C. Wickham: Sleepwalking into a New World

Cover
Titel
Sleepwalking into a New World. The Emergence of Italian City Communes in the Twelfth Century


Autor(en)
Wickham, Chris
Reihe
Lawrence Stone Lectures
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 26,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Bernwieser, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz

Die Kommune zählt zu den besonders intensiv erforschten Phänomenen des italienischen Mittelalters. Aufgrund der vielfältigen Überlieferung sowie der sich stark voneinander unterscheidenden Ausprägungen der einzelnen „Stadtstaaten“ konzentrieren sich die Untersuchungen in der Regel auf lokale bzw. regionale Fragestellungen, sodass übergreifende Analysen eher die Ausnahme bilden. Dies trifft vor allem auf das frühe 12. Jahrhundert zu, jene Zeit also, in der sich die Kommunen herausbildeten und erste Hinweise in den Quellen auf das Vorhandensein entsprechender Strukturen – beispielsweise die Einsetzung von Konsuln oder die regelmäßige Einberufung öffentlicher Versammlungen – begegnen. Chris Wickham hat sich im Mai 2013 als „Visiting Stone Professor“ an der Princeton University dieser frühen Phase der Kommunen gewidmet und – wie es für Stone-Professoren üblich ist – unter einem sehr prägnanten Titel einen Band zum gewählten Schwerpunktthema vorgelegt. Darin trägt er die bisherige Forschung zusammen und ergänzt diese Ausführungen um eigene, vor allem prosopographische Analysen zu den städtischen Eliten. Die in fünf Kapitel untergliederte Darstellung ist sowohl Detailstudie als auch Überblickswerk, da in ihr einerseits die bei der Entstehung der Kommunen Mailand, Pisa und Rom (Kapitel 2 bis 4) maßgeblichen Familien bis jeweils etwa 1150 untersucht werden und andererseits knappe Überblicke zur Forschungsgeschichte (Kapitel 1) sowie zur Entwicklung der frühen Kommune im gesamten oberitalienischen Raum (Kapitel 5) gegeben werden.

Zum Inhalt im Einzelnen: Im ersten Kapitel wird schlaglichtartig ein Überblick zur Forschungsgeschichte der Kommune gegeben: Während die italienische Mediävistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in ihren Darstellungen mit Blick auf die als Ideal wahrgenommene Kommune eher „den Sieg städtischer Autonomie gegenüber externer Herrschaft“ (S. 3) akzentuiert und – vor allem während des Risorgimento – die „kommunale Unabhängigkeit“ Oberitaliens als deutlichen Kontrast zum rückwärtsgewandten Süden des Landes beschrieben habe, habe man „international“ – und hier werden überwiegend US-amerikanische Forscher zitiert – die Stadtstaaten als Ursprung der politischen und kulturellen Moderne begriffen (S. 4).

Kapitel 2 befasst sich dann ausführlich mit der Herausbildung kommunaler Strukturen in Mailand: Zunächst wird die Entwicklung des 11. Jahrhunderts skizziert, wobei nach Wickham davon auszugehen sei, dass die Patarener wohl nur einen geringen Einfluss auf die Kommunebildung gehabt hätten. Dann widmet er sich ausführlicher den politisch aktiven Familien der 1120er- und 1140er-Jahre und zeigt, dass der Einfluss der Rechtsgelehrten gegenüber den adligen Amtsträgern immer größer geworden sei. Die Kommune Mailand, so die Schlussfolgerung, habe sich in einer Struktur entwickelt, die nicht mehr vom Adel dominiert worden sei, sondern eher von nichtadligen Personen, die sich lediglich mit den Werten des Adels identifiziert hätten.

Kapitel 3 konzentriert sich auf Pisa, wo die Kommunebildung durch ein „Machtvakuum“ (Abwesenheit Mathildes von Tuszien 1081–1096 und der Pisaner Erzbischöfe in den 1080er- und 1090er-Jahren) begünstigt worden sei. Auch für Pisa listet Wickham die politisch einflussreichen Familien auf und auch hier zeigt er, wie der Einfluss der lediglich innerhalb der Stadtmauern begüterten nichtadligen sowie derjenige von rechtsgelehrten Personen stetig wuchs.

Auch die in Kapitel 4 behandelte Kommune Rom habe ihren Ursprung in den Krisen des 11. und frühen 12. Jahrhunderts (Kirchenreform und „Investiturstreit“) und auch hier werden nichtadlige und weniger begüterte Familien identifiziert, deren politischer Einfluss in der Stadt immer größer wurde.

