J. Gieseke u.a.: Die Staatssicherheit und die Grünen

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Titel
Die Staatssicherheit und die Grünen. Zwischen SED-Westpolitik und Ost-West-Kontakten


Autor(en)
Gieseke, Jens; Bahr, Andrea
Erschienen
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Kittel, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Dass die Partei „Die Grünen“ und ihr West-Berliner Landesverband „Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz“ (AL) unter Beobachtung der Staatssicherheit der DDR standen und sogar Informanten im inneren Umfeld platziert hatten, war schon kurz nach dem Fall der Mauer und nach der Öffnung des Stasi-Archivs mehr als nur bloßes Gerücht. Journalisten des „Spiegels“ hatten eilig Belege für verdächtige innerparteiliche Informationsgeber zusammengetragen, auch die Bundesanwaltschaft strengte frühzeitig Ermittlungen über Spionageaktivitäten in der Bundesrepublik an und kam zu ähnlichen Ergebnissen. Das „AL“-Mitglied Klaus Croissant etwa pflegte regen Kontakt zur Staatssicherheit und wurde 1993 für seine Aktivitäten zu 21 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Der ehemalige „RAF-Anwalt“ hatte auch seine Freundin Brigitte Heinrich, „Grünen“-Abgeordnete im Europaparlament, als Informantin geworben. Im Zuge der fortgesetzten Gerüchte über weitere „Spitzel in den eigenen Reihen“ gaben die „Grünen“ im Jahr 1994 schließlich selbst ein Gutachten in Auftrag. Dieser Dokumentation folgten Publikationen einschlägiger Stasi-Forscher, etwa die von Hubertus Knabe, der 1999 auch anhand der Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) bei den „Grünen“ die inzwischen weithin widerlegte These der „unterwanderten Republik“ erhob und Beispiele wie das des deutschlandpolitischen Sprechers der „Grünen“ Bundestagsfraktion Dirk Schneider anführte. Schneider habe nicht nur regelmäßig über den Verlauf und die Ergebnisse von Diskussionen berichtet, sondern sich auch in Debatten eingemischt und diese im Auftrag der SED gezielt in eine bestimmte Richtung gelenkt.1

Andrea Bahr und Jens Gieseke eröffnen ihren Band folgerichtig mit einem komprimierten Überblick über die Studien der letzten Jahrzehnte, zudem machen sie auf die lückenhafte Aktenlage aufmerksam – immerhin sind neunzig Prozent der Unterlagen der für die DDR-Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) vernichtet worden. Ihre Monografie ist das Ergebnis eines jüngeren Gutachtens, das die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ dezidiert in Auftrag gegeben hatte, um den Einfluss des MfS auf Abgeordnete und die „Grünen“-Politik zu ergründen. Bahr und Gieseke arbeiten das Thema grundlegend auf. Dabei gelingt es ihnen immer wieder – was nicht genug hervorgehoben werden kann –, trotz des vielfach bekannten Wissens neue Perspektiven einzunehmen.

Die Aufgabenstellung an das Forschungsteam war klar: Es galt zu klären, wie stark die „Grünen“-Partei „unterwandert“ war und wie sehr das MfS auf die Partei hatte einwirken können. Das Buch verfolgt die Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln. In den ersten beiden Großkapiteln behandeln Bahr und Gieseke zunächst die Politikgeschichte der „Grünen“ durch die Linse des MfS und der SED und arbeiten dann die Frage nach den beteiligten Diensteinheiten und Ressourcen des MfS sowie den Informationsgeberinnen und -gebern aus den Reihen der Partei grundlegend auf. Sodann greifen sie in vier kürzeren Kapiteln einzelne Fragestellungen noch einmal vertiefend auf. So analysieren sie den Berichtsverkehr zwischen der Staatssicherheit und der Parteiführung, nehmen die „Einreiseverbote“ gegenüber „Grünen“-Mitgliedern genauer in den Blick und widmen sich dann der Frage nach den „aktiven Maßnahmen“ – also der Beeinflussungs- oder Steuerungsversuche der „Grünen“-Aktivisten und -Aktivistinnen durch „Einflussagenten“. Ein gesondertes Kapitel behandelt die „AL“ und die besondere Ausgangssituation in West-Berlin.

