H. Konrad: Erkundungen zur Zeitgeschichte

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Titel
Erkundungen. Zur Zeitgeschichte


Autor(en)
Konrad, Helmut
Erschienen
Anzahl Seiten
508 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele-Maria Schorn-Stein, Rüsselsheim

Helmut Konrad, Lehrer, Mentor und Forscher an der Karl-Franzens-Universität Graz, im Jahr 2016 emeritiert, hat im Laufe seiner wissenschaftlichen Tätigkeit eine beeindruckend große Anzahl an Monographien und anderen wissenschaftlichen Werken veröffentlicht. Als charismatischer Hochschullehrer, der mehrere Generationen von Studierenden inspiriert hat, prägte er mit seiner Lehrtätigkeit das im Jahre 1984 neu geschaffene Fach Zeitgeschichte über Jahrzehnte. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes haben Helmut Konrads wissenschaftliches Wirken und seinen umfassenden Blick auf historische Entwicklungen zum Anlass genommen, mit „Helmut Konrad. Erkundungen zur Zeitgeschichte“ eine Forschungsbiographie zu präsentieren, die die Etablierung des Faches Zeitgeschichte in Österreich seit den 1970er-Jahren bis heute und seine Transformationen widerspiegeln soll.

Nicht alle wissenschaftlichen Arbeiten Helmut Konrads, die sich mit der Erforschung der österreichischen Zeitgeschichte, und hier besonders mit der österreichischen Arbeiter- und Arbeiterinnengeschichte beschäftigen, konnten berücksichtigt werden. Dennoch wollen die Herausgeber mit der hier getroffenen Auswahl an Texten, die in einem Zeitraum von etwa vierzig Jahren erschienen sind, wortgetreu vom Original übernommen wurden und daher auch eine unterschiedliche Rechtschreibung aufweisen, ein gutes Gesamtbild schaffen.1 Auf rund 486 Seiten, die sich in insgesamt sechs Kapiteln gliedern, werden theoretisch-methodische Entwicklungen ebenso wie thematische Wandlungen in der österreichischen Zeitgeschichte nachgezeichnet. Dabei wird ein Bogen gespannt von den frühen Arbeiter der 1970er-Jahre, von der Arbeitergeschichte über die Neue Sozialgeschichte, hin zu neueren Ansätzen der Kulturgeschichte, von den Themenfeldern Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung bis hin zu Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus.2

Kapitel I (S. 41–135) beschäftigt sich mit einer Thematik, die einen zentralen und vielfach innovativen Ausgangspunkt von Helmut Konrads wissenschaftlicher Tätigkeit beschreibt und auf die er in weiterer Folge bis in die jüngste Zeit auch immer wieder einging: der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung. Im Beitrag „Deutsch-Österreich“ aus dem Jahre 1974 stellt sich Helmut Konrad die Frage, wie die österreichische Arbeiterbewegung zur nationalen Frage stand. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die nationale Frage für die österreichische Arbeiterbewegung, aber auch für das Verhältnis von Liberalismus und Arbeiterklasse, eine wesentliche Rolle gespielt hat: In der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre griff der Nationalismus mit voller Wucht auf die Arbeiterbewegung über und sollte daher in den Folgejahren nicht nur zum Kernproblem des Staates, sondern auch von Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbewegung werden (S. 59). Auch einige Jahre später, 1988, ist die österreichische Arbeiterbewegung und die nationale Frage erneut Thema eines Beitrages von Konrad (S. 95–108).

In „die Sozialdemokratie im Kontext politischer Kultur in Österreich“, so der Titel des zweiten Kapitels (S. 139–206), finden sich Texte aus den Neunzigern und aus dem Jahre 2012, die aus der wissenschaftlichen Beschäftigung Helmut Konrads mit der österreichischen Sozialdemokratie hervorgingen. Dem Beitrag „Der Weg in den Abgrund. Die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen“ aus dem Jahre 2012 kommt dabei besonderer Stellenwert zu, hatte doch Österreichs Weg in den Abgrund, mit dem hier die Ausschaltung der Demokratie und die Errichtung der ständestaatlichen Diktatur im Jahr 1933 gemeint ist, eine lange Vor-, aber auch Wirkungsgeschichte: Nach Ansicht Konrads ist der März 1938 (Anschluss an NS-Deutschland) unter anderem als eine Folge des Februar 1934 (Österreichischer Bürgerkrieg) anzusehen (S. 190).

In seiner Dissertation aus dem Jahr 1972 „KPÖ und KSČ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes“ befasste sich Helmut Konrad mit dem Widerstand von KPÖ und KSČ während der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges.3 Diese Thematik „Widerstand“ (S. 233–242), wie besonders auch jene der Auswirkungen diktatorischer Herrschaftssysteme und -praktiken auf Menschen, die sich ihnen aktiv entgegenstellten, griff er ausgehend von unterschiedlichen Fragestellungen auch danach mehrfach auf. Dies belegen beispielhaft die im Dritten Kapitel „Zentraleuropa und Nationalsozialismus“ (S. 209–270) zusammengefassten Aufsätze.

