T. Höpel: Kulturpolitik in Europa im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Kulturpolitik in Europa im 20. Jahrhundert. Metropolen als Akteure und Orte der Innovation


Autor(en)
Höpel, Thomas
Reihe
Moderne europäische Geschichte 13
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Zimmermann, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

Das Feld der Kulturpolitik wurde häufig nur für einzelne Städte oder für Phasen beachtet, wo es offenkundig besondere historische Bedeutung gewann, wie aus den Beispielen ‚völkischer’ Kunst im Nationalsozialismus oder der ‚progressiven’ Kulturförderung unter dem französischen Kulturminister Jack Lang hervorgeht. Der Leipziger Kulturwissenschaftler und Historiker Thomas Höpel unternimmt es, durch seine europäisch angelegte Gesamtdarstellung die historiographische Unterschätzung des Politikfeldes zu revidieren. Höpel, der fünf bedeutende Städte (Frankfurt am Main, Leipzig, Birmingham, Lyon und Krakau) in ihren wechselnden internen Konstellationen und hinsichtlich ihrer Relationen zur jeweiligen staatlichen Macht untersucht, verdeutlicht, dass und wie sich Kulturpolitik im Laufe des 20. Jahrhunderts ausweitete und institutionell differenzierte. Die Entwicklung führte von „bürgerlicher Soziabilität und Repräsentation zu gesellschaftlicher Integration“ und über „Kultur als Integrations- und Exklusionsmittel in Diktaturen“ zur kulturpolitischen Professionalisierung nach 1945, schließlich zur wachsenden Europäisierung städtischer Kulturpolitik. Stets aber war diese dadurch charakterisiert, dass Einmischungen von außen drohten und die Finanzierungen problematisch blieben.

Im Kern geht es dem Autor demnach um die – von zahlreichen Rückschlägen – begleitete Emergenz eines institutionalisierten Politikfeldes, in dem sich Staat und Stadt teils konflikthaft, teils einander ergänzend begegneten. Es handelt sich ferner um die Geschichte eines weit gefächerten Repertoires an Förderinstrumenten, die sich aber keineswegs stetig als erfolgreich erwiesen, im Gegenteil: Am erstmals für die deutsche Forschung erschlossenen Beispiel Krakau weist Thomas Höpel nach, wie sich die Impulse nationalsozialistischer Volkstumspolitik qua Kulturförderung an der Realität des Krieges brachen. Durch die geschickte Gruppierung jeweiliger Städtevergleiche gelingt es dem Verfasser, das gewaltige empirische Material zu handhaben. Zugleich demonstriert das informationsreiche Buch, was überhaupt die Aufgaben historischer Kulturpolitikforschung sind, und wie sich eine institutionenorientierte Forschung mit inhaltlichen Aspekten verbinden lässt, etwa wie sich jeweilige Förderpolitiken und Kontrollen auf die Repertoires von Theatern und Orchestern auswirkten. Ebenso werden Fragen nationaler Identität anhand der Beispiele Polen und Frankreich geklärt. Zum einen werden die lokalpolitischen Charakteristika der jeweils betrachteten Städte genau herausgearbeitet: Man stößt auf die Karriere von Proton de la Chapelle in Lyon, der erst im Kontext von Vichy, dann wieder ganz unverblümt in der Nachkriegszeit an einer Ausweitung der Etats und der Verjüngung der Kulturpubliken arbeitete. Zum anderen geht es Höpel darum, zu einer Gesamtgeschichte der jeweiligen Selbstverständnisse und Ziele nationaler Kulturpolitiken beizutragen. So werden die Kulturpolitiken des Vichy-Regimes und die des nationalsozialistischen Deutschlands in deutliche Nähe gerückt. Selbst manche Details (das Personal von Orchestern oder die Lancierung von neuen Museumsprojekten betreffend) waren an die großen politischen Konjunkturen und Vorgaben angebunden. Immer wieder zeigt sich, dass die Entwicklungsschritte der Kulturpolitik keineswegs linear aufeinanderfolgten, sondern häufig massive Akzentverschiebungen, ja Rückschritte zu verzeichnen waren.

Als roter Faden erweist sich der Komplex der ‚Kommunalisierung’. Der Verfasser ist für alle fünf Beispielstädte (und für weitere herangezogene Städte wie St. Etienne) der Frage nachgegangen, wer (d.h. welche Personen und politische Gruppen und Parteien) sich für die Kommunalisierung von Kulturangeboten stark machte. Die Übernahme in städtische Regie erwies sich als Instrument, sichere Beschäftigungs- und Finanzverhältnisse zu schaffen und dem Kulturbereich mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, zugleich ging es um das Prestige jeweiliger Städte und die politische Kontrolle des Kulturschaffens.

