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Titel
Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800


Autor(en)
Heinrich, Tobias
Reihe
Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 18
Erschienen
Anzahl Seiten
199 S., 5 s/w-Abb.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Falko Schnicke, London

Tobias Heinrich schließt mit seinem Buch eine Lücke. Obwohl es zur Gattungs- und Diskursgeschichte der Biographik um 1800 bereits einige Beiträge und Buchkapitel gibt, fehlte es bislang an einem Überblick zu dieser Transformationsphase. Heinrichs knappe Dissertation bietet sie auf etwas mehr als 170 Textseiten nun. In einem konzisen Zuschnitt systematisiert er die einschlägigen Theorietexte, die zwischen den 1760er- und 1800er-Jahren die soziale Funktion und epistemologische Reichweite von Biographien neu vermessen haben. Diese Phase kann als Konstitutionsphase moderner Biographik gelten, in der die Gattung von der barocken Herrscherpanegyrik zum bürgerlichen (Selbst-)Reflektionsmedium emanzipiert und dabei erkenntnistheoretisch, pädagogisch und anthropologisch bestimmt wurde. Im Mittelpunkt standen Fragen nach dem biographischen Objekt und seiner Subjektivität, nach den möglichen Quellen und Genres der Biographik, nach ihrer Beziehung zur Geschichtsschreibung und ihrer moralisch-didaktischen Funktion.

Heinrich gliedert seine Analyse nicht chronologisch, sondern thematisch. Jedes der fünf Hauptkapitel diskutiert dabei eine „Perspektiv[e]“ (S. 12) aufgeklärter Biographik. Das ist nicht nur elegant, sondern auch sehr hilfreich, um die komplexe Gattungskonstitution nachvollziehen zu können. Das Ziel der Arbeit ist es, die zeitgenössische Gattungsdiskussion mit einem argumentationsgeschichtlichen Ansatz thematisch umfassend zu rekonstruieren und die rhetorischen Strategien ihrer Hervorbringung zu beleuchten. Als Leitfragen ziehen sich das Problem der „biographischen Konstruktion von Individualität“ (S. 12) und die Herstellung einer „narrative[n] Kommunikationsstruktur“ (S. 14) durch alle Teile der Untersuchung. Dabei wird, heuristisch klug, nicht vorab definiert, was eine Biographie ist, sondern ein „dynamisches Verständnis“ (S. 8) zugrunde gelegt. Die Analyse kann sich dadurch dem hybriden Feld der narrativen Beschreibung fremder Leben insgesamt nähern und es den untersuchten Quellen überlassen, zu klären, wie sich Lebensbeschreibungen, Porträts, Viten, Denkmale und Nekrologe zueinander und zu Biographien verhalten.

Kapitel 1 geht kollektiven Gedächtnispraktiken nach und ist dabei ganz auf Johann Gottfried Herders Schriften konzentriert. Die These lautet hier, dass Biographik auf die Zukunft ausgerichtet sei. Ausgehend von Trauerrhetorik wird Biographik zum einen als Praxis verstanden, die neue Identitäten ausbilden kann: „Der Tote hat seine Existenz als Individuum eingebüßt, aber durch ihn konstituieren sich die Hinterbliebenen als Gemeinschaft“ (S. 18). Das gelinge wesentlich dadurch, dass die Trauerrede auf die sozialen Beziehungen zu den Anwesenden am Grab eingehe. Bei der Intellektuellenbiographik werde das Andenken zum anderen durch die Verbindung aus Lebensgeschichte und Werk erreicht. Sie ermögliche eine „verlebendigend[e] [...] Memoria“ (S. 34), die deshalb auf die Zukunft ausgerichtet sei, weil sie das Werk des Verstorbenen als Archiv erhalte. Biographik sei dann die „Sorge um das intellektuelle Vermächtnis“ (S. 42); ein Zugang, den Herder als spezifisch deutsch verstehe.

