Cover
Titel
Archives en Suisse. Conserver la mémoire à l'ère numérique


Autor(en)
Coutaz, Gilbert
Reihe
Le savoir suisse
Anzahl Seiten
125 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans von Rütte, Conseil oecuménique des Eglises

Gut, es gibt – immer noch – diese Buchreihen des Wissens, wie die Reihen bei Reclam, Suhrkamp, die Beck‘sche Reihe oder das französiche Que sais-je?, geschrieben von kompetenten Autorinnen und Autoren des Fachs. Gut auch, dass in einer solchen Reihe das Archiv zum Wissensthema gemacht wird. Die kleine und dennoch bereits über hundert Titel zählende Reihe Le savoir suisse, herausgegeben von einer Stiftung, zu der unter anderem die Universitäten der französischsprachigen Schweiz gehören, hat Gilbert Coutaz gebeten, den Wissensstand über das Archiv konzis und komprimiert darzustellen. Wer wäre, im Schweizer Kontext, besser geeignet, dies zu tun, als der langjährige Direktor des Staatsarchivs des Kantons Waadt und, als ehemaliger Präsident des schweizerischen Berufsverbands, ausgewiesene Kenner der Archivlandschaft Schweiz und der Berufsgemeinschaft der Archivarinnen und Archivare?

Gilbert Coutaz legt keine Einführung in die Archivwissenschaft vor. Sein Buch ist auch nicht ein Appell für die Innovationen der digitalen Welt, die den Ballast der Traditionen hinter sich bringen sollen. Er will vielmehr den Archivarinnen und Archivaren eine Stimme geben, damit sie ihren Platz in der Gesellschaft finden und ihren Beitrag zur Problemlösung leisten, in einer Zeit, in der vieles, eigentlich alles, was den Umgang mit Informationen betrifft, nur mehr digital vonstattengeht. Es ist deshalb vielmehr ein Plädoyer für den Berufsstand, der für viele nach wie vor und vielleicht im digitalen Zeitalter noch verstärkt unter dem Vorurteil des Veralteten steht. Blosses Speichern ist noch nicht Archivieren (S. 18), diesen Unterschied müssen die Archivarinnen und Archivare in den Debatten klarmachen können.

Gilbert Coutaz kann das umso besser tun, als er wie kein anderer die historische Entwicklung der Archivlandschaft Schweiz bis ins Detail kennt, und zwar von den mittelalterlichen Anfängen der Kanzleien und Registraturen bis hin zu den jüngeren Entwicklungen der Professionalisierung der modernen Archivpraktiken und des Archivarenberufs in der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die historisch souveräne Grundierung des Themas setzt sich damit wohltuend von den sich nur zu oft als innovativ wähnenden Projekten der Gegenwart ab.

Ausgehend vom tiefgreifenden Wandel, dem die Archive in der Informations- und Wissensgesellschaft ausgesetzt sind, hält er entgegen, dass Archive weiterhin unerlässlich sind, umso mehr als die digitale Information der Flüchtigkeit und Obsolenz ausgesetzt ist. Die Archive müssen sich der Bewältigung der schieren Datenmengen stellen. Er ist überzeugt, dass die Archivarinnen und Archivare mit ihren spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen einen Beitrag leisten können, der ansonsten niemand zu leisten imstande ist. Er erwähnt auch die gesellschaftlichen und politischen Konflikte der letzten Jahre, bei denen die Archive in den Blickpunkt gerückt sind: Sie belegen eindrücklich die Existenzberechtigung des Archivs. Lange unbeachtet, finden die Archive sich unversehens mitten im gesellschaftlichen Diskurs. Es macht dies deutlich, dass das Archivieren mitten in den Debatten um Transparenz und demokratischer Kontrolle einerseits und Schutz der persönlichen Information, Datenmissbrauch und Recht auf Vergessen anderseits steht.

