V. Räuchle: Die Mütter Athens und ihre Kinder

Cover
Titel
Die Mütter Athens und ihre Kinder. Verhaltens- und Gefühlsideale in klassischer Zeit


Autor(en)
Räuchle, Viktoria
Erschienen
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Junker, Arbeitsbereich Klassische Archäologie, Institut für Altertumswissenschaften, Johannes Gutenberg-Unversität Mainz

Auf dem inzwischen gut bestellten Feld der ikonographischen Forschung zu sozialen Rollen und Sozialisationsstufen in der griechischen Welt ist es nicht mehr leicht, noch Pionierarbeit zu leisten. Viktoria Räuchle nutzt in ihrer Dissertation (Freie Universität Berlin) die breite Grundlage, um eine gut strukturierte Studie zur Mutterrolle im klassischen Athen vorzulegen. Der erste Teil versammelt eine Reihe von Vorüberlegungen und steckt damit den Rahmen für die anschließende Analyse der Darstellungen ab. Die einzelnen Abschnitte sind der Forschungsgeschichte, der modernen sowie der antiken Perspektive auf Emotion im Zusammenhang mit Mutterschaft, dem Forschungsdesign und schließlich den Räumen, in denen sich Frauen als Mütter bewegten, gewidmet. Dabei zeigt sich in verschiedenen Punkten ein recht pragmatischer Zugriff auf den Gegenstand. Die moderne Geschichte der Mutterschaft und kontroverse Debattenbeiträge zu diesem Thema werden nur gestreift; aus den in der Tat spärlichen antiken Quellen hebt Räuchle den Aspekt heraus, dass Emotion in der griechischen Welt stark handlungsbezogen gesehen und die Forderung nach Mäßigung emotionaler Impulse (sophrosyne) sicher auch auf die Mütter ausgedehnt worden sei.
Gegenstand der Dissertation sind 68 Vasen mit Darstellungen von Müttern, die großenteils bereits Marie-Claire Crelier zusammengetragen hat1, sowie 372 Grabreliefs, die in der von Johannes Bergemann erstellten Datenbank2 dokumentiert sind; weitere Denkmäler, etwa die von Martina Seifert behandelten klassischen Weihreliefs,3 werden nur ergänzend einbezogen. Trotz der klaren Fragestellung nähert sich die Dissertation damit einem ‚materialorientierten‘ Ansatz an. Eigens erwähnt sei die sorgfältige Produktion und Ausstattung des Bandes sowie die differenzierte sprachliche Form, die allerdings vereinzelt auch für etwas zu intuitive Formulierungen genutzt wird.

Zentral für die Methodik des Vorgehens sind die Überlegungen zum Realitätsgehalt der Darstellungen. Diese geben nicht Szenen aus dem „Privatleben“ der Griechinnen wieder, sondern stellen, wie der Untertitel des Buches sagt, Visualisierungen von „Idealen“ dar und müssen, auch wenn Elemente der Lebenswelt verwendet werden, zunächst als solche betrachtet werden. Bei einem anderen, eher praktischen Punkt werden die Grenzen des Zugangs noch deutlicher. In vielen Fällen ist beim Nebeneinander von Kind oder Kindern und einer Frau nicht sicher zu entscheiden, ob Letztere die Mutter meint oder eine andere weibliche Gestalt aus dem Haushalt, etwa eine Dienerin. Räuchle spricht aufgrund dieser motivischen Unschärfe deshalb vielfach von einer „Mutterfigur“, was zwar alle Optionen für die Identität geschickt offen hält, zugleich aber nicht überspielen soll und kann, wie unsicher die Grundlage für konkrete Überlegungen zum Bedeutungsgehalt der Szenen insgesamt häufig ist.

