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Titel
Die Textilien des Hanseraums. Produktion und Distribution einer spätmittelalterlichen Fernhandelsware


Autor(en)
Huang, Angela
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte LXXI
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Colin Arnaud, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Hanseraum im Spätmittelalter ist als Gewerbelandschaft von der Forschung bisher kaum ernst genommen worden. Gerade die norddeutschen Textilien wie etwa die westfälischen Leinwände wurden bisher als regionale Absatzgüter ohne Bedeutung für den hansischen Fernhandel abgetan. Diese vorherrschende Forschungsmeinung wird von Angela Huang in ihrer Kopenhagener Dissertation grundsätzlich revidiert. Dies gelingt ihr durch zwei Perspektivenwechsel. Einerseits fokussiert sie besonders auf billigere Textilien, während die bisherige Hanseforschung vorwiegend den Handel mit kostbaren flämischen und englischen Wolltuchen berücksichtigte. Anderseits betrachtet sie den ganzen Hanseraum jenseits der wichtigeren Häfen und Kontore. Dabei unterscheidet sie zwischen Hanse, Hanseraum und Hansestadt. Während sie keine genuin hansische Textilproduktion nachweisen kann, also kein Gewerbe, das „durch den Dachverband initiiert bzw. getragen wurde“ (S. 22), findet sie sehr wohl eine hansestädtische Produktion – also aus einzelnen Städten, die aktiven Gebrauch der hansischen Handelsprivilegien machten – und darüber hinaus eine Produktion im Hanseraum, das heißt in dem „durch das binnenhansische Handels- und Kommunikationsnetzwerk abgedeckte[n] Raum“ (S. 19). Durch diese Abstufung kann Huang die westfälischen und sächsischen Produktionsstädte differenziert in der hansischen Wirtschaft verorten.

Kern der Studie bildet die quantitative Auswertung der Londoner Zollakten zwischen 1384 und 1503. Besonders zwei Arten von Zolllisten geben Auskunft über die Textilimporte nach London: die „Tunnage & Pondage“- und die „Petty Custom“-Akten, die im Gegensatz zu den ersteren nur die Einfuhren der ausländischen Kaufleute verzeichneten. Für den untersuchten Zeitraum sind immerhin 27 Akten der ersten Kategorie und 16 der zweiten erhalten (S. 38). Huang stützt sich auf die ungedruckte Edition der Zollakten von Stuart Jenks (S. 238). Dass das eine problematische Materialbasis ist, thematisiert Huang aber nicht. Sie macht z. B. nicht klar, wie weit die von ihr benutzte Edition gediehen war. Unklar bleibt auch, ob sie deren Text systematisch oder stichprobenartig mit der Originalüberlieferung verglichen hat. Allerdings weist die klare und genaue Darstellung auf eine sorgfältige Quellenarbeit hin.

Zunächst hebt Huang den hohen Umfang und die steigende Bedeutung des Leinwandimports nach London hervor. Neben den Niederlanden stellte der Hanseraum die häufigste Provenienz der Leinwände dar und umfasste im Durchschnitt ein Drittel der Tuchimporte nach London. Im Lauf des 15. Jahrhunderts spezialisierten sich die Niederlande auf hochwertige Leinwände, während die Leinwände des Hanseraums am Ende der Preisskala für Markentuche blieben und somit ein wichtiges Marktsegment abdeckten. Bei genauerer Betrachtung schälen sich drei Phasen heraus, in denen unterschiedliche Leinwandsorten aus dem Hanseraum dominierten: In der ersten Phase bis ca. 1420 wurden vorwiegend Sorten mit regionalen Bezeichnungen importiert, vor allem „Westfale“, aber auch „Prussie“. Danach setzten sich bis in die 1460er-Jahre hansestädtische Sorten aus dem sächsischen Raum, insbesondere die Sorten aus Göttingen, Salzwedel und Braunschweig durch. Ab ca. 1470 wurden verstärkt Sorten mit westfälischen Städtenamen wie Herford, Osnabrück und Münster importiert. Die Entwicklung von einer unbestimmten regionalen Namensgebung hin zu einer städtischen zeigt eine verstärkte Standardisierung der Textilien aus dem Hanseraum durch städtische Kontrolle. Als ersten gelang es den sächsischen Städten, ihre jeweilige Produktion auf der Ebene der Stadt zu vereinheitlichen und ihre Leinwände als spezifische Handelsmarken zu etablieren. Daraufhin reagierten die westfälischen Städte mit einer noch strengeren städtischen Zertifizierung („legge“), die von unabhängigen, vereidigten Leinwandmessern durchgeführt wurde. Das Siegel oder der Stempel der Stadt garantierte bestimmte Eigenschaften und verwandelte ein gewöhnliches Tuch in eine Handelsmarkenware. Dabei wurden die Leinwände nicht unbedingt in der Stadt hergestellt. Huang analysiert zwar Stadt für Stadt die jeweils vorhandenen Quellen der Leinenweberzünfte, allerdings äußert sie wiederholt die Vermutung, dass die meisten Weber aus dem Umland gekommen seien. Trotzdem könne die Leinwand als (hanse-)städtische Produktion bezeichnet werden: Die wahren Produzenten der Markenwaren seien nämlich nicht die Weber selbst, sondern die Kaufleute der Produktionsstädte gewesen, die die Zertifizierung und Versiegelung der Tuche organisierten (vgl. S. 117).

