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Titel
Vom Leib geschrieben. Der Mikrokosmos Zürich und seine Selbstzeugnisse im 17. Jahrhundert


Autor(en)
Henny, Sundar
Reihe
Selbstzeugnisse der Neuzeit 25
Erschienen
Köln 2016: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
404 S., 35 Abb.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Hanß, Faculty of History, University of Cambridge

„Am Anfang war das Archiv.“ (S. 7) Mit diesem Satz leitet der Verfasser, Postdoktorand an der Universität Bern, einen Band ein, der neue Maßstäbe in der Selbstzeugnisforschung zu setzen beansprucht. Die Basler Dissertationsschrift erforscht am Beispiel Zürichs im 17. Jahrhundert die materielle Konstitution von Selbstzeugnissen, inwieweit deren Stofflichkeit, Gewicht, Schriftbild sowie Gebunden- und Verfasstheit für die Selbstentwürfe der Verfasser wesentlich waren: „Das autobiographische Schriftgut soll als Amalgam von Geist und Körper, von Semantischem und Somatischem, von Subjektivität und Objektivität begriffen werden.“ (S. 11)

Eine ausführliche Einleitung verortet dieses Vorhaben innerhalb der neueren Selbstzeugnisforschung, deren Fokus auf Schreibsituationen, Personenkonzepte, Kontextualisierung und Absage an Individualisierungsannahmen der Autor nachdrücklich hervorhebt. Neu ist, dass der Schreibakt als kommunikative Handlung verstanden wird, die die Leiblichkeit des Schriftgutes selbst mitdachte. Methodische Anleihen nimmt Henny bei der neueren Buchgeschichte, aber ebenso bei Studien zur materiellen Kultur und körpergeschichtlichen Arbeiten.

Ausgehend von der Einsicht, dass subjektive Erfahrungswelten in der Frühen Neuzeit nicht mit der Haut endeten, „wird hier davon ausgegangen, über die Leiblichkeit des Buches die Leiblichkeit historischer Personen selbst partiell erschließen zu können“ (S. 17). In der Frühen Neuzeit seien Bücher als heiliger und sexualisierter Leib beschrieben worden, sodass Schreibakt als Geschlechtsakt, Druck als Geburt und Bücher als Kinder thematisiert werden konnten. Zudem existierte die Bildtradition des gewogenen Schriftgutes, die die Bedeutung der Gegenständlichkeit des Geschriebenen für frühneuzeitliche Akteure hervorhebt. Die zweifellos bedeutendste historische Einbettung formuliert Henny im Hinblick auf die Zürcher Theologie: „Ausgerechnet in Zürich, das seit der Reformation die Realpräsenz im Abendmahl gänzlich leugnete, wurden Leib und Leiblichkeit öfters ins Magische überhöht. Ausgerechnet in der Schrift, dem protestantischen Medium par excellence, wurde dieser Kult manifest.“ (S. 313)

