S. Nagle: Histories of Nationalism in Ireland and Germany

Cover
Titel
Histories of Nationalism in Ireland and Germany. A Comparative Study from 1800 to 1932


Autor(en)
Nagle, Shane
Erschienen
London 2017: Bloomsbury
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 80,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Amerigo Caruso, Universität des Saarlandes

Die fieberhafte Suche nach einer distinguierenden und kohärenten historischen Meistererzählung bildet einen zentralen Aspekt der Geschichte Europas im langen 19. Jahrhundert. Empires, Nationalstaaten und „unfertige Nationen“ waren aufgrund ihrer fragilen Legitimitätssituation auf kollektiv sinnstiftende Vergangenheitsnarrationen in besonderem Maße angewiesen. Die Durchsetzung von historischen Teleologien rechtfertigte die nationale und imperiale Existenz- bzw. Expansionsberechtigung der Staaten. Die Idee der Besonderheit und meistens auch der Überlegenheit der eigenen Nation war ein Grundbestandteil der historischen Meistererzählungen, die von den aufkommenden Nationalgeschichten entscheidend geprägt wurden. Die vorliegende Dissertation von Shane Nagle untersucht die imaginierten Sonderwege, die die Unabhängigkeits- und Machtansprüche der deutschen und der irischen Nationalisten untermauerten. Genauer gesagt beschäftigt sich Nagle mit der vermeintlichen Besonderheit von „origins, religion, national territory, and race and othering“ (S. 2f.). Herkunft, Religion, Raum sowie Rasse und Abgrenzung werden als Paradigmen der national-historischen Großdeutungen aufgefasst und bilden die vier Hauptkapitel der Monographie. Das fünfte und letzte Kapitel ist hingegen der Assoziation des vergleichenden Ansatzes mit transnationalen Überlegungen gewidmet.

Nagle analysiert die herrschenden Erklärungs- und Darstellungsmuster der „nationalen“ Vergangenheit am Beispiel von sieben deutschen und acht irischen Historikern (S. 8). In den letzten Jahren wurde über die Rolle von Geschichtsprofessoren, dilettierenden Historikern und historischen Narrationen zur Erfindung der Nation europaweit intensiv geforscht. Exemplarisch dafür ist die 2015 vervollständigte Publikation der neunbändigen Reihe Writing the Nation1 Des Weiteren sind nach der Jahrtausendwende mehrere theoretisch hochreflektierte Beiträge zu den engen Verflechtungen von Geschichtspolitik, Geschichtswissenschaft und Nationalstaat erschienen.2 Dabei stellt sich unwillkürlich die Frage nach den neuen Erkenntnissen und Interpretamenten, die die knapp 200-seitige Dissertation von Shane Nagle liefern kann. Der Autor ist der weitgehenden Saturation des Forschungsmarktes „Nationalismus“ durchaus bewusst und versucht (mit wechselndem Erfolg) eine Lücke zu finden, um seine Studie zu positionieren. Mehrere Aspekte sprechen dafür, dass diese Arbeit trotz bestehenden Überangebots lesenswert ist. Zunächst sind die Geschichte Irlands und seine Nationalhistoriographie zumindest in Kontinentaleuropa vergleichsweise wenig bekannt. Vermutlich gehören sie nicht zu den Standardnarrationen des langen 19. Jahrhunderts, weil Irland erst nach dem Ersten Weltkrieg zum unabhängigen Nationalstaat wurde. Zudem tendieren die Studien zum irischen Nationalismus bis heute dazu, wenig komparativ und transnational zu arbeiten. Ein Grund dafür könnte die nachhaltige Durchsetzung der Idee einer irischen Besonderheit sein, die in Nagles Dissertation als Produkt der Nationalgeschichtsschreibung betrachtet und dekonstruiert wird. Schließlich wirkt der deutsch-irische Vergleich „erfrischend“ und ist besonders geeignet, um historische Teleologien kritisch zu hinterfragen, weil damit Zentrum und Peripherie, kontinentale Großmacht und nicht-unabhängiger Inselstaat sowie qualitativ und quantitativ heterogene Intellektuellendiskurse verglichen werden.

Zurecht betont der Autor, dass eine strikte und wertende Trennung zwischen akademischen und dilettierenden Historikern ein Produkt der sich im 19. Jahrhundert vollzogenen Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft und damit auch der „Nationalisierung“ der Geschichte ist. Aus diesem Grund entscheidet sich Nagle, auch nicht-akademische Historiker und populärwissenschaftliche sowie literarische Quellen in seine Arbeit einzubeziehen. Die biographischen Notizen zu den fünfzehn Protagonisten sind im Appendix des Buches zusammengefasst. In der Gruppe ist nur eine Frau, die irische Autorin und Politikerin Alice Stopford Green, vertreten. Als Auswahlkriterien dienen das politisch-akademische Einflussvermögen und die breite Popularität der Historiker. Diese Herangehensweise ist nachvollziehbar, hat jedoch leider den Nachteil, dass ausgerechnet die Ideen und Netzwerke um Ranke, Sybel und Treitschke untersucht werden, worüber längst alles geschrieben zu sein scheint. Außerdem waren alle ausgewählten deutschen Historiker, insbesondere nach 1850, in ihren Ansichten konservativ und tendierten dazu (außer Ranke und Johannes Janssen), radikal-nationalistische, pangermanische, völkische und sogar nationalsozialistische Ideen zu vertreten. Diese stark rechtsorientierte Akteursauswahl birgt die Gefahr, indirekt und wahrscheinlich auch nicht absichtlich die Kontinuitätsthese wiederzubeleben. Positiv fällt dagegen auf, dass Nagle auch für Irland ein Ensemble an katholischen und protestantischen Historikern aus drei verschiedenen Generationen in den Blick nimmt, wobei die Generation als analytische Kategorie nicht operationalisiert wird.

