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Titel
Der Vampir. Ein europäischer Mythos


Autor(en)
Bohn, Thomas
Erschienen
Köln 2016: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Thomas M. Bohn, Professor für Geschichte Osteuropas an der Universität Gießen und durch mehrere Aufsätze zum Thema ausgewiesen, sucht mit seinem Buch nach den „tatsächlichen Ursprüngen des Vampirglaubens“ (S. 9) und will „den Vampir als einen europäischen Mythos […] rehabilitieren“ (S. 10). Bohn erzählt Berichte, in denen Vampire eine Rolle spielen, sowie gelehrte Abhandlungen ausführlich nach; die Fallgeschichten sind im Buch kursiv kenntlich gemacht. Zusammengetragen hat er Quellen von den isländischen Sagen des 13. Jahrhunderts, die Wiedergängerfälle aus der Zeit um 1000 behandeln, und der russischen Nestorchronik für 1015 bis zu Berichten in der jüngsten Vergangenheit. Einordnungen und Erläuterungen fallen dabei häufig recht knapp aus. Die jüdischen und antiken Erzählungen betrachtet er anscheinend nicht als Teil des europäischen Mythos, und auch die westeuropäischen Traditionen sind unterbelichtet. Ebenso hätte es nichts geschadet, wenigstens kurz auf frühe Vorstellungen über die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits sowie deren Mittler einzugehen und dabei beispielsweise einen Blick auf die Schamanen oder Formen des Ahnenkultes zu werfen.

Die Ursprünge des Vampirglaubens sieht Bohn in animistischen Vorstellungen von einem „Leben mit den Toten“ (S. 33). Wiedergänger als „lebende Leichname“ (S. 34) traten auf, wenn sie eines unnatürlichen Todes gestorben waren oder im Diesseits noch wichtige Angelegenheiten zu erledigen hatten. Dabei konnten sie Gutes bewirken, vor allem aber Menschen schädigen, Seuchen hervorrufen, Vieh sterben lassen oder für andere ungeklärte Vorfälle verantwortlich gemacht werden. In ritualisierten Formen mussten sie endgültig getötet werden.

In mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen zu Wiedergängern kommen Blutsauger nur selten vor. Beispiele finden sich etwa im England des 12. Jahrhunderts und in Polen 1674. Vermutungen, es handele sich um blutsaugende Vampire, entstanden dadurch, dass die Leichen mit frischem Blut gefüllt schienen. Ähnlich verhielt es sich dann bei den berühmten Vampir-Entdeckungen seit 1725 in der südosteuropäischen Grenzregion zwischen Habsburger und Osmanischem Reich – zwischen katholischer, protestantischer, griechisch-orthodoxer und islamischer Welt –, die überregional Aufsehen erregten und zu einer gesamteuropäischen Vampirdebatte führten. In den Untersuchungen der Fälle und in den Diskussionsbeiträgen wurde das Blutsaugen als typisches Merkmal des Vampirs konstruiert. Dieser Begriff taucht übrigens in diesem Zusammenhang ebenfalls erstmals auf, in der Bevölkerung waren (und sind) andere Bezeichnungen gängig. Mit der Zuschreibung des Blutsaugens erfolgte zugleich seitens der aufgeklärten, „zivilisierten“ Welt des Westens eine Verortung des „Aberglaubens“ – Bohn problematisiert diesen Wortgebrauch nicht – im „‚rückständigen’ Osten“ (S. 125) und eine Übertragung des Vampirbegriffs auf abgelehnte gesellschaftliche Gruppen, nicht zuletzt auf Juden. Nicht zustimmen kann ich Bohns Auffassung, in der „Einbindung der Blutsaugermetapher in den Kanon antijüdischer Stereotype“ zeige sich „die Beliebigkeit des Diskurses“ (S. 133). Aufgrund der Bedeutung, die das Blut schon im Mittelalter für die Abgrenzung von den Juden hatte, war deren Einbeziehung in den Kreis der Vampire keineswegs zufällig. Weiterführend sind Bohns Hinweise auf die Zusammenhänge von Hexenverfolgung und Wiedergängererscheinungen, auf die oft hilflosen Maßnahmen der Obrigkeiten zur Bekämpfung des Volksglaubens oder auf die unterschiedlichen Vorstellungen in den Religionen darüber, ob der verweste oder der unverweste Leichnam in das himmlische Reich einziehen werde und welche Rolle die Seele dabei spiele.

