Cover
Titel
White Innocence. Paradoxes of Colonialism and Race


Autor(en)
Wekker, Gloria
Erschienen
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
$ 23.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Esther Helena Arens, Universität zu Köln

Mit der traditionell im Fernsehen ausgestrahlten Ankunft des Sinterklaas (Nikolaus) mit seinen Begleitern in den Niederlanden war auch Ende 2016 wieder die Debatte über den Zwarte Piet (Schwarzer Peter) in der Öffentlichkeit angekommen. Wie rassistisch ist diese Figur, und was bedeutet die Antwort auf diese Frage für das festliche Ritual? Diese Debatte ist das abschließende der fünf Fallbeispiele, die Gloria Wekker in ihrem Buch präsentiert.

In der Einleitung definiert die Autorin „white innocence“ als Selbstbild der Weißen in den Niederlanden, als Ergebnis eines vorherrschenden Diskurses, in dem das Land als farbenblind, antirassistisch, gastfreundlich und tolerant gilt. „Whiteness“ erscheint demnach als normal. Während die Thematisierung von „race“ starke, sogar aggressive Reaktionen hervorruft, werden rassistische Ereignisse paradoxerweise negiert oder verleugnet. Wekker sieht die Ursache dafür im Umgang mit der kolonialen Vergangenheit, in der fehlenden Aufarbeitung und im Fortwirken kolonialer Muster. Mit Edward Said und Ann Laura Stoler greift sie auf das kulturelle Archiv der Niederlande zurück, um eine Ethnographie der dominanten weißen niederländischen Selbst-Repräsentation zu schreiben (S.1f. und S. 19). Außerdem bezieht sie sich theoretisch auf das „single analytical field“ von Stoler und Frederick Cooper, indem sie die Geschichte der Metropole und der Kolonien miteinander ins Gespräch bringt (S. 25). Auch wenn das Ziel des Buchs eine postkoloniale und intersektionale Analyse ist, kommt die Autorin nicht umhin, historische Fragen anzusprechen „because it offers such a different reading of Dutch history than dominant versions of that history rehearse“ (S. 20).

Aus dem ersten Kapitel „’Suppose She Brings a Big Negro Home’: Case Studies of Everyday Racism“ erwächst die wissenschaftliche Forderung, den Bestand an Bildern, Szenarien und Skripten über schwarze Frauen wie Männer zu inventarisieren, um dann die Zirkulation sexualisierter Assoziationsketten zu unterbrechen. Im zweiten Kapitel „The House That Race Built“ konzentriert die Autorin sich auf die öffentliche Hand und die Hochschulen als Orte (sites), an denen Wissen und Bedeutung von verschiedenen sozialen Gruppen produziert werden. An beiden Orten führten diskursive und organisatorische Repertoires dazu, dass Frauen auf der Grundlage ihrer „racialized position“ ihren beruflichen Platz zugewiesen bekommen, während inhaltlichen Fragen von „race/ethnicity“ weniger Bedeutung zugemessen würden als soziökonomischen Fragen der Klasse. Im dritten Kapitel über „The Coded Language of Hottentot Nymphae and the Discursive Presence of Race, 1917“ stellt Wekker fünf Felder vor, in denen niederländische weiße Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Wissen über schwarze Frauen und deren Körper in Kontakt kommen konnten, nämlich Geographieunterricht, bildende und darstellende Kunst, Kolonialausstellungen, populärwissenschaftliche Zeitschriften und schließlich Werbeanzeigen. Dieses Wissen gab den weißen Frauen die Möglichkeit, eine Position zwischen männlich und weiblich mit einer starken Libido, für die es im kulturellen Archiv der Zeit keine Ausdrucksmöglichkeit gab, zu verbalisieren, indem sie diese als schwarz und feminin rassifizierten (racialize). Im vierten Kapitel „Of Homo Nostalgia and (Post)Coloniality: Or, Where Did All the Critical White Gay Men Go?“ nimmt Wekker Selbstzeugnisse des Politikers Pim Fortuyn als Ausgangspunkt, um Affektökonomien gegenüber rassifizierten bzw. ethnifizierten Anderen zu beschreiben. Diese hätten ein sexuelle Landkarte mit typischen Empfindsamkeiten, Reaktionen und Strukturen von Gefühlen oder Gedanken produziert, sei es gegenüber schwarzen Frauen, schwarzen oder muslimischen homosexuellen Männern. Sie hebt die Gegenwärtigkeit dieser Muster hervor: „These patterns have been silently been transmitted to us in the twenty-first century and continue to structure white sexual responses whenever a racialized/ethnicized other, whether Muslim or black, comes into play.“ (S. 137) Im fünften Kapitel zur aktuellen Debatte „’ … For Even Though I Am Black as Soot, My Intentions are Good’: The Case of Zwarte Piet/Black Pete“ kritisiert Wekker, dass auf beiden Seiten die Beziehung zwischen Macht und Wissen nicht ausreichend untersucht wird. Sie verweist auf die unterschiedliche Erinnerungskultur in Bezug auf das ehemalige Niederländisch-Indien (Bedauern) im Osten und im Westen in Bezug auf Suriname (Erleichterung) und die Antillen, die teils noch zum Königreich gehören (Gleichgültigkeit und Kriminalisierung). Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war der „Zwarte Piet“ eine seltene schwarze Figur, und das Spektakel darum erscheint Wekker als Erziehung zum Mitglied der imperialen Bürgerschaft in der Metropole zu dienen sowie als Symbol der gewaltsamen Ungleichheit, die für Schwarze im Ritual vergegenwärtigt war und ist. Die Coda befasst sich noch einmal mit der Frage der Epistemiologie und Machtverhältnisse: Wer hat im öffentlichen Raum die Autorität, über „race“ zu sprechen?

