S. Xenophontos: Ethical Education in Plutarch

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Titel
Ethical Education in Plutarch. Moralising Agents and Contexts


Autor(en)
Xenophontos, Sophia
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 349
Erschienen
Berlin 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 266 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marion Schneider, Institut für Klassische Philologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Im Mittelpunkt dieser überzeugenden Arbeit der ausgewiesenen Plutarch-Spezialistin Sophia Xenophontos stehen zum ersten Mal in einer umfassenden, systematischen Untersuchung Plutarchs Konzept von moralischer Erziehung, deren Vermittler sowie die institutionellen Kontexte, in denen sie sich abspielt. Während sich bisherige Arbeiten zu pädagogischen Konzepten bei Plutarch jeweils auf eine ausgewählte Gruppe von Schriften aus seinem Oeuvre konzentriert haben, bezieht Xenophontos mit großer Kompetenz sowohl die explizit pädagogischen Schriften Plutarchs und einen Großteil seiner ethischen und politischen Essays als auch die weniger naheliegenden Trostschriften, ‚Ehe-Ratgeber‘ und Tischgespräche sowie sämtliche Parallelbiographien in ihre komparative Untersuchung mit ein. Entsprechend tragfähig sind die Ergebnisse, zu denen sie gelangt.

Eine der Hauptthesen, die Xenophontos dabei verfolgt, ergibt sich implizit schon aus dem Verzicht auf stärkere Selektion bei der Auswahl der Textgrundlagen für ihren interpretativen Ansatz, der dem zunehmenden Trend der aktuellen Plutarch-Forschung entspricht: Statt moralische und biographische Schriften Plutarchs als getrennte theoretische und praktische Seite seiner Philosophie zu sehen, verweist Xenophontos immer wieder auf die gleichzeitige theoretische und praktische, den Leser auf einander verweisende Signifikanz der Moralia und der Parallelbiographien für die ethischen Grundsätze Plutarchs. Eine weitere Hauptthese der Arbeit unterstreicht die innere Kohärenz von Plutarchs Überzeugungen in verschiedenen Schriften auch auf chronologischer Ebene, insofern Xenophontos bei Plutarch keine Aufspaltung in moralische Kinder- und Erwachsenenbildung, sondern das Konzept eines kontinuierlichen, lebenslangen ethischen Lern- und Lehrprozesses erkennt.

Der Aufbau der Arbeit, die umfassend auch die einschlägige Sekundärliteratur berücksichtigt, folgt einer klaren Struktur, die in zwei Teile zerfällt: Einleitend (Kapitel 1) definiert Xenophontos den theoretischen philosophischen Hintergrund von Plutarchs Auffassung ethischer Erziehung, die für einen Platoniker erstaunlich stark von Aristoteles mitgeprägt ist (vergleiche vor allem De virtute morali): Plutarch geht es in erster Linie um die Formung des Charakters (ethos) durch die Ausbildung von Gewohnheiten, nicht um kognitives Training. Gute oder schlechte Erziehung und das entsprechende soziale Umfeld haben für Plutarch einen wesentlich größeren Einfluss auf die positive oder negative Entwicklung eines Menschen als seine vergleichsweise neutrale Naturveranlagung (physis A), wobei eine Veränderung des Charakters im korrigierenden (epanorthosis) wie im wertfreien bis negativen (so meist metabole) Sinne bis ins hohe Alter möglich ist. Häufig stellt jedoch die scheinbare Charakterveränderung einer Person nur die Offenlegung der eigentlichen Natur (im Sinne eines bereits voll entwickelten Charakters, physis B) unter dem Einfluss äußerer Umstände (tyche) dar.

