht unwegsam anmutenden Weg bahnt, eine ganze Epoche, keineswegs nur die des stummen Films, zu Ende geht.

Die zweite Ankunft ereignet sich in der Nachwelt, die der in der Sowjetunion als sentimental verrufene Marcel Proust als das Fortleben des Werks charakterisiert; ohne schon an eine Welt zu denken, die ihren zweiten Untergang innerhalb eines nicht einmal halben Jahrhunderts durch desto routiniertere Betriebsamkeit zu annullieren sucht. Die dagegen in den 1960er-Jahren protestieren, werden sich ironischerweise bald einer ganz ähnlichen Geschäftigkeit hingeben und jene unausdenkbar missglückte Geschichte in wie auch immer revolutionärer Absicht aufs Neue zitieren. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass neben neuen Idolen aus fernen Ländern (Ho Chi Minh, Mao Tse Tung, Che Guevara) noch manche alte aus dem notdürftig reparierten und inzwischen entzweiten Europa wiederauftauchen, darunter der fast schon vergessene Dziga Vertov. Nach ihm benennt Jean-Luc Godard 1968 eine Filmgruppe, die es sich zur Aufgabe macht, „die Klassengegensätze mit Bildern und Tönen zu studieren.“1 Vertovs Namen plakatieren zur selben Zeit auch Studenten in West-Berlin, unter ihnen Harun Farocki und Hartmut Bitomsky, an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb), die sie für einige Wochen in Besitz nehmen. Auf der anderen Seite der Mauer erscheinen bereits einige Schriften Vertovs erstmals auf Deutsch2, binnen kurzem eine kleinere Auswahl auch im Westen.3 Wer noch kaum einmal Gelegenheit bekommt, einen Film dieses schon legendären Avantgardisten zu sehen, kann immerhin dessen Texte lesen. Der so kanonisierte Pionier des dokumentarischen Films gilt fortan zugleich als einer der ersten Theoretiker seines Metiers; und bald als Klassiker eines neuen akademischen Fachs, nämlich der sich allmählich etablierenden Filmwissenschaft. Die bis heute zahlreich publizierten Aufsätze und Bücher über Vertov lassen sich im Internet leicht aufspüren. Ebendort kann man auch einen großen Teil seines Werks besichtigen, wiewohl in sehr unterschiedlichen, um nicht zu sagen: unzuverlässigen, digital reproduzierten Fassungen.

Eine nicht mehr von politischen Erwartungen getriebene, sondern vornehmlich wissenschaftliche Rezeption mag nach dieser etwas weiter ausgreifenden historischen Einleitung an dritter Stelle stehen. Die Dziga-Vertov-Sammlung des Österreichischen Filmmuseums in Wien, kuratiert von der Autorin des hier vorzustellenden Buchs, hat sich darum besonders verdient gemacht, zunächst durch eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Edition einiger Filme Vertovs. Aus der minutiösen Arbeit daran ist zuletzt diese voluminöse Studie hervorgegangen. Nachdem mit der Veröffentlichung der Tagebücher bereits der unter dem bolschewistischen Lederkostüm verborgene „Filmdichter“ sichtbar geworden ist4, der sich selbst in der Öffentlichkeit lieber als ein die Kunst geringschätzender Mann mit der Kamera präsentiert, der nichts anderes tue, als die objektive Wirklichkeit mithilfe eines Objektivs aufzunehmen, führt Adelheid Heftberger dem Leser nun sehr anschaulich vor Augen, wie das von Vertov so genannte Filmauge operiert und was es auf seinen reprojizierten Bildern zu erkennen gibt, sobald der Zuschauer sich seinerseits technisch bewaffnet.