Der Kernteil des Buches gliedert sich chronologisch nach den Lebensphasen der Mütter, angefangen beim Weg „Vom Mädchen zur Mutter“, über „Die Mütter in der Kleinkindpflege“, „Die Mutter als Sozialisationsfigur“ heranwachsender Kinder bis zur „Mutter in späteren Jahren“. Innerhalb der vier Abschnitte folgt die Darstellung weitgehend einem festen Schema. Auf ein Referat der einschlägigen schriftlichen Quellen folgt eine Besprechung zunächst der auf die jeweilige Lebensphase bezogenen Vasenbilder und danach, mit meist deutlich mehr Ertrag, der Reliefdarstellungen. Dabei werden quantitative und qualitative Analyse eng verknüpft, also einerseits die Häufigkeit – oder Seltenheit – bestimmter Motive thematisiert, andererseits eine große Zahl an ikonographischen Eigenheiten behandelt, die zu einer inhaltlichen Interpretation herausfordern. Anstelle eines Katalogs sind dem Text nach motivischen Elementen gegliederte Denkmälerlisten angefügt.

Von den zahlreichen Einzelbeobachtungen kann hier nur weniges referiert werden. Auf nicht weniger als 58 Grabreliefs ist ein Wickelkind wiedergegeben (gegen nur 18 Exemplare mit Kleinkindern), aber nur auf weniger als zehn davon wird das Kind von der „Mutterfigur“ gehalten, ansonsten von einer Begleiterin: Ist dies eine bildliche Formel, um die Abtrennung von der im Kindbett gestorbenen Mutter anzugeben und tritt das Motiv wegen der Tragik des Geschehens so häufig auf? Beim Zusammensein von Mutter und Kind wird nie das Stillen wiedergegeben und sind „Körperkontakt oder dezidiert emotionale Gesten die Ausnahme“ (S. 123); die visualisierte Idealvorstellung von Mutterschaft war mithin „von allen natürlichen bzw. körperlichen Aspekten weitestgehend bereinigt“ (S. 127). Zusammen mit etwas größeren Kindern sind Mütterfiguren auf Vasenbildern nur selten zu finden, umso häufiger aber auf Grabreliefs (152 Belege). Dort treten nun auch zahlreich Väter in Erscheinung. In den beliebten Gruppenbildern mit drei und mehr Figuren, als „Visualisierung der Kernfamilie als genealogische Einheit und Solidargemeinschaft“ (S. 165) des Staates bezeichnet, fällt indes auf, dass Gesten und Blicke eine innige Verbindung weit häufiger zwischen den Eheleuten als zwischen diesen und den Kindern suggerieren, was jedoch mit der Absicht zusammenhängen mag, den Abschied von einem verstorbenen Erwachsenen herauszustellen. Bei den Grabreliefs mit jugendlichen und fast oder ganz erwachsenen Kindern gibt es einen ausgeprägten statistischen Befund: auf Darstellungen mit nur dem weiblichen Elternteil sind Söhne und Töchter etwa gleich oft zu sehen, auf solchen mit nur einer Vaterfigur ist dagegen eine starke Präferenz für Söhne festzustellen (61 zu 11 Töchtern), was für eine entsprechend höhere Wertschätzung des männlichen Nachwuchses in der Gesellschaft spricht; allerdings ist hier, wie Räuchle zu recht betont, Vorsicht bei der Interpretation geboten, da die Mädchen-Adoleszenz nur bis zum Alter von etwa fünfzehn Jahren dauerte, die Tochter also früh zur Ehefrau wurde.

Das Schlusskapitel fasst – unter dem etwas zu bedeutsamen Titel „Die Kultivierung der Natur“ – die Ergebnisse zusammen, entwickelt mit punktuellen Anleihen aus der Anthropologie und der Entwicklungspsychologie aber auch noch einmal neue Perspektiven auf den Gegenstand, etwa indem die athenische Mutter als Vertreterin einer primär „distalen“ Erziehungspraxis klassifiziert wird, wie sie für viele moderne westliche Gesellschaften typisch sei.