Die folgenden Kapitel organisiert Xenophontos logisch nach der chronologischen und thematischen Ordnung der institutionellen ‚Schauplätze‘, an denen sich die Verwirklichung, Vertiefung und Umsetzung von moralischer Erziehung und Bildung abspielt – so gelingt es der Autorin, die Bedeutung, die für Plutarchs Philosophie die Betrachtung des praktischen Lebens hat, plastisch zu machen: Die wichtigste Rolle bei der moralischen Erziehung spielt naturgemäß das Elternhaus (Kapitel 2). Hier sieht Xenophontos den expliziten moralischen Einfluss der Mütter kulturbedingt wesentlich geringer als den der Väter, die vor allem in den Parallelbiographien als Vorbild, als Konkurrenzmodell oder als Konstrukt (eines göttlichen Vaters beispielsweise) auf die psychologische Entwicklung der Söhne wirken; der Einfluss der Mutter spielt dagegen nur eine größere Rolle, wenn die Vaterfigur fehlt oder niedrigeren Standes ist, und das fast ausschließlich in Rom oder Sparta (vergleiche etwa Coriolanus). Im Kontrast zur häufig geäußerten Ansicht, Plutarch interessiere sich nicht für das Kindesalter, beobachtet Xenophontos, dass das Beeinflussungsverhältnis von Plutarch aber auch umgekehrt gesehen wird: Kinder können auch eine (idealisierte) Vorbildrolle für Erwachsene spielen (vergleiche die philanthropia der kleinen Timoxena in der Consolatio ad uxorem), und kindisches Verhalten dient Plutarch als (positive oder negative) Parallele zu oder Metapher für erwachsene Verhaltensmuster.

Die nächstgrößere Rolle für die moralische Entwicklung junger Menschen spielen Erzieher- und Lehrerfiguren in der eigentlichen Unterrichtssituation (Kapitel 3). Hierfür analysiert Xenophontos in erster Linie Plutarchs pädagogische, auf verschiedene Lebensphasen vorbereitende Komplementärschriften De audiendis poetis (verstanden als eine Art Propaedeuticum zum Philosophieunterricht für jüngere Schüler) und De audiendo (als tatsächliche Anleitung für einen konzentrierten Philosophieunterricht). Auch in diesen Schriften geht es Plutarch nicht um kognitive Wissensvermittlung, sondern um Hilfestellungen für eine moralisch „gesunde“, kritische Lektüre, Unterweisung und letzten Endes allgemeine Lebensführung. Für die Parallelbiographien macht Xenophontos darüber hinaus die interessante Beobachtung, dass hier nur die dezidiert ‚platonischen‘, von Plutarch als vorbildhaft geschilderten Lehrerfiguren Sokrates (im Falle des Alkibiades) und Platon (im Falle Dions und Dionysios’ von Syrakus) als aktive philosophische Lehrer eine moralisierende Rolle über den konkreten politischen Nutzen und die Aufgabe des weisen Mahners (im Sinne eines Solon) hinaus spielen.

Moralerziehung und -festigung spielt sich bei Plutarch aber auch auf weniger eindeutig pädagogischen Schauplätzen ab: Innerhalb der Ehe (Kapitel 4) fällt beispielsweise im Regelfall dem Mann die Aufgabe der weiterführenden Erziehung der Frau zu (Coniugalia Praecepta); aber in Fällen, wo der Ehemann in eine Situation der Schwäche gerät, legen bei Plutarch auch Frauen ethische Überlegenheit an den Tag und wirken so (weniger ausdrücklich als Lehrerfiguren denn eher als Exempel) auf den Mann ein (vergleiche Mulierum virtutes).

Ethisches Training – im Klassenzimmer und später im Gefolge eines erfahrenen älteren Politikers (vergleiche An seni respublica gerenda sit) – ist für Plutarch auch Voraussetzung und zugleich Ergebnis gelungener Politik (Kapitel 5), da dadurch genau die Charakterfestigkeit hervorgebracht wird, die für politische Entscheidungen wie für die moralisch prägende Interaktion mit den Mitbürgern nötig ist (vergleiche Praecepta gerendae reipublicae). Dass die Betonung genau dieses ethischen Aspekts Griechen wie Plutarch die Selbstbehauptung ihres politischen Wertes und die Erfüllung ihrer eigenen Ansprüche an arete auch unter der römischen Fremdherrschaft ermöglichte, ist eine treffende Beobachtung der Autorin, die sie überzeugend aus den autobiographischen Notizen Plutarchs in seinen politischen Schriften ableitet.