Im Sinne der angloamerikanischen Tradition hat der Nationalismusbegriff in der vorliegenden Arbeit eine neutrale Konnotation. Zudem wird die Erfindung der nationalen Vergangenheit nicht als ein Prozess ex nihilo aufgefasst, sondern vielmehr als die kontroverse Anpassung zwischen bestehenden Traditionen und neuen Erfahrungen und Erwartungshaltungen definiert. Ausgangspunkt des deutsch-irischen Vergleichs ist die Parallelität zwischen dem Untergang des alten Reichs im Jahr 1806 und der Eingliederung im Königreich Großbritannien des bis dahin in Personalunion regierten Irlands (Act of Union von 1800). Diese Parallelgeschichte ist zumindest für Deutschland problematisch, weil sie den retrospektiv erfundenen Mythos des nationalen Erwachens während der antinapoleonischen Kriege implizit bestätigt. Der konfessionelle Antagonismus von Katholiken und Protestanten bildet eine weitere deutsch-irische Vergleichsebene. Schließlich betrachtet Nagle das Ausbalancieren zwischen der traditionsstiftenden Kontinuitätskonstruktion der Nationalgeschichten und der Wahrnehmung von Diskontinuität, die aus der Revolutionserfahrung und dem Moderne-Narrativ resultierten, als ein gemeinsames Merkmal deutscher und irischer Nationalhistoriografie.

Die vorliegende Studie analysiert eine binationale Gruppe von Historikern als politisch agierende bzw. politisch instrumentalisierte Konstrukteure der Nation. Dabei betritt Nagles Arbeit kein Forschungsneuland, jedoch zeigt sie mit ungewöhnlicher Klarheit und Knappheit wie die Idee, dass Nationen wirklich „existieren“ und deswegen ein Anspruch auf politische Selbstbestimmung und Souveränität haben sollten, über die parteipolitischen und konfessionellen Grenzen hinweg zirkulierte. Die weitgehende Übereinstimmung über die Existenz und die Besonderheit der Nation wurde dadurch ermöglicht, dass sie als moralische und natürliche Entität galt und gruppenintegrativ-überparteilich wirkte. Damit stand der Nationsdiskurs im partiellen Gegensatz zum Nationalstaatsgedanken, worüber phasenweise heftige Konflikte entstanden. Die langsame Durchsetzung der Nationalhistoriographien generierte viele weitreichende Umdeutungen: Der Nationalismus – ein transnationaler, konfliktgeladener und hybrider Diskurs – wurde als landesspezifisch, harmonisch und modern erfolgreich präsentiert. Darüber hinaus demonstriert Nagle, dass sowohl vor als auch nach der Nationalstaatsgründung die Konstruktion einer historischen, territorialen, ethnischen und kulturellen Harmonie ein wesentliches Element der Nationaldiskurse war. So blieb beispielweise die ethnische und territoriale Einheit, die die irische und die deutsche Nationalgeschichtsschreibung postulierten, immer prekär und musste je nach politischem Kontext rekonfiguriert werden.

Die permanente Notwendigkeit der Konfliktverdrängung und die Aktualisierung bereits existierender politischer Mythologien waren wesentliche Elemente der deutschen und der irischen Nationalgeschichtsschreibung. Zum einen ermöglicht die Dissertation von Shane Nagle, den irischen Nationaldiskurs in die europäische Nationalismusforschung stärker einzubeziehen. Zum anderen ist der gelungene Versuch zu begrüßen, anhand des unkonventionellen deutsch-irischen Vergleichs die transnationalen und konfliktgeladenen Grundlagen von vermeintlich besonderen und kohärenten Nationalgeschichten zu beleuchten. Problematisch an dieser Arbeit ist vor allem das begrenzte Innovationspotential. Die aktuelle Forschung zum Nationalismus und zur Nationalhistoriographie hat sehr hohe und schwer erreichbare Maßstäbe gesetzt.

Anmerkungen:
1 Stefan Berger / Christoph Conrad / Guy P. Murchal (Hrsg.), Writing the Nation. National Historiographies and the Making of Nation States in 19th and 20th Century Europe, 9 Bde., Basingstoke 2008–2015.
2 Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001; Stefan Berger, Geschichten von der Nation. Einige vergleichende Thesen zur deutschen, englischen, französischen und italienischen Geschichtsschreibung seit 1800, in: Christoph Conrad / Sebastian Conrad (Hrsg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 49–77; Jörn Leonhard, Vergangenheit als Vorgeschichte des Nationalstaats? Zur retrospektiven und selektiven Teleologie der deutschen Nationalhistoriographie, in: Hans-Peter Hye (Hrsg.), Nationalgeschichte als Artefakt. Mystifizierung und Entmystifizierung nationaler Historiographie in Deutschland, Italien und Österreich, Wien 2009, S. 179–200. Vgl. auch Gabriele B. Clemens, Sanctus amor patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereine im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004; Monika Baár, Historians and Nationalism. East-Central Europe in the Nineteenth Century, Oxford 2010; Niklas Lenhard-Schramm, Konstrukteure der Nation. Geschichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/49, Münster 2014.