Trotz der relativ breiten bildlichen Überlieferung und der Fülle der Einzelbeobachtungen an diesem Material lässt die Autorin keinen Zweifel daran, dass Mutterschaft im Grunde kein wirkliches Thema der Bildkunst war – und wohl auch kein brennendes Thema der athenischen Gesellschaft. Neben der systematischen und dabei die Verdienste der älteren Forschung stets sorgsam würdigenden Vorgehensweise gehört es zu den Vorzügen der Monographie, von ‚interessanten‘ forcierten Thesen Abstand gehalten zu haben, wenn die erhaltenen Darstellungen tatsächlich nur relativ allgemeine Aussagen erlauben. Mutterliebe im modernen Sinne einer starken emotionalen Regung oder Trauer um im Kindbett gestorbene Frauen sind den Bildern im Einzelfall durchaus abzulesen; vorrangig verkörpern die Figuren allerdings zwei soziale Potenzen, die bereits genannte sophrosyne, die dem Verstand und dem Pflichtgefühl die Kontrolle über die Emotionen abverlangt, sowie das Konzept der nicht nur von den Vätern, sondern gerade auch den Müttern mitgetragenen philia, der Verantwortungsgemeinschaft über Generationengrenzen hinweg. Beide Potenzen tragen zur Stabilität des Oikos und über die Summe der wohlfunktionierenden Oikoi zur Stabilität des Staates bei.

Gerade eine methodologisch sorgfältige, quellen- und realiengesättigte Arbeit wie diese gibt einen Anstoß, die grundsätzliche Frage nach dem Potential archäologischer Sozialforschung anzusprechen.4 Sehr weit tragen die bildlichen Zeugnisse nicht über das hinaus, was die textlichen Quellen an Erkenntnis bieten. „Die Ikonographie bestätigt damit das aus den Schriftquellen gewonnene Bild, dass Kinder mit zunehmendem Alter immer stärker in das Wirkungsfeld der Männer einbezogen werden“ (S. 166) – Aussagen dieser Art sind mehr als einmal zu lesen. Wie bei anderen Studien auf diesem Forschungsfeld ist das nur sehr bedingt als Kritik zu vermerken, denn Entwicklung und Sozialisation waren nur punktuell bildwürdige Themen in dieser Epoche; eine für die Forschung sehr fruchtbare Ausnahme stellen etwa die spätarchaischen und frühklassischen Darstellungen zu Erotik, Päderastie und weiblicher Nacktheit dar.5 Was die archäologischen Quellen beim vorliegenden Gegenstand visualisieren, sind jedoch in der Tat fast ausschließlich Ideale und Konventionen, auch wenn Räuchle die Grenze zur Erschließung konkreter Lebenswelten immer wieder punktuell – und dann notwendig spekulativ – zu überschreiten versucht.

Anmerkungen:
1 Marie-Claire Crelier, Kinder im Athen im gesellschaftlichen Wandel des 5. Jahrhunderts v.Chr. Eine archäologische Annäherung, Remshalden 2008.
2 Johannes Bergemann (Hrsg.), Datenbank der attischen Grabreliefs des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr., München 2002.
3 Martina Seifert, Dazugehören. Kinder in Kulten und Festen von Oikos und Phratrie. Bildanalysen zu attischen Sozialisationsstufen des 6. bis 4. Jahrhunderts v.Chr., Berlin 2011.
4 Siehe zu dieser Thematik auch den Blogbeitrag des Autors: http://materiaclassica.blogspot.de/ (zuletzt abgerufen am 26.02.2017).
5 Vgl. aus der sehr umfangreichen Literatur etwa Ulla Kreilinger, Anständige Nacktheit. Körperpflege, Reinigungsriten und das Phänomen weiblicher Nacktheit im archaisch-klassischen Athen, Rahden 2007; Andrew Lear / Eva Cantarella, Images of Ancient Greek Pederasty. Boys were their gods, London 2008.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch