L. Hölscher (Hrsg.): Die Zukunft des 20. Jahrhunderts

Cover
Titel
Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung


Herausgeber
Hölscher, Lucian
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anton F. Guhl, Institut für Geschichte, Karlsruher Institut für Technologie

Vergangene Zukunft hat Konjunktur.1 Das vor allem durch Reinhart Koselleck bereits seit den 1960er-Jahren auch terminologisch umrissene Forschungsfeld erhält mit dem vorzustellenden Band Angebote zur weiteren theoretischen Schärfung sowie Einblicke in abgeschlossene und laufende Projekte. Die Frage nach vergangenen Zukünften eröffnet historische Motivlagen, Erwartungen und Handlungshorizonte. Einen Schritt weiter geht ein solcher Zugang, wenn auch das Nachleben nicht eingetroffener Zukünfte untersucht wird. Ein derartiges Vorgehen ist methodisch allerdings nicht revolutionär, geht es zunächst doch „nur“ darum, Wissen um historische Probleme dadurch zu erweitern, indem ihre Genese, ihre Kontexte und ihre Folgen untersucht werden. Die historische Zukunftsforschung will aber noch mehr, wie Lucian Hölscher in seinem konzeptionellen Beitrag darlegt: „Sie fragt nicht nur nach den Zukunftsentwürfen der Vergangenheit, sondern auch nach den Vergangenheitsentwürfen der Zukunft“, also nach künftigen Vergangenheiten (S. 13). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich Vergangenheit und Zukunft als Wirklichkeitsräume nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden, da beide relativ zu einer jeweiligen Gegenwart entworfen werden.

Vor diesem Hintergrund erfordert die Beschäftigung mit vergangenen Zukünften auch grundsätzliche Reflexionen über die etablierte Dreiteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In Anlehnung an Koselleck unterscheidet Hölscher „leere Zeit“ und „verkörperte Zeit“: Erstere könne als ein objektiv verlaufender Weltkalender verstanden werden, „in dem jedes Ereignis, wann immer und wo immer es stattgefunden hat oder stattfinden wird, seinen eindeutigen und einmaligen Platz findet“. „Verkörperte Zeit“ indes „besteht immer nur als Relation zwischen (und damit relativ zu) den Gegenständen, zwischen denen sie ein Früher und Später fest- und herstellt“ (S. 31).

Während solch ein Kalender (leer oder verkörpert) noch dem gängigen Bild eines Zeitstrahls ähnelt, geht Fernando Esposito in seinem Beitrag zum „Posthistoire“ einen Schritt weiter und diskutiert den Nutzen anderer topologischer Zeit-Konzepte, etwa denjenigen eines Spiral-Modells. Ein grundsätzliches Problem ist dabei die Definition von Gegenwart und ihrer temporären Ausdehnung. Die logische, also zeitlose Sekunde kann kaum Gegenwart bilden, da sich ihre Bedeutung erst durch Abfolge konstituiert. Doch wie lange dauert Gegenwart? Diese Frage bildet den Hintergrund zu Sabine Mischners Beitrag über „Zeitpraktiken im Ersten Weltkrieg“, dessen Ziel es ist, neue Perspektiven auf die Zeiterfahrungen der Soldaten zu entwickeln, indem der von der Forschung meist betonten Gegenwartsfixierung der Soldaten Nahzukünfte (etwa des ersehnten Fronturlaubs) zur Seite gestellt werden. Es sind nicht zuletzt implizite Annahmen der Ausdehnung von „Gegenwart“, die die unterschiedlichen Interpretationen hervorbringen.

Auch Zukünfte weisen relative Entfernungen auf. In den fruchtbar verschränkten Beiträgen über die „Zukunft der Sozialdemokratie“ vor (Thomas Welskopp) und seit dem Ersten Weltkrieg (Stefan Berger) wird daher eine Differenzierung der Zukünfte in Programme, Prognosen und Utopien eingeführt. Es ist nur vermeintlich paradox, dass die politischen Erfolge der SPD nicht das Eintreten ihrer Utopien, also ein Erreichen der gewünschten Zukunft, wahrscheinlicher machten, denn das Ende der Zukunft wäre zugleich das Ende der Geschichte, wie der Beitrag von Anselm Doering-Manteuffel zur Zeitordnung im Nationalsozialismus und der „Posthistoire“-Beitrag von Fernando Esposito zeigen.

Gedanken über Wesensverwandtschaft und Reziprozität von Vergangenheit und Zukunft ziehen sich durch verschiedene Beiträge des Bandes. Auffällig ist, dass Vergangenheit und Zukunft in ihrer Interdependenz auch um die Aufmerksamkeit der Gegenwart konkurrieren können. Am Beispiel der Zukunftsforschung belegt Elke Seefried, dass „die Zukunft in den 1980er Jahren als wissenschaftliche und gesellschaftliche Kategorie zugunsten der Vergangenheit an Bedeutung“ verlor – zumindest vorübergehend (S. 218). Nicht nur für die Zukunftsforschung gilt dabei, „dass das Wissen um die Zukunft kulturell codiert ist und stark von dem kulturellen und ideellen Kontext des Produzenten abhängt“ (S. 194).