Gloria Wekker hat das Buch als Sozial- und Kulturanthropologin sowie emeritierte Professorin für gender studies der Universität Utrecht geschrieben, im Rückblick auf mehrere Jahrzehnte ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin, Politikberaterin und auch Aktivistin. In der Einleitung positioniert sie sich selbst als schwarze Niederländerin mit surinamischen Hintergrund. Diese Rollenvielfalt spiegelt sich auch in der Form des Textes wieder. Die fünf Fallstudien sind qualitativ angelegt und bewegen sich auf verschiedenen Ebenen des kulturellen Archivs, von historischen Text- und Bildquellen zu medialen Ereignissen und quantitativen Erhebungen bis hin zu eigenen Erfahrungen in dicht beschriebenen, analytischen Vignetten. Während die wiederkehrende Selbstreflektion im Text zum Beispiel an die Überlegungen der histoire croisée erinnert, ist die implizite Aufforderung zur Aktion den Geschichtswissenschaften eher fremd. Der postkolonialen Melancholie, die Paul Gilroy konzeptionalisiert hat (S. 143), setzt sie ihre Haltung der kritischen Nostalgie (S. 109) entgegen, um das Nachdenken über Allianzen zwischen Minderheiten und die kritische Selbstreflektion von Lehrenden an den Hochschulen anzuregen.

Das Buch ist bei der Duke University Press erschienen und folgt so US-amerikanischen Konventionen des Schreibens und Publizierens. Zum einen fußen einige Teile auf früheren Veröffentlichungen, zum anderen ist die Rhetorik an angelsächsische Essays angelehnt. Für Leserinnen und Leser aus der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft mag das einen distanzierenden Effekt haben, gleichzeitig ermöglicht das Englische eine Einführung in den Kanon zur Kolonialgeschichte der Niederlande und in die Auseinandersetzung mit imperialer Erinnerungskultur. Darüber hinaus setzt Gloria Wekker sich auch mit Affektökonomien (S. 137) und dem sogenannten Neorealismus (S. 157f.) auseinander. Sie plädiert mit Michael Rothberg dafür, eine „competitive memory“ beispielsweise zwischen Holocaust und Sklaverei mit einer „multidirectional memory“ (S. 163) zu ersetzen. Damit leistet das Buch einen Beitrag zur geschichtspolitischen Debatte über Dekolonisierung, wie sie zur Zeit im Dreieck von Geschichtswissenschaft, Erinnerungskultur und Musealisierung in vielen europäischen Ländern stattfindet, unter anderem mit der Diskussion über „Black British History“ im Programm Free Thinking der BBC oder mit der Sonderausstellung „Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin.

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