Im Kontrast zu den römischen Erziehungstendenzen seiner Zeit sieht Plutarch aber auch auf militärischem Gebiet (Kapitel 6) die Notwendigkeit ethischen Trainings für die humane Ausübung militärischer Ämter sowie ein großes (meta-)pädagogisches Potential in der Betrachtung der militärischen Laufbahn seiner Protagonisten in den Parallelbiographien, die er nicht so sehr am glücklichen Ausgang ihrer Missionen, sondern am persönlichen Umgang mit Widrigkeiten misst. Die Betonung der ethischen Seite des militärischen Gebietes führt Xenophontos einleuchtend auf die unsicheren Regierungsverhältnisse zur Zeit Plutarchs zurück: Dass sie vor allem in den drei Biographienpaaren zum Tragen kommt, in denen der römische Held ausnahmsweise dem griechischen vorangestellt wird (Aemilius – Timoleon, Sertorius – Eumenes und Coriolanus – Alcibiades), deutet Xenophontos als Hinweis darauf, dass die ethische Komponente der Feldherrenkunst von Plutarch als griechischer Beitrag zu einem sonst römisch dominierten Gebiet verstanden wurde.

Ein weiteres, weniger offensichtliches Feld, auf dem Plutarchs pädagogische Intentionen deutlich werden, sieht Xenophontos zu guter Letzt im Kontext des Symposions, wo philosophisch bzw. altersmäßig vorrangige Gesprächsteilnehmer moralisierend auf ihre Peer-Gruppe einwirken können (Kapitel 7): In den Quaestiones Convivales werden nicht nur inhaltliche Fragen der Ethik auf didaktische Weise erörtert (dazu gehört zum Beispiel die Gegenüberstellung verschiedener Meinungen, aus denen mittels unterschiedlicher Verfahren die beste gewählt werden soll, oder der Rekurs auf pädagogische Bildwelten), sondern das Gesprächsverhalten und Rollenspiel der Teilnehmer sowie die Selbstrepräsentanz Plutarchs kann selbst als Vorbild für eine ethische Gesprächsführung gesehen werden.

Während so die einzelnen Kapitel von Xenophontos’ Monographie eine wertvolle systematische Stellensammlung für moralisierendes Agieren an verschiedenen Schauplätzen im Gesamtwerk Plutarchs und zahlreiche treffende und hilfreiche Einzelbeobachtungen zu einzelnen Schriften bieten, kann man auch die Gesamtargumentation der Arbeit als nachvollziehbar und geglückt bewerten: Plutarchs moralische und biographische Schriften weisen durchgehend aristotelisch oder platonisch geprägte ethische Lebensregeln auf, die von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter zu den unterschiedlichsten privaten und öffentlichen Gelegenheiten einzuüben und umzusetzen sind und damit weit über bloßen Moralismus hinaus einen festen Sitz im praktischen Leben seiner Zeit haben. Zu so einer tragfähigen Neubewertung der pädagogischen Wirksamkeit Plutarchs kann man nur gelangen, wenn man sich wie Xenophontos der mühevollen Aufgabe unterzogen hat, das Gesamtwerk des Vielschreibers Plutarch ganz zu erfassen und zu durchdringen und in die Interpretation seiner pädagogischen Intentionen mit einzubeziehen. Der weniger spezialisierte Leser kann für die wertvollen Ergebnisse einer so umfangreichen und fundierten Untersuchung nur dankbar sein und sie vertrauensvoll weiterverwerten.

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