Insgesamt fünf Fallstudien zu Zürcher Akteuren des 17. Jahrhunderts legen näher dar, was hierunter zu verstehen ist. Die erste Fallstudie über den Antistes Johann Jakob Breitinger (1575–1645) führt in die damalige „Kopialkultur“ (S. 78) ein: Was heißt es für ein Selbstzeugnis, wenn der Status der Abschrift als Reliquie und das Kompilieren und Kopieren als Einverleibung und Erkenntnispraxis verstanden wurden? Die Überlieferung von Selbstzeugnissen produzierte nach dieser Logik selbst transgenerationale Personenentwürfe, die sowohl prä- als auch deskriptiv waren. Die zweite Fallstudie des Kaufmanns und Bürgermeisters Salomon Hirzel (1580–1652) zeigt, wie die buchhalterische Selbstzeugnisgestaltung Frömmigkeit dokumentierte und herstellte. Die Sichtbarmachung des Betaktes führte zur Verschriftlichung eines Selbstzeugnisses, das selbst als Gebetsverzeichnis eine materialisierte Gabe an Gott darstellte. Dadurch wurden der Schreibakt zum Gebetsakt und das Buch verzierungs- sowie verehrungswürdig. Hirzels Nachfolger im Bürgermeisteramt und Protagonist der dritten Fallstudie, Johann Heinrich Waser (1600–1669), gestaltete bewusst seinen Nachlass, um durch Zugriffspraktiken auf Textkörper eine auf Ehrmanifestation ausgerichtete Memoria zu perpetuieren. Wasers Selbstzeugnis etablierte ein heraldisches Verweissystem, das sein Schaffen als Amtsperson mit Himmelskonstellationen, Familienwappen, obrigkeitlicher Ehre und göttlichem Wirken in Verbindung setzte. Das „Gedechtnuß“ an die Person materialisierte sich in einer über die Textlichkeit hinausweisenden Schrift, die Ehre als Balanceakt zwischen Repräsentation und Bescheidenheit manövrierte. Die vierte Fallstudie widmet sich den Wechselbeziehungen zwischen Oralität und Schriftlichkeit anhand des Pfarrers und Professors Johannes Müller (1629–1684). Sein in der Form von Monologen und Konversationen verfasstes Selbstzeugnis ist als Verschriftlichung von Mündlichem – und dem, das als solches klassifiziert wurde – zu lesen. In Spalten angelegt, notierte Müller Gehörtes zu Zürcher Geschehnissen und verfasste dazu kommentierende und kritische Stellungnahmen. Seine Predigten, deren Drucklegung er als Informationsschuld darstellte, duldeten hingegen keine Widerrede – und stellten gerade so Textautorität her. Die fünfte und letzte Fallstudie verdeutlicht, wie der comenianische Reformpädagoge Johann Jakob Redinger (1619–1688) der restriktiven Einbürgerungspolitik Zürichs in Wort und Tat begegnete. Seine Selbstbeschreibung als Prophet wird durch Körpersymptome untermauert und in seinem Handeln selbst vollendet. Durch Missionierungsaktivitäten im osmanischen Heerlager fielen Tat, Text und Bildlichkeit als Personenentwurf zusammen und generierten Authentizität. „Redinger überbrachte dem Großwesir das Buch, das zeigt, wie einem orientalisch gekleideten Mann ein Buch überbracht wird. Redinger wurde damit selbst zu einer Figur seiner eigenen Heilsgeschichte und Wort und Tat fallen in einem Ereignis zusammen.“ (S. 302) Der selbsternannte Prophet wird seiner Beschreibung als Prophet durch eigenes Handeln gerecht. Dass Redingers Bemühungen angesichts der rigiden Zürcher Einbürgerungspraxis scheiterten, wurde im Kontext prophetischen Schreibens dann als Erwählung des eigentlich entscheidenden, himmlischen Buches uminterpretiert, insofern die „biblische Figur des Propheten eigentlich grundsätzlich auf Erden scheitern muss“ (S. 311).

Hennys Studie hält wesentliche Einsichten zur frühneuzeitlichen Geschichte Zürichs bereit. Zum einen wird ersichtlich, dass die soziale Binnendifferenzierung in der vermeintlich homogenen Autorengruppe erheblich war – und sich gerade in der Verschriftlichung, Aufbewahrung und Überlieferung von Selbstzeugnissen manifestierte, über die historische Protagonisten Positionen zu lebensweltlichen Auseinandersetzungen bezogen und diese Deutungsansprüche durch die Materialisierung, Gestaltung und Überlieferung des Schriftguts zu wahren erhofften. Zum anderen werden die Probleme historiografischer Narrative deutlich, die auf binäre Konstruktionen zurückgriffen und sich den komplexen Zürcher Lebenswelten im 17. Jahrhundert allzu sehr im Hinblick auf Reformation und Aufklärung näherten.