Das Glanzstück des Buches ist Kapitel 2, in dem Heinrich zeigen kann, wie gezielt Bezüge zur bildenden Kunst eingesetzt wurden, um die Gattung Biographie zu definieren. So habe etwa Thomas Abbt auf die Analogie zur Porträtmalerei zurückgegriffen, als es ihm darum ging, die Leistungsfähigkeit der Biographik im Bereich einzelner Charakteristika herauszustellen. Johann Matthias Schröckh kritisierte das als zu klein: Er wolle lieber „in Lebensgröße mahlen“ (Schröckh, zitiert nach S. 52), das heißt das biographische Objekt als soziales Wesen darstellen. Um den Beitrag zur Geschichtsschreibung zu verhandeln, sei auf das Modell der Galerie zurückgegriffen worden, weil sie zwischen Individualbiographie und allgemeiner Geschichte vermittle. Die Metapher des Spiegels stehe für Verwandlung des Subjekts in das biographische Objekt und etabliere den Nexus zwischen ihm und seiner Epoche. Schließlich diskutiert Heinrich die Rolle des Denkmals, das als physischer und schriftstellerischer Ort die Präsenz des Verstorbenen sichern soll. Der Schrift konstatiert er dabei jene Substitutionsfunktion, die dem Bildnis zugeschrieben wurde.

Kapitel 3 stellt heraus, dass die aufgeklärte Biographik didaktische Intentionen verfolgt habe, was wesentlich für die Legitimation der Gattung gewesen sei. Von ihrem Vorläufer, der pietistischen Biographik, unterscheide sie die fehlende Frömmigkeit und ihr Entwicklungsgedanke. Um das Lernen vom Beispiel zu ermöglichen, müsse der Text Identifikation ermöglichen. Nur so könne der Analogieschluss vom fremden auf das eigene Leben, der nicht als Nachahmung, sondern als Aneignung aufgefasst ist, gelingen.

In Kapitel 4 thematisiert Heinrich kollektivbiographische Ansätze, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur „zugleich ein- und ausschließenden Neubestimmung bürgerlicher Identität“ (S. 117) beigetragen hätten. So stehe etwa Schröckhs Biographiensammlung für ein ambitioniertes Programm sozialer Öffnung, das neue Schranken aufbaue: Obwohl das gesellschaftliche Ganze repräsentiert werden soll, um einer ständisch orientierten Biographik abzuschwören, sei das Programm letztlich doch auf Herrscher und Adlige limitiert geblieben. Spätere Sammlungen beziehen dann zwar Bürger ein, etablieren aber zunehmend nationale Zugehörigkeit und Männlichkeit als Kriterien der Biographiewürdigkeit: „Die Sonderform der Frauenbiographik verschwindet in dieser Zeit fast vollkommen“, denn die „Normbiographie ist männlich markiert“ (S. 136).

Am Schluss steht in Kapitel 5 eine medientheoretisch angeleitete Auseinandersetzung mit der Schriftlichkeit von vor allem Gelehrtenbiographien. In ihrer materiellen Form solle die Schrift den Verlust des Körpers des biographischen Objekts im Zeitalter der Empfindsamkeit kompensieren und ihre Lektüre die Leser/innen gleichzeitig erbauen. Für das Ziel der Authentizität sei, so argumentierten Herder und Johann Georg Wiggers, eine hermeneutische Interpretation der Hinterlassenschaften des Verstorbenen nötig, aus denen der Text dessen Individualität schöpferisch zu rekonstruieren habe. Daniel Jenisch entwickelt dieses Modell schließlich zu einer „psychologisch-hermeneutischen Biographik“ (S. 168) weiter und weist damit auf Wilhelms Diltheys Biographiekonzeption voraus. Jenisch will die gesamte psychisch-habituelle Persönlichkeit als Quelle nutzen, um Fremderfahrung und Selbstbeobachtung bei Autor- und Leser/innen zu ermöglichen.

