H. Rönz u.a. (Hrsg.): Widerstand an der Saar 1935–1945

Cover
Titel
„Herr Hitler, ihre Zeit ist um!“. Widerstand an der Saar 1935–1945


Herausgeber
Rönz, Helmut; Gestier, Markus
Reihe
Malstatter Beiträge
Erschienen
St. Ingbert 2016: Conte Verlag
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Schneider, Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften, Universität Trier

Der zu besprechende Sammelband bildet den vorläufigen Abschluss des Forschungsprojekts „Widerstand an der Saar 1935–1945“, das der Landschaftsverband Rheinland mit Förderung der Union Stiftung von 2011 bis 2014 als Teilprojekt des Vorhabens „Widerstand im Rheinland“ durchgeführt hat.1 Die Publikation umfasst neun Beiträge, ein Personen- und ein Ortsregister sowie eine Auflistung exemplarischer Fälle aus dem umfangreichen Quellenkorpus des Projekts. Untersuchungsraum ist das heutige Saarland einschließlich der ehemaligen bayerischen Saarpfalz sowie derjenigen Gebiete, die 1933 bereits zum Deutschen Reich gehörten. Der Band legt einen breiten Widerstandsbegriff an, nicht zuletzt um die individuellen Chancen zum Widerstand und deren Wahrnehmung bzw. Nicht-Wahrnehmung gebührend würdigen zu können.

Einen einleitenden Überblick inklusive statistischer Betrachtungen zu den 575 im Forschungsprojekt identifizierten Fällen von Widerstand im Saargebiet bietet Helmut Rönz in Verbindung mit Alena Saam. Hierbei wird auf die Sonderentwicklung in den Jahren 1918 bis 1935 hingewiesen, die eine Herausforderung für einen vergleichenden Ansatz darstellt. Im Hinblick auf die Datenerhebung und die anschließende Auswertung waren Probleme zu lösen, sowohl bei der Georeferenzierung, als auch bei der Einteilung des Widerstandes nach Motivation und Organisationsform, für die auch mehrfache Angaben erlaubt wurden, sowie bei der Eingliederung in ein Stufenschema von „Nonkonformität“ bis hin zu „Umsturzversuch“. Das Quellenkorpus besteht hauptsächlich aus 21.000 Wiedergutmachungs- und Entschädigungsakten des Landesarchivs Saarbrücken sowie Beständen in Koblenz, Duisburg und Speyer. Deren Analyse ergab, dass der kommunistische, der Alltags- und der konfessionelle Widerstand die größte Rolle an der Saar spielten, während genuin jüdischer oder militärischer Widerstand selten bis gar nicht vorkam. Als Desiderat wird unter anderem eine geschlechtergeschichtliche Aufarbeitung des Widerstandes an der Saar in den verschiedenen Gruppen identifiziert.

Martin Schlemmer schildert in seinem Beitrag die politische, räumliche und soziale Vorgeschichte des Saargebiets vor der Rückgliederung 1935. Nach dem 30. Januar 1933 wurde das Saargebiet als nahegelegene deutschsprachige Region für viele Regimegegner häufig zur ersten Anlaufstelle ihrer Flucht. Im politischen Mobilisierungskampf vor der Abstimmung über die künftige staatliche Zugehörigkeit sahen sich viele Akteure in einem Dilemma zwischen der grundsätzlichen Bejahung einer Angliederung an Deutschland und der Ablehnung des Nationalsozialismus. Nach einem sehr intensiv geführten Abstimmungswahlkampf stimmten am 13. Januar 1935 dennoch 90,8 Prozent der Wähler für eine Angliederung an Hitler-Deutschland.

Armin Nolzen stellt in seinem Aufsatz die Frage nach den Mechanismen, die von der Saar-NSDAP genutzt wurden, um Konformität herzustellen und welche Funktionen die „symbolische Gewalt“ dabei einnahm. Für den Leser recht spät, wird dieser von Pierre Bourdieu inspirierte Begriff erst gegen Ende der Ausführungen dahingehend erläutert, dass hierunter „alle ‚sanften‘ Mechanismen, mit denen die Beherrschten an ihrer Beherrschung mitwirken, also Dispositionen und Wahrnehmungsschemata, die sich in deren Körper eingeschrieben haben“ (S. 113) zu verstehen seien. Diese Maßnahmen werden auf zwei Ebenen identifiziert, namentlich in der Sprache und den operativen Praktiken der Deutschen Front. Nolzen demonstriert einen innovativen Ansatz zur Analyse des überwältigenden Abstimmungserfolges vom 13. Januar 1935 und der schnellen Machtetablierung im Anschluss. Ob die Integration weiterer Erklärungsmuster wie etwa nationale Zugehörigkeitsgefühle, ökonomische Überlegungen oder auch sprachlich-kulturelle Faktoren, für den Ansatz gewinnbringend sein können, müssen wohl weitere Forschungen zeigen.