Es ist ein Verdienst der Arbeit, die einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte von Schriftlichkeit im Konfessionszeitalter darstellt, die Heterogenität des Genres und frühneuzeitlicher Gebrauchspraktiken von Selbstzeugnissen aufgezeigt zu haben. Darauf aufbauend, ergeben sich weitere Fragen. Inwieweit sind die Erkenntnisse der Studie über Selbstzeugnisse – als Gegenstände aus Papier, Tinte und Bucheinbänden – im Sinne derzeitiger Forschungen zur material Renaissance in frühneuzeitlichen Handwerkerkulturen einzubetten? Welche Rolle spielten etwa Papiertechnologien für Selbstdarstellungen (Papierherstellung, -handel und -gestaltung)? Die Frage nach Schreibpraktiken und Kalligrafie würde dann zudem Anschlusspotential an Forschungen zu Schriftbildlichkeit sowie zum Zusammenhang von materieller Kultur und embodied knowledge bereithalten. Es stellt sich zudem die Frage, welche Bedeutung Körperpraktiken wie Essen, Trinken, Bewegen und Kleiden oder aber medizinisches Wissen für die „vom Leib geschrieben[en]“ Texte besaßen? Denken wir etwa an die Nürtinger Blutbibel (1634) und die häufig von Autoren akribisch verzeichneten Beobachtungen zu Aderlass, Schweiß, Urin und körperlicher Komplexion, stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung von Körpersäften für verschriftlichte, Leib-bezogene Selbstdarstellungen.

Hennys Arbeit ist ein Plädoyer dafür, autobiografisches Schriftgut nicht auf Texte zu reduzieren, sondern in der jeweiligen materiellen Konstitution und Überlieferung im Hinblick auf Dinglichkeit, Körperlichkeit und Selbst zu denken. Diese Forderung besitzt weitreichende Konsequenzen für die Selbstzeugnisforschung, aber ebenso für künftige Texteditionen und die Arbeit von BuchrestauratorInnen. Zur Diskussion steht, inwieweit sich die Ausweitung des Selbstzeugnisbegriffes – „Alles kann ein Selbstzeugnis sein“ (S. 44) – in anderen Projekten konkretisiert. „Wenn grundsätzlich allem Schriftgut die Möglichkeit eingeräumt wird, ein Selbstzeugnis zu sein oder faktisch als ein solches zu fungieren“ (S. 44), werden künftige Studien zeigen, inwieweit eine solche Feststellung forschungspragmatisch operationalisierbar ist, ohne dass Selbstzeugnisforschung praktisch auf Quellenkritik reduziert wird. Vor allem aber liefert die Studie wesentliche Impulse für die innovative Erforschung von Selbstzeugnissen als Materialisierungen von Personenkonzepten einerseits sowie zum Stellenwert der materiellen Kultur von Schriftlichkeit für Subjektivitätserfahrungen andererseits. Wenn bisherige Studien betonten, dass der Schreibakt als Wahl zu verstehen ist, was im Leben als autobiografisch wie zu thematisieren war oder nicht, so ist mit vorliegender Monografie hervorzuheben, dass die physisch-materielle Gestaltung solcher Schriften genauso als Akt des Wählens und Handelns zu thematisieren ist, der Aufschlüsse über Selbstentwürfe liefert. Für die Erforschung frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse ist demnach zu bedenken, dass häufig von einem Textkorpus auszugehen ist, der in seiner Gegenständlichkeit im Zusammenspiel mit vielfältigen Artefakten und im Gebrauch durch zahlreiche Akteure über den eigentlichen Text hinaus Personenkonzepte durch Präsenzgenerierung produzierte. Gerade durch die Behandlung von Selbstzeugnissen als Gegenstände, die sich in Quasi-Reliquienkult, in der Indexierung, Seitengestaltung, Nachlassorganisation und der dinglichen Gestaltung des Buches mit prunkvollem Einband niederschlagen konnte, erhöhten Akteure die Überlieferungschance ihrer Texte. Durch ebendiese innovative Herangehensweise hat der Autor der vorliegenden Monografie deren Überlieferungschance selbst erhöht: Es handelt sich um ein Buch, das gerade in Zeiten von Google Books und E-books im Bücherregal zu stehen hat.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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