Dieser Durchgang durch den Band zeigt, dass es Heinrich gelingt, den theoretischen Biographiediskurs um 1800 kenntnisreich aufzuschlüsseln und an seine vielfältigen Kontexte rückzubinden. Dabei sind innovative Deutungen und überzeugende Analysen entstanden, die eine Bereicherung des Forschungsstandes darstellen. Die beschriebenen Porträt-Analogien (Kapitel 2) und die Beobachtungen zur Schriftlichkeit (Kapitel 5) sind Beispiele dafür. Gerade weil das aber so ist, bleibt es unverständlich, warum eine aktive Verortung der Ergebnisse in den Forschungsstand so ostentativ unterblieben ist. Sie hätte den – ohne Zweifel vorhandenen – Mehrwert der Einzeluntersuchungen pointiert herausstellen und die Leser/innen gezielt durch das Material führen können.

Eine zweite Kritik betrifft die Gesamtanlage der Arbeit: Einen Theoriediskurs an Theorietexten zu untersuchen, scheint zunächst auf der Hand zu liegen. Aber ist es wirklich sinnvoll, einen Theoriediskurs isoliert zu betrachten, der so stark auf die Praxis bezogen ist, wie der Biographiediskurs um 1800? Seine Traktate haben eine oft ausgeprägt pragmatische Dimension, weil sie in der Regel als Manuale konzipiert wurden, die praktische Biographik anleiten sollten, worauf Heinrich auch selbst hinweist (S. 10). Diese Praxis ist im vorliegenden Band aber weitgehend unberücksichtigt geblieben; sie wird hier und da angesprochen, noch am stärksten im ersten Kapitel zu Herders Trauerreden und im vierten Kapitel, wo kurz auf die Biographie einer Soldatin eingegangen wird, aber gleichberechtigt einbezogen wird die biographische Praxis nicht. So fehlen detaillierte Analysen konkreter biographischer Texte, an denen die Postulate hätten überprüft werden können. Auf diese Weise nimmt Heinrich sich selbst und seinen Leser/innen die Möglichkeit, Wechselwirkungen und Paradoxien zwischen Theorie und Praxis auszuloten. Angesicht der Tatsache, dass die meisten der zitierten Autoren selbst als Biographen tätig waren, verkürzt dieses Vorgehen die Sicht auf das zu untersuchende Phänomen. Zudem verweisen die Theorietexte explizit auf ihre potenzielle Umsetzung – einmal sogar in der Form, dass beide zusammen publiziert werden: Jenischs Buch „Theorie der Lebens-Beschreibung“ von 1802 enthält zugleich eine von ihm verfasste Biographie Karls des Großen von beträchtlichem Umfang.1 Darauf weist schon Jenischs Untertitel ausdrücklich hin, ohne dass sie bei Heinrich untersucht würde. Wie sinnvoll die systematische Kombination der Betrachtung beider Seiten gewesen wäre, hätte zum Beispiel die vorliegende Forschung zur Biographik des 19. Jahrhunderts weisen können, in der es seit Jahrzehnten üblich ist, Theorie und Praxis zu kombinieren.2

Im Ergebnis bleibt damit ein ambivalenter Eindruck. Den Lücken in Präsentation und Forschungsprogramm stehen innovative Einzelanalysen gegenüber. Sie werden der künftigen Forschung von Nutzen sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Daniel Jenisch, Theorie der Lebens-Beschreibung. Nebst einer Lebens-Beschreibung Karls des Großen: einer Preisschrift, Berlin 1802. Zunächst legt Jenisch sein Konzept dar (S. 1–186), worauf das praktische Beispiel in fast derselben Ausführlichkeit folgt (S. 187–364). Als Anhang wird ein Brief Karls an seine Frau abgedruckt (S. 365–366).
2 Vgl. nur die beiden Überblicksarbeiten: Eckart Jander, Untersuchungen zu Theorie und Praxis der deutschen historischen Biographie im neunzehnten Jahrhundert (Ist die Biographie eine mögliche Form legitimer Geschichtsschreibung?), Diss. Masch, Freiburg im Breisgau 1965, S. 10; Olaf Hähner, Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999, S. 15–16.

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