Bohn will die Konstruktion des Vampirs vom „Volksglauben“ unterscheiden. Aber was bedeutet dieser Begriff, und wie lassen sich Vorstellungen, die in der Bevölkerung verbreitet sind, fassen? Bohn geht von gelehrten Schriften, ethnographischen Studien, theologischen Abhandlungen, Sagen und Märchen sowie Schilderungen von Vorfällen aus, um auf den Volksglauben zurückzuschließen. Unklar bleibt, warum er im Kapitel über den Volksglauben diesen erst ab dem 18. Jahrhundert thematisiert. Anzuerkennen ist Bohns Verfahren, in knappen Überblicken den jeweiligen historischen Hintergrund in der betreffenden Region nachzuzeichnen. Allerdings bezieht er ihn meist nicht auf die konkreten Umstände seiner Fallgeschichten, sodass es für die Leserinnen und Leser schwierig sein dürfte, sich die Zusammenhänge vorzustellen. Etwas mehr Analyse wäre zu wünschen gewesen, wenn Bohn etwa die Vampirgeschichten in Märchen- und Sagensammlungen als Ausdruck des Volksglaubens übernimmt und sie als „bizarr“ (S. 193, 200), „amüsant“ (S. 193), „skurril“ (S. 195, 205) oder „markant“ (S. 195) bezeichnet und zu ethnographischen Abhandlungen bemerkt, ihnen hafte „etwas Schelmenhaftes an, teilweise sogar eine Prise Sozialkritik“ (S. 195).

Auch sonst wirkt die Interpretation manchmal verkürzt. Beispielsweise folgert Bohn ohne vertiefende Erläuterungen aus referierten Berichten der Zwischenkriegszeit über griechische Vampire: „Der Vampir steht hier für Multiethnizität und Kulturtransfer. Er fungiert als Modus der Konfliktregulierung.“ (S. 215) Dankenswerterweise widmet Bohn dem „Vampirismus bei den Roma“ (S. 265) längere Ausführungen. Deren Vorstellungen über den „Mulo“ – einen Wiedergänger aus Fleisch und Blut, ohne Blutsaugerei und ohne Knochen – sind noch viel zu wenig bekannt. Bohn beruft sich hauptsächlich auf ältere, nicht unproblematische Forschungen und weist mehrfach auf die marginalisierte Stellung der Roma hin, die sie in Verbindung mit Vampirfällen bringt. Allerdings ist er dabei nicht frei von Klischees, so wenn er schreibt: „Das Henkeramt [an Leichen, die als Vampire verdächtigt wurden] hatten im Dorf lebende Roma zu übernehmen, die als Außenstehende offenbar skrupelloser vorzugehen bereit waren als die Einheimischen.“ (S. 118) Gar nicht verwertet er Studien, die die besondere Beziehung der Roma zu ihren Toten aufzeigen. Stattdessen beschränkt er sich auf die Feststellung, deren „Wiedergängervorstellungen könnten im Wegenetz kulturellen Transfers eine Rolle gespielt haben, die durchaus von Interesse ist“ (S. 271).

Als Ergebnis kommt Thomas Bohn zum Schluss, dass den südosteuropäischen Wiedergängern durch den westlichen Vampirdiskurs „das Bild des Blutsaugers übergestülpt“ und im Grenzraum zwischen den verschiedenen Kulturen ein „Vampirgürtel“ konstruiert worden sei (S. 293). Im Volksglauben sei der Vampir ein „Produkt der Phantasie und Angst, ferner ein Ausdruck des schlechten Gewissens bzw. der falschen Verdächtigungen“ gewesen (S. 296). Die Vampirvorstellungen hätten sich auf den Kontakt mit dem Jenseits und den Verstorbenen gerichtet und die Funktion gehabt, die Ursachen von Seuchen, Dürreperioden und anderen Katastrophen zu erklären sowie „Störenfriede“ zu entlarven und „Sündenböcke“ auszugrenzen, manchmal sogar zu töten (S. 294f.). Der Blutsauger stand beim Vampirglauben nicht im Vordergrund, sondern – wie Bohn schreibt – der „aufgeblähte Leichnam“ stellte „die eigentliche Bedrohung“ dar. Diesen zu pfählen oder zu durchstechen habe, so seine Pointe, eine „Wiederherstellung der Ordnung durch Dampfablassen“ bedeutet. Christian Stieff habe diesen „Schlüssel zur Lösung des Rätsels vom Vampir“ bereits 1737 erkannt, als er scherzhaft den Begriff „Vampir“ von „dicke Wampe“ abgeleitet habe (S. 296). Dies wäre zu diskutieren: War nicht die Begegnung mit dem Jenseits die tiefste Bedrohung, aber zugleich eine Sehnsucht? Stellt die Wiederherstellung der Ordnung nicht nur einen Aspekt des Vampirmythos dar?

In seiner Untersuchung fasst Bohn zahlreiche Forschungen zusammen. Leider verzichtet er aber auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, sodass der Leser nicht nachvollziehen kann, inwieweit Bohn auf bisherigen Arbeiten aufbaut und wo er in neue Bereiche vorstößt. Knappe Hinweise auf Studien – in der Bundesrepublik Deutschland lediglich auf eine ältere Debatte – bilden hierfür keinen Ersatz. Bohn unterstreicht die in der Forschung bereits herausgearbeitete These, die die spezifisch osteuropäische Variante des Vampirs als Ausdruck der Rückständigkeit und Barbarei dieses Raumes in das Reich der Konstruktion verweist. Insgesamt löst er jedoch den Anspruch, einen „europäischen Mythos“ zu behandeln, nur teilweise ein. Dennoch: das verdienstvolle Aufspüren der überlieferten Vampirfälle, gegliedert nach – meist – osteuropäischen Regionen, macht das Buch zu einem nützlichen Werk, auf dem die weitere Forschung aufbauen kann.