Insbesondere das erste Kapitel besticht durch eine präzise Darstellung des sich wandelnden Interesses der Staatssicherheit an den „Grünen“, wobei eine jede Wendemarke zeitgeschichtlich kontextualisiert und damit auch die jeweiligen geheimdienstlichen Strategien offengelegt werden. Anhand der zur Verfügung stehenden Geheimdienstberichte wie auch Unterlagen der SED lässt sich die Entwicklung folgendermaßen abzeichnen: Der Kampf der westdeutschen Friedensbewegung, aus der die „Grünen“ entstanden, gegen den NATO-Doppelbeschluss wurde von der Parteiführung einträchtig (und anhand der Mobilisierung von DKP-Genossen) begleitet. So sollte die Bonner Regierung von Helmut Schmidt nach Vorstellung der DDR-Führung durch die Friedensbewegung zunehmend unter Druck gesetzt werden und schließlich einlenken. Auf der parteipolitischen Ebene empfand die Parteiführung die „Grünen“ aber als „Störfaktor“. Zwar kam deren Anerkennung der Zweistaatlichkeit durchaus dem Interesse der SED entgegen, doch brachten die „Grünen“ das Parteiengleichgewicht von SPD und FDP auf der einen und der CDU/CSU auf der anderen Seite durcheinander und erschwerten so potentielle Einflussmöglichkeiten. Diese Vorbehalte gegen die „Grünen“-Partei schwanden nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982/83 und der Entscheidung des Bundestags, an der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen festzuhalten. Die ostdeutschen Strategen verbanden dann mit dem Eintritt der „Grünen“ in den Bundestag die Hoffnung auf ein breites linkes Spektrum – wie auch auf vergrößerte Möglichkeiten zur Einflussnahme. Bahr und Gieseke belegen den Bedeutungswandel und Strategiewechsel mit der zahlenmäßigen Zunahme von Dossiers über Bundestagsabgeordnete und der Sammlung von Debattenprotokollen. Zudem zeichnen sie nach, wie die Staatssicherheit nun gezielt versuchte, Informanten aus kommunistischen Gruppen zu gewinnen und in der jungen Partei zu platzieren (S. 64). Zu diesen Informanten gehörte auch Dirk Schneider, dessen Aktivitäten in der Publikation an vielen Stellen als anschauliche Beispiele dienen.

Die SED-Führung ließ besonders jene parteipolitischen Akteure beobachten, die sie für „feindliche Aktivitäten“ der „Grünen“ verantwortlich machten, so etwa Petra Kelly und andere Aktive, die sich mit Friedensinitiativen in der DDR solidarisierten und ein Ende der Abrüstung in West und in Ost forderten. Illustrativ beschreiben Bahr und Gieseke die fantasievollen Versuche der „unkonventionellen Truppe“ (S. 66), Friedensinitiativen zu unterstützen und Bürgerrechtsaktivistinnen wie -aktivisten in der DDR zu besuchen – und dies häufig an der Staatsmacht vorbei. Bemerkenswert ist hierbei die schon fast selbstgerecht wirkende Selbstsicherheit, die in einem Brief Petra Kellys an Honecker vom 6. September 1984 zu Tage tritt. Darin kritisiert sie unter anderem das gegen sie verhängte Einreiseverbot und klagt „die Unfähigkeit der DDR-Staatsorgane“ zu Toleranz an. Sie schließt ihre Protestnote in der Hoffnung, Honecker werde sich „umgehend für die Freilassung der Mitglieder der unabhängigen DDR-Friedensbewegung einsetzen“ und verbleibt schneidig „in Erwartung einer Antwort und auch in Erwartung, bald wieder Einreiseerlaubnis in die DDR zu erhalten, […] mit Grüßen für eine nicht-nukleare Zukunft“. Bahr und Gieseke erläutern mit Beispielen wie diesen auch das besondere Verhältnis zwischen Erich Honecker und Petra Kelly. Ganz offenbar wurden die „Grünen“ inzwischen ernst genommen, denn auch die Antwort Honeckers zeugt nicht unbedingt von diplomatischer Zurückhaltung: Kelly möge doch bitte, „wie in jedem anderen Land, die Gesetze der DDR […] respektieren. Das gehört nun einmal zum internationalen Leben, ob es einem gefällt oder nicht.“ (S. 72)