Aufgrund dieser Rückkopplung an die Akteure und deren Konkurrenzen eröffnet die Erforschung vergangener Zukünfte vielschichtige Perspektiven. Am Beispiel von Vorstellungen einer computerisierten Welt zeigt Frank Bösch, wie sich die historischen Realitäten vergangener Gegenwart in den jeweiligen Zukunftsvorstellungen widerspiegelten. Nicht zuletzt Literatur, Film und Musik offenbaren dabei manche Verbindungen von Science und Fiction. Anhand von George Orwells zuerst 1949 erschienenem Roman „1984“ diskutiert Bösch auch, wie vergangene Zukünfte nachwirken, wenn ehedem künftige Jahreszahlen gegenwärtig werden. Der starke Einfluss von Orwells Dystopie in den Diskursen um das Jahr 1984 steht dabei in einem produktiven Kontrast zu Stefan Willers These in seinem Beitrag über dystopische Zukünfte bei Arno Schmidt und Marlen Haushofer, nach der es nicht um das Eintreffen von Jahreszahlen gehen könne; Literatur bleibe fortdauernd aktuell.

Auch die Altersforschung lebt von Zukunftsvorstellungen. Mit ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen Utopien einher, dass mit dem erwarteten Triumph über das vorzeitige Ableben das Ende aller gesellschaftlichen Disharmonien erreichbar werde. Doch die „Zukunft des Alters ist und bleibt der Tod“ (S. 167) – trotz steigender Lebenserwartung, die das Thema Alter, wie Helge Jordheim mit Recht betont, zu einem zentralen Zukunfts-Thema des 20. Jahrhunderts macht. Die biologische Begrenzung des Menschen tritt auch in Jürgen Reuleckes Beitrag über generationelle Konflikte um „1968“ zu Tage, da den Nachgeborenen die Deutungsmacht über die Vergangenheit der vorherigen Genration(en) zufiel. Hier wurde nicht künftige Gegenwart, sondern künftige Vergangenheit fokussiert, was Sabine Mischner im Kontext des „Kriegserlebnisses“ treffend mit dem Begriff der „Futur-II-Brille“ beschreibt (S. 85).

So wird deutlich, dass gegenwärtiges Handeln in verschiedene Dimensionen der Zeit ausgreift; dabei bleiben die Zukünfte Teil der jeweiligen Gegenwart, in der sie generiert werden. Dies zeigt sich etwa beim Katastrophenschutz, dessen öffentlich inszenierte Übungen auch Selbstlegitimation stiften sollten. Nicolai Hannig betont hierbei, dass Gefahrenzukünfte entwickelt wurden, um nicht einzutreten, zugleich aber Vorsorge selbst Zukunft generiert, wenn etwa Gefahrenprognosen (z.B. zur Wahrscheinlichkeit von Erdbeben) ihrerseits die Entwicklung von Regionen gefährden.

Intendierte und nicht-intendierte Beeinflussung künftiger Gegenwart durch zukunftsbezogenes Handeln und Denken ist damit ein weiteres Leitmotiv mehrerer Beiträge. Gleichzeitig bleibt historische Zukunftsforschung durch die Unbestimmtheit von Zukunft bestimmt. Ein Angebot, wie dieser Ambivalenz in der Zeitgeschichtsschreibung begegnet werden kann, formuliert Rüdiger Graf in seinem den Band abschließenden Beitrag. Graf betont die „multiple Ausdeutbarkeit der Gegenwart als zukünftige Vergangenheit“ (S. 315) und plädiert für einen Verzicht auf narrative Endpunkte in Darstellungen (nicht nur) der jüngsten Vergangenheit.

Das lesenswerte Buch geht auf zwei Bochumer Tagungen zurück, die Lucian Hölscher im Juli 2014 und im Oktober 2015 veranstaltet hat.2 Es mag dem gemeinsamen Diskussionsprozess zu verdanken sein, dass sich die Aufsatzsammlung bemerkenswert kohärent präsentiert und immer wieder die Reziprozität von Vergangenheit und Zukunft aufgreift. Es wäre indes wünschenswert gewesen, wenn der theoretischen Bestimmung von (historischer) Gegenwart mehr Raum eingeräumt worden wäre, um eine schärfere Abgrenzung von (vergangenen) Zukünften zu ermöglichen.

Insgesamt liefert „Die Zukunft des 20. Jahrhunderts“ wertvolle Anregungen für die weitere Erschließung vergangener Zukünfte und ebenso ein Zwischenfazit bisheriger Forschungsanstrengungen, die eindrücklich nicht nur die Bedeutung vergangener Zukunft für die vergangene Gegenwart, sondern auch für die gegenwärtige Sicht auf die Vergangenheit und die noch unvergangene Zukunft hervorheben. Solche Interdependenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeigen zugleich die Prekarität dieser klassischen Trias und ermuntern zu weiteren Reflexionen über das Wesen der Zeit.3

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt etwa Joachim Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017; Michael Krüger (Hrsg.), Wo ist die Zukunft geblieben? Eine Vortragsreihe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Göttingen 2017; Benjamin Bühler / Stefan Willer (Hrsg.), Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn 2016; Rüdiger Graf / Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 497–515. Für Mai ist angekündigt: Achim Eberspächer, Das Projekt Futurologie. Über Zukunft und Fortschritt in der Bundesrepublik 1952–1982, Paderborn 2018.
2 Siehe die Berichte von Lucian Hölscher, in: H-Soz-Kult, 18.10.2014, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5613 (03.08.2017), und von Lena Behrendt, in: H-Soz-Kult, 20.01.2016, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6334 (03.08.2017).
3 Vgl. z.B. Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt am Main 2016; vgl. kritisch dazu Rüdiger Graf, in: H-Soz-Kult, 01.06.2017, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26285 (03.08.2017).