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Titel
ICH WILL, ICH KANN. Moderne und Selbstoptimierung


Autor(en)
Steinfeld, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
110 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Gelhard, Institut für Philosophie, Universität Wien

Wer sich für die Geschichte der Selbsttechniken interessiert, die heute unser Leben bestimmen, der wird immer wieder auf die Schwelle um 1900 zurückkommen. Von William Sterns Entwurf einer Differentiellen Psychologie über Hugo Münsterbergs Programm der Arbeits- und Organisationspsychologie bis zu Sigmund Freuds Begründung der Psychoanalyse entstehen zu dieser Zeit zahlreiche Test-, Trainings- und Therapietechniken, die heute zum Standardrepertoire der boomenden Beratungsindustrie gehören. Dabei lässt sich Vieles an akademischen Großereignissen, an der Umwidmung vakanter Lehrstühle und an Institutsgründungen festmachen: Freuds berühmte Vortragsreihe bei der Clark Conference, die Einrichtung von Lehrstühlen für experimentelle Psychologie oder Sterns Gründung des ersten Instituts für Angewandte Psychologie markieren einen Umbruch auf dem Gebiet der Selbsttechniken, der theologische Muster zunehmend durch psychologische ersetzte.1 Der Blick auf institutionelle Strukturen vermittelt allerdings nur einen kargen Eindruck davon, was bei diesem Umbruch alles im Spiel war. Vieles wurde von Protagonisten vorangetriebe[n, die keine erkennbare universitäre Bindung hatten und sich nur locker zeitgenössischen Schulen und Strömungen zuordnen lassen. Einer dieser schillernden Figuren hat Thomas Steinfeld nun eine kleine Monographie gewidmet. Unter dem Titel ich „ICH WILL, ICH KANN“ zeichnet er das Porträt von Broder Christiansen (1869–1958) als einem Pionier moderner Selbstoptimierungslehren.

Philosophisch begann Christiansens Karriere im Spannungsfeld von Neukantianismus und Wiener Kreis. Er promovierte bei Heinrich Rickert und war lange mit Rudolf Carnap befreundet. Er hätte wohl auch eine akademische Laufbahn einschlagen können, entschied sich aber für den Alleingang in Sachen Lebensberatung. Damit besetzte er eine Sparte des praktischen Denkens, die für Philosophen und Philosophinnen häufig im toten Winkel liegt. Als Theodor W. Adorno kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sein Buch „Minima Moralia“ veröffentlichte, präsentierte er seine philosophischen Fragmente als Versuch, die Frage nach dem richtigen Leben zurückzugewinnen, nachdem sich die Philosophie „in Methode“ verwandelt hat.2 Das zielte gerade auf das philosophische Feld, in dem Christiansen seine akademische Ausbildung erhalten hatte. Steinfeld hebt diese (intellektuelle) Herkunft hervor, weil er sie als Quelle des „abstrakten Funktionalismus“ (S. 17) sieht, der Christiansens Denken durchgehend prägte. Steinfelds Analyse von Christiansens philosophischem Umfeld zeigt aber, dass Adornos These differenzierter gefasst werden muss. Das Thema des guten Lebens wurde nicht einfach aus der Philosophie verdrängt, indem diese sich rein funktional als Methode bestimmte; es wurde selbst zu einer Frage der Methode, die sich durch die Wahl der richtigen Werkzeuge beantworten lassen sollte. Steinfeld zitiert aus einer Programmschrift des Wiener Kreises: „Es gilt Denkwerkzeuge für den Alltag zu formen, für den Alltag aller, die an der bewußten Lebensgestaltung irgendwie mitarbeiten“ (S. 16).