Die Flügelkämpfe der verschiedenen politischen Lager in der Partei – die „DDR-Freunde“ und „Ost-West-Aktivisten“ – sowie die Spontaneität einzelner Mitglieder stellten für die SED-Führung ein Problem dar. Bahr und Gieseke zeichnen nach, dass die Staatssicherheit durch Telefonmitschnitte und auf Basis von Berichten ihrer „Quellen vor Ort“ bestens über interne Konflikte und Zerwürfnisse in den verschiedenen Strömungen informiert war. Dieses Wissen eröffnete wiederum neue potentielle Angriffsflächen und Einflussperspektiven. So war es wohl im Kontext jener Auseinandersetzungen, in denen Dirk Schneider die ironische Bezeichnung der „ständigen Vertretung der DDR-Interessen“ erhielt und als „ein Mann des MfS“ wahrgenommen wurde. Die sogenannte „Mittelströmung“ erschien nach der ersten Abgeordnetenrotation auf der Bildfläche. Diese Gruppe verkörpert für Bahr und Gieseke die beiden Seiten der „Grünen“. Sie nahm eine eher moderate Position gegenüber der DDR ein, indem sie zwar Kontakte zur DDR-Opposition aufrechterhielt, jedoch ohne sich deren Ziele zu eigen zu machen. Es ist eine Stärke der Publikation, dass die Darstellung der Debatten jener Zeit auf die unterschiedlichsten Quellen aufbaut – hier zum Beispiel auch auf Berichte aus dem Petra-Kelly-Archiv, dem Archiv der „Grünen“ und auf Erinnerungen der Beteiligten. Folglich werden solche zeithistorischen Schilderungen nicht allein aus der Perspektive des MfS beziehungsweise der HV A erzählt. Bezeichnenderweise taucht immer wieder der Name Dirk Schneider auf: Nicht nur ahnten seine damaligen Mitstreiterinnen und Mitstreiter seine Stasi-Kontakte, vielzählige Belege seiner Tätigkeit für die HV A liegen zudem in der Stasi-Unterlagen-Behörde vor. Anhand seiner Akte lassen sich Vorgänge, die Praxis der Informationsweitergabe, Absprachen zwischen MfS, HV A und ihren Informanten sowie die Versuche, Debatten unter den „Grünen“ zu steuern, bestens nachvollziehen.

Die Themen des zweiten Kapitels, die der Frage nach den konkreten Spionagevorgängen und Einzelpersonen nachgehen, sind ebenfalls empirisch dicht aufgebaut. Bahr und Gieseke unternehmen zudem den Versuch einer quantitativen Auswertung der „SIRA“-Datenbank, dem „System der Informationsrecherche der Aufklärung“ der HV A, in der die eingehenden Informationen und die Informationsgeber (Decknamen) aufgelistet sind. Die präsentierten Tabellen und Schaubilder überzeugen insofern, als dass sie eine numerische Zuordnung zu einzelnen „Quellen“ sowie eine zeitliche Einordnung der Aktivitäten herstellen. Gleichwohl sagt alleine die Anzahl von Informationseingängen wenig über deren Qualität aus. Solcherlei Überlegungen thematisieren Bahr und Gieseke im Folgenden durch die aktenkundlich bekannten Fälle (Dirk Schneider, das Ehepaar Doris und George Pomphrey, Klaus Croissant und Brigitte Heinrich, „Dr. Zeitz“, „Urban“ und „Doktor“, einschließlich eines Exkurses zu Gert Bastian und dessen vermeintlicher „MfS-Verstrickung“), mit denen sie sich ohne skandalisierenden Zwischenton differenziert auseinandersetzen. Die Fallbeispiele zeigen dann auch, dass von einer Steuerung oder Unterwanderung der „Grünen“ nicht die Rede sein kann, allenfalls von Versuchen und Ansätzen der Staatssicherheit, ideologisch Einfluss zu nehmen. Die daran anschließende Dokumentation verschiedener „Operativer Vorgänge“ von „MfS-Abwehrdiensteinheiten“, die die „Grünen“ überwachten, belegt die Erkenntnis, dass die SED-Führung zwar regelmäßig mit Informationen versorgt wurde und dadurch häufig über exklusives Wissen verfügte, dessen tatsächliche Wirkung indes überschätzt wurde.

Auf informiertem Niveau gehen die beiden jedem der Pfade nach, die über Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit in Bezug auf die „Grünen/AL“ Auskunft geben könnten. Empirische Sachlichkeit hat in der Publikation Vorrang vor öffentlichkeitswirksamer Aufdeckungswut. In Anbetracht der problematischen Quellenüberlieferung und vermutlich kaum lösbarer offener Fragen liefern Bahr und Gieseke eine umfangreiche und sehr gute Gesamtdarstellung ab. Sie lässt für „Bündnis 90/Die Grünen“ hoffen, dem letzten in Auftrag gegebenen Gutachten kein weiteres folgen lassen zu müssen.

Anmerkung:
1 Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999, S. 76.