Diese bisher umfangreichste Monographie über Vertov bietet keine möglichst umfassende Werkschau. Vielmehr handelt es sich um eine Probe empirisch-analytischer Filmforschung, vorgeführt anhand acht ausgewählter Filme, die man getrost als Vertovs Hauptwerke ansehen mag: „Kinoglas“ (Filmauge, 1924), „Schagaj, Sowjet“ (Vorwärts, Sowjet, 1926), „Schestaja tschast mira“ (Ein Sechstel der Erde, 1926), „Odinnadzaty“ (Das elfte Jahr, 1928), „Tschelowek s kinoapparatom“ (Der Mann mit der Kamera, 1929), „Entusiasm“ (Enthusiasmus, 1930), „Tri pesni o Lenine“ (Drei Lieder über Lenin, 1934) und „Kolybelnaja“ (Wiegenlied, 1937). Zur Sprache kommen dabei freilich auch die heiklen Produktionsbedingungen in der Sowjetunion sowie die Darstellung Stalins in den beiden letztgenannten Filmen, die man in späteren Fassungen retouchiert hat. Im Mittelpunkt aber steht nicht die politische Wahrhaftigkeit der Filme, sondern, wenn man es scheinbar paradox ausdrücken möchte, ihre materiale Form, nämlich die im Titel angezeigte Kollision (im weiteren Verständnis auch Konstruktion) der Kader. Wichtiger als der Bezug dieser Filme zu der in ihnen dargestellten Wirklichkeit ist der der formalen Analyse zu ihrem Gegenstand, das heißt zu den Filmen selbst – und damit auch die Frage nach ihrer Überlieferung.

Man mag es für eine Ironie oder zumindest Kuriosität halten, dass die Filmwissenschaft, deren Protagonisten gerne dem Film als Medium im elementaren Sinne das Wort reden, in ebenso elementarem Sinne weithin eine Videofilmwissenschaft ist. Die meisten ihrer Beobachtungen verdanken sich der Untersuchung solcherart reproduzierten Materials, das sich vergleichsweise leicht handhaben lässt. Ohne Videobänder und schließlich Datenströme bliebe der größte Teil der Filmgeschichte schlechterdings unsichtbar. Heftberger aber nimmt den Film in seiner schon antiquierten Materialität so ernst, wie es dessen Überlieferung von Archivaren und Restauratoren verlangt, und bedient sich zu diesem Zweck zugleich der neuesten digitalen Technologie. Die menschlichen Augen, sagt Vertov, sähen „sehr schlecht und sehr wenig“; die Filmkamera sei erfunden worden, „um tiefer in die sichtbare Welt einzudringen, um die visuellen Erscheinungen zu erforschen und aufzuzeichnen, um nicht zu vergessen, was geschieht und was man in Zukunft zu berücksichtigen hat.“5 Jene Augen, stellt Heftberger fest, reichten indes sogar kaum hin, zu erkennen, was Vertovs Filme als Produkte von Aufnahme, Schnitt und Montage zeigen. Die Analyse verfolgt den Produktionsprozess Schritt um Schritt zurück, freilich ganz analytisch, nicht chronologisch; entscheidend ist nicht die Entstehung eines Films, sondern dessen mithin entstandene, jedoch von Fall zu Fall in unterschiedlichen Varianten überlieferte Form, die hier einer genauen wissenschaftlichen Beobachtung erst zugänglich gemacht wird.

Detailliert Auskunft gibt Heftberger auch über ihre eigenen Verfahren, die bisher nur wenigen selbst im näheren Bereich dieses Fachs geläufig sein dürften. Genannt seien vor allem das am Wiener Filmmuseum vor über zehn Jahren begonnene Projekt „Digital Formalism“, das technische Werkzeuge für die einst von den russischen Formalisten begründete formale (respektive strukturale) Analyse entwickelt hat, sowie die Software Cinemetrics, die nicht nur eine quantitativ exakte Analyse von Filmen, sondern eine ebenso anschauliche Darstellung dessen erlaubt, was sich in einem Film jeweils ereignet; wobei die so technifizierten Beobachtungen der filmischen Technik sich primär auf die visuelle Gestaltung und dabei wiederum auf die Montage mehr als die in Einstellungstypen erfasste Mise-en-scène konzentrieren, hingegen die Tonspur, sofern denn eine vorhanden ist, nur am Rande berücksichtigen. Dass Filme, und zwar ausgerechnet in einem Buch, einer sekundären Visualisierung bedürfen, an diese sonderbare Verkehrung muss man sich vielleicht erst gewöhnen. Die hier vorgelegten Ergebnisse lassen vermuten, dass eine Poetik des Films sich künftig nicht mehr allein auf Gelehrsamkeit und intuitives Urteilsvermögen verlassen dürfte.