Hervorzuheben ist aus der Reihe an Beiträgen insbesondere jener über „das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten“, eine Text aus dem Jahr 1990 (S. 209–223). Die in den 1970er-Jahren und bis in die Gegenwart politisch relevante Frage, in welchem Ausmaß den Nationalsozialisten in Österreich in den Jahren vor 1938 der Einbruch in die Reihen der Sozialdemokratie gelingen konnte, bildete und bildet noch immer einen zentralen Untersuchungsgegenstand. Hier zu nennen sind insbesondere Arbeiten von Gerhard Botz und Karl R. Stadler, die sich mit dieser Thematik intensiv auseinandergesetzt haben (S. 209).

Schon ab Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere wandte sich Helmut Konrad auch Fragestellungen zu, die über den Bereich Österreichs hinaus einer global ausgerichteten Zeitgeschichte zuzurechnen sind. „Nationale und globale Dimensionen politischer Dynamiken“ ist dementsprechend der Titel des vierten Kapitels (S. 273–374). Zwei der Beiträge befassen sich mit globalgeschichtlichen Perspektiven, zwei mit der Einordnung von Themen österreichischer Zeitgeschichte in globale Zusammenhänge.

Die im fünften Kapitel „Kultur und Gesellschaft“ (S. 377–488) präsentierten Artikel sollen einen Eindruck in Helmut Konrads Interesse an kultur-und gesellschaftsgeschichtlichen Themen vermitteln. In „Arbeiterbewegung und bürgerliche Öffentlichkeit. Kultur und nationale Frage in der Habsburgermonarchie“ von 1994 (S. 383–397) greift Konrad erneut das Thema der nationalen Frage auf und kommt zu dem Schluss, dass die Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich viele Jahrzehnte lang außerhalb der engen Grenzen der historischen Profession geschrieben wurde, aber dennoch eines der Hauptbetätigungsfelder österreichischer Geschichtsschreibung geblieben ist (S. 383).

Die im letzten Kapitel „Zeitgeschichtsforschung und Geschichtsdebatten in Österreich“ zusammengestellten Beiträge, die Helmut Konrads Haltung in Kontroversen und Debatten zur Zeitgeschichte verdeutlichen sollen, bilden den Abschluss des Bandes (S. 451–486). In dem Beitrag „Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung“ (1988) befasst sich Konrad ausführlich mit dem Geschichtsbewusstsein, beruht dieses doch auf einem im emotionalen Bereich wurzelnden gemeinsamen Verständnis der Vergangenheit, wobei vor allem bildhaft die vermeintliche Gleichheit der wissenschaftlichen Erfahrungen angesprochen wird. Gerade Österreich, so Konrad, habe hier mit seiner beachtlichen Tradition einer Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung ein gutes Beispiel für das Geschichtsbewusstsein eines Subsystems, das erstaunlich gut den Zusammenfall von Wissenschaft und Allgemeinverständnis belegen könne (S. 451). Auch das Verhältnis der Universität Graz zu ihrer eigenen Geschichte und ihrem Verständnis von Geschichtsbewusstsein ist für Helmut Konrad von großer Bedeutung. Die Karl-Franzens-Universität Graz sei sich, so Konrad, durchaus der Tatsache bewusst, dass sie historisch mehr als einmal für Intoleranz und Ausgrenzung gestanden sei und dass manche ihrer Mitglieder wohl bis heute vergangenen Denkmustern nachtrauern (S. 462). Aus diesem Grund war es auch besonders bedeutsam, dass in den 1980er-Jahren das Fach Zeitgeschichte an der Universität etabliert werden konnte. Zeitgeschichte ist in den Augen Konrads zuerst eine wissenschaftliche Disziplin, die sich zu behaupten und sowohl der nationalen als auch der internationalen Konkurrenz zu stellen hat; es gibt aber auch von außen herangetragene Aufgaben und Fragestellungen, die die tägliche Arbeit in diesem Fach mitprägen (S. 483).

Bei Helmut Konrad, dies nimmt der Leser dieses Werkes als Erfahrung mit, handelt es sich, wie eingangs von den Herausgebern betont wird, um einen außergewöhnlichen Lehrer, Mentor und Wissenschaftsmanager. Seine überaus erfolgreiche wissenschaftliche Biographie definiert sich über drei Säulen: die Forschung, die Lehre und die universitären Qualitätssicherung. Alle hier präsentierten Beiträge, in denen Konrad während seiner 45-jährigen wissenschaftlichen Tätigkeit Zeitgeschichte erkundet hat, verweisen darauf, dass er die Chancen, die die Veränderungen in der ‚Wissenschaftslandschaft‘ in den 1970er-Jahren eröffnet haben, ergriffen und auch mitgeprägt hat.

Anmerkungen:
1 Monika Stromberger / Andrea Strutz, Helmut Konrad. Eine Forschungsbiographie, in : Stefan Benedikt u.a. (Hrsg.), Helmut Konrad. Erkundungen zur Zeitgeschichte, Wien 2016, S. 13.
2 Ebd.
3 Helmut Konrad, KPÖ und KSČ zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, phil. Diss., Universität Wien 1972.

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