Nach den geschichtlichen Kapiteln zum Archivwesen und den kurzen, ebenfalls in ihren historischen Herleitungen dargestellten Überblicken über die Praktiken der Übernahme, Bewertung, Aufbewahrung und Vermittlung von Unterlagen, wendet sich Gilbert Coutaz ausführlich dem Berufsstand zu. Er blickt zurück auf die Entwicklung des Verbands Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) als wichtiger Ort des Austauschs und Impulsgeber für Veränderungen. Er schildert den Auf- und Ausbau der Fachausbildungen, die in der Schweiz erst vor nicht viel mehr als zwanzig Jahren richtig Fuss gefasst haben. Er skizziert ein klares Berufsprofil, das gegenüber den benachbarten Berufsfeldern offenbleiben soll: auf der einen Seite gegenüber den Historikern, auf der anderen gegenüber den Bibliothekarinnen, Dokumentationsspezialisten und Museologinnen. Er fordert ebenso die anforderungsreiche Bereitschaft, mit den Informatikerinnen, den Betriebswirtschaftlern und den Verwaltungsspezialisten den Austausch und die enge Zusammenarbeit zu suchen.

Geprägt von seiner Arbeit in einem behördlichen Archiv und in ständigem Kontakt mit den Aktenbildnern der öffentlichen Verwaltungen, geprägt auch von den Kämpfen um ausreichende Mittel zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben, betont Gilbert Coutaz die proaktive Rolle der Archivarinnen und Archivare, die bei der Entstehung der Unterlagen bei den Aktenbildnern ansetzen muss. Er unterstreicht die Notwendigkeit des Records Management, das nach wie vor vielerorts im Argen liegt. Verständlicherweise kommen dabei die Verhältnisse im privatwirtschaftlichen Bereich, bei den Bürokratien der grossen Unternehmungen etwas zu kurz.

Es ist eine aufschlussreiche Lektüre für Archivarinnen und Archivare, die zur Selbstreflexion anregt. Man stösst nebenbei immer wieder auf erhellende historische Zusammenhänge. Anregend ist zum Beispiel auch die originelle „Theorie der drei Stadien der Information“, mit der Gilbert Coutaz das „Stadium der Produktion“, das „Stadium des Nachweises“ und das „Stadium der Wissensquelle“ auseinanderhält, welche die Information (oder die Unterlagen) durchlaufen (S. 77f.). Die Lektüre ist jedoch ebenso ein Gewinn für Historikerinnen und Historiker, denen das Archiv weiterhin unerlässlicher Arbeitsort bleibt, ungeachtet dessen ob die Quellen digital oder immer noch konventionell als physisch greifbare Dokumente vorliegen. Einer kritischen Nachprüfung bedarf die Aussage, Archiv(unterlagen) und Informationen seien synonyme Begriffe (S. 75). Aus informationswissenschaftlicher Sicht ist das nicht haltbar, denn Informationen können in einem weiteren Zusammenhang auch noch ganz andere Formen als jene von Archivunterlagen aufweisen.

„Archives en Suisse“ bietet einen konzisen und leicht lesbaren Überblick über das Archivwesen in der Schweiz. Das Bändchen unterscheidet sich dadurch von der viel umfangreicheren Gesamtdarstellung zur „Archivpraxis in der Schweiz – Pratiques archivistiques en Suisse“1, zu der zahlreiche Autorinnen und Autoren, darunter auch Gilbert Coutaz, Beiträge beigesteuert haben, denen im Ganzen naturgemäss die Kohärenz abgeht. Es ist zu wünschen, dass der Band auch ausserhalb der kleinen Berufsgemeinschaft der Archivarinnen und Archivare zur Kenntnis genommen wird. Ebenso ist zu wünschen, dass es in der Archivwelt der Deutschschweiz wie auch im ganzen deutschen Sprachraum Leserinnen und Leser findet. Es ist mir keine vergleichbare Publikation zur deutschschweizerischen wie auch zur deutschen und österreichischen Archivlandschaft bekannt. Bleibt zu hoffen, dass eine Übersetzung ins Deutsche realisiert werden kann.

Anmerkung:
1 Gilbert Coutaz u.a. (Hrsg.), Archivpraxis in der Schweiz – Pratiques archivistiques en Suisse, Baden 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/