Empirische Forschung ist in der Filmwissenschaft traditionell nicht sehr gebräuchlich; abgesehen von älteren Versuchen etwa einer Filmsoziologie, die sich auf der Grundlage statistischer Daten mit einerseits der Industrie und andererseits dem Publikum befasst. Und noch heute, da Kognitionswissenschaften und computerbasierte Instrumente ganz neue Möglichkeiten der quantitativen Analyse auch der Filme selbst bieten, scheint sie nicht wohlgelitten. Mit dieser methodologischen oder, weiter gefasst, epistemologischen Frage setzt sich Heftberger eingangs auseinander. Über die ihrerseits höchst zweifelhafte Alternative, entweder in positivistischer Tradition die einst von Gilbert Cohen-Séat so genannten faits filmiques zu notieren oder in der auch in diesem Fach penetrant beliebten Manier eines Allerweltsdekonstruktivismus etwas wie Tatsachen, geschweige denn Wahrheit, für recht beliebig konstruiert zu halten, bliebe einiges zu sagen. Hier mag der Hinweis genügen, dass eine formale Analyse, wie Heftberger sie vorlegt, orientiert am russischen Formalismus sowohl wie an dem von David Bordwell und Kristin Thompson begründeten Neoformalismus, einer solchen Vorentscheidung gar nicht bedarf. Fraglich bliebe eher, was man mit den Ergebnissen einer dermaßen akkuraten Analyse anfangen möchte; eine Interpretation könnte auf dieser Grundlage neu beginnen. Den Filmen Vertovs scheint die hier gewählte Methode durchaus angemessen. Faktographie, wie Spötter es nennen, war ihm selbst alles andere als unheimlich. Auch graphische Visualisierungen filmischer Strukturen waren ihm keineswegs fremd, wie das in diesem Buch ebenfalls vorgestellte „schöpferische Laboratorium“ Vertovs zumindest erahnen lässt.

Heftberger hat eine Pionierarbeit vorgelegt, die nicht nur bislang verwehrte Einblicke in den filigranen Aufbau der bedeutendsten Filme Vertovs, sondern zugleich Aufschluss darüber gibt, wie dessen eigene Theorie des Films aus seiner praktischen Arbeit erwachsen sein mag. Zu den poetischen Dokumentarfilmen, wie Vertov selbst sie nennt, liefert sie gleichsam eine Analyse der Metren und Reimschemata und gar der einzelnen Lautfolgen, deren Ergebnisse sie dem Leser auch graphisch vor Augen führt. In welchem Umfang der digitale Formalismus die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Film verändern wird, kann noch niemand vorhersehen. Welche Möglichkeiten eine „kinometrische“ Untersuchung des Materials der Filmhistoriographie (im genauen Sinne des Wortes) bietet, davon immerhin gibt diese höchst originelle Studie einen exemplarischen Eindruck.

Anmerkungen:
1 Jean Luc Godard, Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950–1970), hrsg. von Frieda Grafe, München 1971, S. 187.
2 Dsiga Wertow, Aufsätze, Tagebücher, Skizzen, Berlin 1967. Es handelt sich hierbei um die deutsche Übersetzung eines von Sergej Drobaschenko ein Jahr zuvor in Moskau herausgegebenen Bandes ausgewählter Schriften und Aufzeichnungen.
3 Dziga Vertov, Schriften zum Film, hrsg. von Wolfgang Beilenhoff, München 1973.
4 Dziga Vertov, Tagebücher/Arbeitshefte, hrsg. von Thomas Tode / Alexandra Gramatke, Konstanz 2000 (die Rede vom „Filmdichter“ darin auf S. 60).
5 Vertov, Schriften, S. 41.