Dieser Satz ist charakteristisch für das philosophische Klima, in dem Christiansen seine Konversion zum „praktischen Psychologen“ vollzog. Bei einem Vortrag Rudolf Carnaps in dem philosophischen Kreis um Moritz Schlick galt die Bewunderung der Anwesenden dem Philosophen, der „wie ein Ingenieur“ (S. 85) die Elemente eines Mechanismus zergliedert habe. Dieses Leitbild des Ingenieurs findet sich auch bei den Protagonisten der angewandten Psychologie, die im deutschen Sprachraum eine Zeitlang unter dem Titel „Psychotechnik“ entwickelt wurde. Steinfeld deutet diesen Bezug kurz an, benötigt ihn aber eigentlich gar nicht, um zu zeigen, wie Christiansen das Verfahren Carnaps „zur Kenntlichkeit entstellte, indem er es auf alles und jedes anwandte“ (ebd.). Am deutlichsten zeigt sich die Grundrichtung von Christiansens praktischer Psychologie in der Willenslehre, die er 1919 unter dem Titel Ich will! – ich kann! publizierte. Nirgendwo zeigte sich deutlicher die Neigung, das menschliche Leben auf eine Frage des Könnens zu reduzieren, als in diesem Buch, in dem Christiansen den Willen als einen trainierbaren Muskel imaginierte: „Nur wenige wissen, daß es Stufen der Willensvollkommenheit gibt, die man durch Übung aufsteigen kann: daß der Wille sich trainieren läßt wie ein Muskel. Und weniger noch sind, welche die königliche Kunst bis aufs Letzte erreichen: die aber, ob man es sieht oder nicht, sind die eigentlichen Herren der Welt. Wem der Wille klar, stahlhart und wie Stahl zugleich geschmeidig ist, dem wird alles andere wie von selbst zufallen“ (S. 18).

Das ist eine sehr deutsche Form von Willenspsychologie. Hugo Münsterberg verwendete eine ähnliche Metaphorik am Ende seines Buches über „Psychologie und Wirtschaftsleben“, lässt die Beschwörung von Eisen und Amboss in der amerikanischen Fassung aber weg.3 Das macht deutlich, worum es – mit oder ohne Pathos der Härte – wirklich ging: Um eine psychologisch unterfütterte Form von Rationalisierung, die den Taylorismus ebenso kennzeichnete wie die von Max Weber analysierten Formen bürokratischer Herrschaft. Schon in Christiansens Willenslehre zeichnete sich so ein allgemeines Muster ab, das man auch in aktuellen psychotechnischen Programmen wiederfinden kann: Erfolg oder Misserfolg wird prinzipiell auf die Qualitäten der einzelnen Akteure zurückgeführt, die folglich einer permanenten Beobachtung und Bewertung unterzogen werden müssen.

Stärke und Schwäche von Steinfelds Studie liegen in der konsequenten Konzentration auf die Biographie Christiansens. Diese Strategie erlaubt es, allgemeine Strukturmerkmale moderner Selbstoptimierungslehren in den Schriften eines exemplarischen Autors aufzuweisen; sie zeitigt aber auch immer wieder längere Umwege, die dem theoretischen Einfluss von und auf Christiansen gewidmet sind. So erfährt man, dass Christiansens Schrift über die „Philosophie der Kunst“ (1909) durch ihre russische Übersetzung (1911) auf Viktor Sklovskij und die russischen Formalisten wirkte. Auf der Gegenseite wird ausführlicher erläutert, inwiefern der Neukantianismus und der Wiener Kreis das Denken Christiansens prägten.

An manchen Stellen wünscht man sich, Steinfeld hätte die Konzentration aufs Biographische noch einen Schritt weiter getrieben und einen Aussteigerroman im Stile von Christian Krachts „Imperium“4 vorgelegt. Die Kombination aus logischem Positivismus und freier Liebe hätte hierfür einen dankbaren Stoff abgegeben. Aufschlussreich für eine systematischer angelegte Genealogie moderner Selbstoptimierungstechniken ist vor allem auch die Darstellung von Christiansens „Das Gesicht unserer Zeit“ (1929), das das Programm der Selbstoptimierung auf die „Analyse und Optimierung von Weltzuständen“ (S. 82) ausdehnt. Christiansen legte mit diesem Buch eine umfassende Kulturdeutung vor, die Züge einer reaktionären Utopie trug. Er unterschied zwischen den kulturellen Stilen des „Vorgestrigen“, des „Gestrigen“, des „Heutigen“ und des „Morgigen“, um – auch im Blick auf Persönlichkeitstypen – das Überholte vom Avancierten zu unterscheiden: „Vorgestern war der Impressionismus, die Pastellfarben und die Arbeiterklasse, gestern war der Expressionismus und der Wandervogel, heute ist ‚exakteste Leistung‘, Sport und neue Sachlichkeit – und morgen soll die Askese wiederkehren, die Gotik, eine ‚neue feste Gottesformel‘ und eine ‚männliche, ritterliche Zeit‘“ (S. 84).