Trotz der Kommunalisierung und Etablierung urbaner Kulturpolitik blieb diese durch die Vielfalt der Akteure charakterisiert. Neben den zuständigen Gremien tauchen immer wieder Einzelpersonen wie Hilmar Hoffmann in Frankfurt auf mit seinem emanzipatorischen Ansatz einer zugänglichen und politisch offenen Kulturlandschaft – dortige Akteure wie Peter Palitzsch und Hans Neufels eingeschlossen, die mit ihren Inszenierungen das bürgerliche Publikum verschreckten. Parallel zu Frankfurt verliefen proaktive und erfolgreiche Initiativen in Lyon seit den 1960er-Jahren, hier unter finanzieller Beteiligung des französischen Staates, während Frankfurt seine neuen Museen selbst finanzieren musste. Auch Staatsbeamte, Künstler und Kulturschaffende und das Publikum selbst treten bei der Schilderung von Akteurskonstellationen hervor. Allerdings wird der Akteursbegriff doch recht eng gefasst, insbesondere die lokalen und nationalen Medien werden unterschätzt.

Ebenso die wirkmächtige Kommodifizierung von Kultur und die Ausbreitung von Orten der Populärkultur werden zwar am Rande reflektiert, aber nur wenig beachtet. Stattdessen zeigt sich, dass Höpel sozialintegrative Impulse und den Willen zur Selbstbehauptung der beteiligten Städte als die wichtigsten Faktoren des Ausbaus urbaner Kulturpolitik betrachtet. Besonders arbeitet der Verfasser das – nicht nur in der Linken verbreitete – Motiv heraus, die Partizipation breiter Bevölkerungen durch ein Zugänglichmachen von Kultur zu stärken.

War es bei den Nationalsozialisten in Krakau das Motiv, durch die angebliche Überlegenheit ‚deutscher’ Kulturarbeit einen systematisch betriebenen Eindeutschungsprozess zu fördern (unter Anwendung expliziter Gewaltmaßnahmen), trifft man bei kulturpolitischen Akteuren der NS-Zeit in Leipzig und Frankfurt am Main den Versuch, „lokale Eigenheiten zu stärken“ (S. 121). Ebenso deutlich arbeitet der Autor heraus, wie nach 1945 in Leipzig und Krakau unabhängige sozialistische Ansätze von Kulturarbeit durch die Kommunisten zurückgedrängt wurden, bis sich dann deren produktive Spielräume durch den Stalinisierungsprozess völlig verengten. Freilich, auf (sehr) lange Sicht mussten rigide Kulturkonzepte wieder aufgegeben werden und löste sich der ‚sozialistische Realismus’ in der Bildenden Kunst manchmal in tolerierte, platte traditionalistischen Formen auf. Ebenso wird deutlich, warum der Umerziehungsanspruch nationalistischer und autoritärer Kulturpolitiker der 1930er- bis 1960er-Jahre scheiterte und dass man auf Dauer nicht an den tatsächlichen Wünschen des wirklichen Publikums vorbeigehen konnte. Insbesondere scheiterte der Ansatz, die Arbeiterschaft zu ‚kultivieren’ und gar durch Laienkunst und Singebewegung die Einflüsse amerikanischer Popmusik zu kompensieren.

Es ist in diesem Zusammenhang verdienstvoll, dass sich Thomas Höpel dem kulturellen Widerstand betroffener Gruppen widmet, so der Jugendszenen in der DDR, gegen die Justiz und Volkspolizei mit ihrer Fahndung nach ‚Rowdies’ nicht ankamen, wenngleich 1964 in Leipzig 96 widerspenstige Jugendliche zur ‚Arbeitserziehung’ in den Braunkohletagbau geschickt wurden. Dann zeigten sich seit den 1970er-Jahren Beispiele einer gewissen Liberalisierung und Ausdifferenzierung der Kulturlandschaft. In diesem Kontext, so muss man anfügen, hätten doch die Ausführungen zum Kino als wesentlichen neuem Kulturmedium ausgebaut werden sollen.

Schließlich: Höpel erweist, dass die ‚Festivalisierung’, die der Stadt- und Kultursoziologie der letzten beiden Jahrzehnte als absolutes Novum erschien, weitaus ältere Wurzeln hat, z.B. die Musikfeste der 1930er-Jahre.

Insgesamt lässt sich feststellen: Die Dynamik von Kultur generell und ihre wachsende städtische und staatliche Förderung trugen zu einer Verdichtung und Ausdifferenzierung kultureller Infrastrukturen bei. Trotz aller Phasenverschiebungen, ungeachtet unterschiedlicher lokaler Schwerpunktsetzungen und verschieden ausgeprägter Rolle von Public-Private-Partnership zeichnet sich für das 20. Jahrhundert eine gemeinsame europäische Kontur des urbanen Kulturfeldes ab. Freilich hätte man sich gewünscht, dass in dieser handbuchartigen Gesamtschau die Rezeptionsebene der Kulturangebote sowie das Erlebnis urbaner und medialisierter Populärkultur stärker berücksichtigt werden.