Mit dieser provozierenden These hebt Huang die Bedeutung der Standardisierung und Zertifizierung für die Vermarktung der Leinwand im hansischen Handelsnetzwerk hervor. Die Komplexität und die Dynamik der Leinwandproduktion in den Gewerberegionen sind damit aber noch nicht vollständig herausgearbeitet. Wünschenswert wären weitere Studien über die Verhältnisse zwischen den jeweiligen Akteuren der Leinwandproduktion im Hanseraum. Huang fokussiert ihrerseits jedoch auf den Handel und widmet sich deshalb im zweiten Teil ihrer Fallstudie den Akteuren und der Geographie des Distributionsnetzwerks der hansestädtischen Leinwände. Als Hauptimporteure fungierten in einer ersten Phase die Londoner Mercers. Der Handel zwischen dem Hanseraum und London war von hansischer Seite bis 1474 überwiegend von den Kölner Kaufleuten dominiert. Anstatt sich direkt Konkurrenz zu machen, trafen sich die Londoner Mercers und die Kölner Kaufleuten auf dem Mittelweg – an den Brabanter Messen oder im seeländischen Middelburg. In diesen Umschlagplätzen konnten beide Parteien kooperieren und etwa deutsche Leinwände gegen englische Wolltuche austauschen. Der hansisch-englische Krieg (1469–1474) veränderte diese Verhältnisse. Die Leinwandausfuhr nach London wurde von der Hanse verboten und sank maßgeblich. Die Bemühungen von Köln, den Londonhandel beizubehalten, wurden von hansischen Strafen gefolgt: Auch nach dem Krieg wurden die Kölner Kaufleute zeitweise vom Londoner Stahlhof ausgeschlossen. Kaufleute aus anderen hansischen Häfen – insbesondere aus Hamburg – profitierten vom Wiederaufblühen der Handelsbeziehungen mit England, um nach dem Krieg die Leinwände des Hanseraums selbst nach London zu exportieren. Deshalb waren die Londoner Mercers in diesem Geschäft ab den 1480er-Jahren nicht mehr in Führung und betrachteten daher die hansischen Kaufleute nun als direkte Konkurrenten.

Von den Produktionsstädten her fanden die Leinwandsorten den Weg nach London über zwei unterschiedlichen Umschlagplätze: Während Münster, Osnabrück, Herford und Göttingen ihre Produktion über Köln absetzten, wurden die Leinwände aus Salzwedel, Hannover und Braunschweig über Lüneburg nach Hamburg transportiert, um von dort nach London – eventuell über Amsterdam oder Middelburg – verfrachtet zu werden. Diese besonderen Beziehungen zwischen Produktions- und Umschlagplätzen im hansischen Binnenraum spiegelten sich auch im zwischenstädtischen ‚Schachspiel‘ wider. Huang stellt somit die westfälischen bzw. sächsischen Städte als aktive Akteure der hansischen Politik dar und erklärt ihre unregelmäßige Teilnahme an Hansetagen mit einem strategischen Desinteresse an der Tagesordnung mancher Hansetage. So konnte die demonstrative Abwesenheit seitens der sächsischen Städte einen Protest gegen die für sie ungünstige Handelspolitik Hamburgs oder seitens der westfälischen Städte eine Ablehnung der anti-kölnischen Politik der Hanse bedeuten (vgl. S. 191).

Im letzten Teil des Buches erweitert Huang die Untersuchung auf die Wolltuche des Hanseraums. Ähnlich wie die Leinwände deckten die ungefärbten Wolllaken aus Preußen sowie aus sächsischen und wendischen Hansestädten das Marktsegment der preisgünstigen und minderwertigen Sorten, nichtsdestotrotz wurden sie im großen Umfang durch das hansische Handelsnetzwerk vermarktet.

Huangs Selbstverortung zwischen Hansegeschichte und Textilgeschichte tendiert letztendlich in Richtung Hansegeschichte. Sie setzt sich intensiv mit der Forschung über den hansischen Handel auseinander, ist aber kaum an einem Vergleich mit anderen Textilproduktionslandschaften interessiert. Dabei bietet ihre Studie auch für die Geschichte der Textilindustrie durchaus neue Perspektiven. Das hansestädtische Leinengewerbe war eine Massenproduktion standardisierter Waren für den Großhandel, entspricht demzufolge den Merkmalen einer Industrie, wie man sie eher für die damalige hochwertige Woll- und Seidenindustrie erwartet, bei der der Unternehmer durch ein ausgegliedertes Verlagssystem die ganze Produktion kontrollierte. Da das Leinwandgewerbe angeblich im Kaufsystem organisiert war, determinierte der Kaufmann die Produktion lediglich durch die Zertifizierung am Ende, was jedoch für eine Standardisierung anscheinend ausreichte. Das Buch von Angela Huang regt also zu einer Neubewertung der Leinenindustrie und zu weiteren Studien an, vielleicht im Vergleich mit anderen Leinenregionen wie Oberschwaben, den Niederlanden und der Champagne.

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