Die Opposition der „kleinen Leute“, womit der Widerstand aus dem linken politischen Spektrum gemeint ist, steht im Fokus des Beitrags von Ralf Forsbach und René Schulz. Herauszustellen ist deren vergleichende Feststellung, dass im Saargebiet nach 1935 im Gegensatz zur Situation im Reich 1933 keine Phase des Widerstandes unter noch relativ günstigen Bedingungen zu verzeichnen sei, weil die totalitären Strukturen schnell in das Angliederungsgebiet exportiert wurden. Keywan Klaus Münster und Hermann-Josef Scheidgen behandeln den konfessionellen Widerstand an der Saar. Wie in anderen Regionen auch, waren keinesfalls alle Saarkatholiken Widerständler. Dennoch konnte empirisch überzeugend belegt werden, dass eine Kirchengemeinde oppositionell handlungsfähig sein konnte. Häufige Verstöße gegen die „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ waren etwa das Zeigen verbotener christlicher Symbole. Die protestantische Kirche befand sich im Saargebiet aufgrund der unklaren kirchenrechtlichen Situation nach 1918 und der zunehmenden Spaltung in Deutsche Christen, Bekennende Kirche und Neutrale in einer insgesamt schwächeren Ausgangsposition. Hervorzuheben ist der Befund, evangelischer Widerstand sei ausschließlich von kirchlichen Amtsträgern durchgeführt worden und eine Betätigung von Gemeindemitgliedern sei nicht nachweisbar, was einen signifikanten Unterschied zum katholischen Lager darstellt. Für die Ernsten Bibelforscher (ab 1931 offiziell Zeugen Jehovas) als eine der „am frühesten verfolgten […] Glaubensgemeinschaften“ (S. 173) konnte nachgewiesen werden, dass sie erheblich aktiver im Widerstand waren als bisher angenommen, wobei weibliche Bibelforscherinnen einen überproportional großen Anteil der Verhafteten stellten.

Ansgar Sebastian Klein schildert Aspekte des bürgerlich-konservativen, bürgerlich-liberalen, militärischen, Retter- und Alltags- bzw. Jugendwiderstandes. Er thematisiert dabei die Bedeutung des so genannten Röhm-Putsches 1934, der vielen Bürgerlichen die Augen für die politischen Verfolgungsabsichten der Nazis geöffnet habe. Den lange Zeit vernachlässigten „Retterwiderstand“ sieht Klein vor einem terminologischen Problem, die Rettung eines Menschenlebens mit einer Widerstandshandlung zusammenzubringen, und schildert darüber hinaus, dass Retter nach 1945 häufig nicht entschädigt wurden, weil man ihnen keine politische Motivation zuerkannte. Für den „Alltagswiderstand“ konnten verschiedene Aktivitäten nachgewiesen werden, „um sich nicht vereinnahmen zu lassen“ (S. 204) so zum Beispiel die Verweigerung des Hitlergrußes oder das anhaltende Engagement in den Kirchen.

Elisabeth Thalhofer untersucht das „Erweiterte Polizeigefängnis“ Neue Bremm der Saarbrücker Gestapo, das einen legalen Schein zu bewahren suchte, während doch in Wahrheit „inmitten des öffentlichen Raumes“ Terror gegen Oppositionelle und ausländische Gefangene verübt sowie Transporte in Konzentrationslager weitergeleitet wurden. Alexander Friedman beleuchtet die heuristischen Potenziale der saarländischen Wiedergutmachungsakten vor dem Hintergrund ihrer normativen und zeitgeschichtlichen Entstehungsgrundlagen. Neben der Feststellung, dass viele Arten der Widersetzlichkeit nach 1945 nicht anerkannt wurden, sind die nachgewiesenen Trittbrettfahrer besonders hervorzuheben. So versuchten selbst tief in die Strukturen des NS-Staates Involvierte durch frisierte Lebensläufe Entschädigungsleistungen zu erschleichen. An die Bemerkungen zum Umgang mit Widerstand nach Kriegsende schließt der Beitrag von Wilfried Busemann an, der eine weitreichende Kritik an der „Kriegsgeneration“ formuliert. Busemann verweist etwa auf Defizite im Entschädigungswesen, aber auch auf die zum Teil noch bis in die 1960er-Jahre vorhandenen, offen antisemitischen Propagandavergehen oder die Relativierung von Täterschaft. Zuzustimmen ist Busemann bei der Bewertung, dass der erbitterte Abstimmungskampf 1955 noch lange Zeit nachwirkte. Abschließend stellt Tim C. Finette rund 100 Fälle aus dem LVR-Projekt vor, die „besonders beispielhaften oder betont untypischen Charakter“ haben. Unter den Kurzporträts finden sich bekannte Widerstandskämpfer wie Willi Graf ebenso wie eine Vielzahl weitgehend unbekannter Akteure.

Die vorliegende Publikation benennt eine ganze Reihe von Desiderata: von der bisher wenig gewürdigten und aufgearbeiteten Rolle der Ernsten Bibelforscher über die maßgebliche Bedeutung der Frauen im Widerstand bis hin zu zusätzlichen regionalen Vergleichen. Für die weitere Forschung bietet der vorliegende, quellengesättigte Band in jedem Fall eine exzellente Ausgangslage, weshalb ihm eine breite Rezeption auch über die Widerstandsforschung und die Geschichtliche Landeskunde hinweg zu wünschen ist.

Anmerkung:
1 Vgl. auch die Projektinformationen, die interaktive Karte sowie die „Widerstandsliste“ mit den verzeichneten Fällen auf der Webseite des Projekts, http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Widerstandskarte/Seiten/home.aspx (30.11.2016).

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