Kapitel 5 ist mit „Italien“ überschrieben; in ihm werden zunächst der Reihe nach die Anfänge der Kommunen Genua, Asti, Vercelli, Bergamo, Piacenza, Cremona, Bologna, Venedig, Lucca, Florenz und Arezzo kurz behandelt. Dann fasst Wickham die Ergebnisse seiner Studie zusammen: Eine seiner Hauptbeobachtungen ist, dass die Herausbildung der italienischen Kommune in den meisten Fällen von Personen und Familien begleitet wurde, die er – in Abgrenzung zu den reichen Adligen des Umlands („Eliten der ersten Ebene“, S. 191) und den „mittleren Eliten der dritten Ebene“ mit kaum Landbesitz als „Eliten der zweiten Ebene“ (ebd.) oder – unter Rückgriff auf Maire Vigeurs1 Arbeit – als begüterte „Reiter“ (ebd.) kennzeichnet. Mehrfach betont er, dass diese politischen Akteure gar nicht gewusst hätten, was sie tun. Um diese Art des „Schlafwandelns“ zu illustrieren, formuliert er abschießend eine auf die Gegenwart bezogene Frage: Was würde passieren, wenn in Palermo plötzlich alle staatlichen Strukturen ausfielen und die Mafia die Stadtherrschaft übernähme? Wickham zufolge würden sich – ganz unabhängig davon, ob die Mafia-Führung dies beabsichtigt oder nicht – neue Regeln und Verfahren herausbilden, die eines Tages tatsächlich funktionierten. Genau diese Art des „Schlafwandelns“ in ein neues Verwaltungssystem sei für ihn eines der Hauptcharakteristika der frühen Kommunen. Er schließt seine Studie mit der für die Wahl des Titels wohl ausschlaggebenden Hypothese: „When they (the Italian communes and their leaders) woke up from their sleepwalking and finally took it on consciously, the new world was already formed around them“ (S. 205).

Wickhams Darstellung liefert vor allem in den eher prosopographisch angelegten Kapiteln 2 bis 4 eine Fülle von quellenbasierten Einblicken in die Geschichte der die jungen Kommunen Mailand, Pisa und Rom bestimmenden Personenkreise, Familien und deren Netzwerke. Dies macht die mit einem Personen-, Orts- und Sachregister gut zu erschließende sowie mit einigen Karten zu den innerstädtischen Besitzverhältnissen ausgestattete Studie zu einem informativen Nachschlagewerk für das frühe 12. Jahrhundert zu den genannten Städten. Allerdings fällt auf, dass wichtige Untersuchungen beispielsweise zu Mailand und Pisa nicht zitiert werden. Verwiesen sei hier nur auf Olaf Zumhagens Analyse zur Pataria2 oder auf Richard Engls erhellende Arbeit zu Bernardo Maragones Annales Pisani.3 Möglicherweise müssten Wickhams Prosopographien in einem zweiten Schritt auch noch ergänzt werden um detailliertere Untersuchungen zu den Handlungen der von ihm erhobenen Personen. Vielleicht käme dann das Moment der Friedenssicherung durch einander regelmäßig geleistete Eide als zentrales Element kommunaler Herrschaftspraxis stärker in den Blick. Hierzu bemerkte Gerhard Dilcher bereits 1999: „Intern führt das ‚Stehen zu gleichem Eide‘ der Bürger zu einer eigenartigen politischen Körperschaft, deren korporative Prinzipien wir aber weder mit moderner Egalität noch Demokratie verwechseln dürfen, obwohl sie im Verhältnis zur umgebenden Feudalgesellschaft diesen modernen Grundsätzen ähnlich erscheinen. Ihnen fehlt aber der abstrakte und theoretisch doktrinäre Charakter moderner Verfassungsprinzipien“.4 Mit anderen Worten: Den in den frühen Kommunen politisch Aktiven dürfte ihr Handeln durchaus bewusst gewesen sein, auch wenn im frühen 12. Jahrhundert die Begrifflichkeit hinsichtlich der politischen Verfasstheit noch nicht allzu gefestigt war. Inwieweit das von Wickham kreierte, sehr eingängige Bild von den „Schlafwandlern in die Moderne“ der politischen Praxis in den jungen Kommunen tatsächlich gerecht wird, müsste daraufhin noch einmal überprüft werden.

Anmerkungen:
1 Jean-Claude Maire Viguer, Cavaliers et citoyens: guerre, conflits et sociéte dans l’Italie communale, XIIe–XIII siècles, Paris 2003.
2 Olaf Zumhagen, Religiöse Konflikte und kommunale Entwicklung. Mailand, Cremona, Piacenza und Florenz zur Zeit der Pataria, Köln 2002.
3 Richard Engl, Geschichte für kommunale Eliten. Die Pisaner Annalen des Bernardo Maragone, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 89 (2009), S. 63–112.
4 Gerhard Dilcher, Kommune und Bürgerschaft als politische Idee der mittelalterlichen Stadt, in: Iring Fetscher (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2, München 1993, S. 311–350, hier S. 322.

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