Hier zeigt sich, was Christiansen von Protagonisten der Psychotechnik wie Stern oder Münsterberg unterschied: Der Pragmatismus des Könnens genügte ihm auf Dauer nicht. In der groß angelegten Kulturdeutung schlug die bürokratische Sachlichkeit in neugotische Geschichtsutopie um. Entsprechend empfänglich war Christiansen für die propagandistische Rhetorik des Nationalsozialismus. In der Sammlung von Sprüchen und Aphorismen, die er 1935 unter dem Titel „Das Lebensbuch“ publizierte, kehrt das Willensthema in Form eines Hitler-Zitats wieder: Der „völkische Staat“, heißt es dort, habe der „Erziehung des Willens und der Entschlußkraft höchste Aufmerksamkeit zu widmen“ (S. 88). Das Buch zitierte auch Goebbels, zudem unterhielt Christiansen engen Kontakt zu dem nationalsozialistischen Dichter Wilhelm Schäfer. Nach Steinfeld sei das aber noch kein Grund, ihn als Nationalsozialisten einzustufen: „Für einen Faschisten oder Nationalsozialisten wird man Broder Christiansen angesichts seiner Schriften nicht halten können, nur für einen ambitionierten Mitläufer“ (ebd.).

Die Frage, welcher theoretische Rahmen zur weiteren Interpretation dieser Zusammenhänge am besten geeignet wäre, deutet Steinfeld, dem essayistischen Duktus seiner Darstellung entsprechend, nur an. Die Verweise auf Günther Anders’ Theorie der „prometheischen Scham“5, auf die Verdinglichungskritik von Horkheimer und Adorno6 und auf Helmut Lethens „Verhaltenslehren der Kälte“7 bieten eher Angebote zur weiteren theoretischen Reflexion als ausgearbeitete Analysen. Das ist offensichtlich so gewollt und stellt auch eine Stärke von Steinfelds Text dar, weil ein entschiedenerer theoretischer Zugriff sicher einige Aspekte des Themas ausgeblendet hätte, die gerade aufgrund ihrer Heterogenität ein aufschlussreiches Gesamtbild ergeben.

Um abschließend nur einen Punkt zu erwähnen, der eine eingehendere theoretische Aufarbeitung verdiente, sei Christiansens Neigung genannt, soziale Antagonismen in individuelle Aufgaben zu verwandeln. Steinfeld hält als eine Pointe von Christiansens Willenslehre fest, sie habe „weder Feinde noch Konkurrenten“ gekannt, sondern nur „Herausforderungen“ (S. 92). Das ist eine Technik zur Verschleierung sozialer Konfliktlagen, die heute mit weit komplexeren Mitteln arbeitet als sie Christiansen zur Verfügung standen. Gerade die eher einfachen Strategien der Verwandlung von Antagonismen in Aufgaben, wie sie sich in Christiansens Schriften finden, bieten hier aber einen guten Ansatz für weitere Analysen.

Anmerkungen:
1 Die These zur Ablösung theologischer durch psychologische Techniken der Menschenlenkung entwickele ich näher in Andreas Gelhard, Kritik der Kompetenz, Zürich 2011. Zu Freuds Auftritt bei der Clark Conference 1909 siehe Rand B. Evans / William A. Koelsch, Psychoanalysis Arrives in America. The 1909 Psychology Conference at Clark Universitiy, in: American Psychologist 8 (1985), S. 942–948. Zu Sterns Instituts- und Zeitschriftengründungen siehe Martin Tschechne, William Stern, Hamburg 2010.
2 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, S. 7.
3 Man vergleiche Hugo Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie, Leipzig 1912, neu herausgegeben und eingeleitet von Walter Bungard und Helmut E. Lück, Weinheim 1997, S. 188f.; Hugo Münsterberg, Psychology and Industrial Efficiency, Boston 1913, S. 205f.
4 Christian Kracht, Imperium: Roman, Köln 2012.
5 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, München 1956.
6 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1984.
7 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994.