M. Stoy: Die Wiener Staatsoper 1938–1945

Cover
Titel
Die Wiener Staatsoper 1938–1945. Band 1: 1. Januar 1938 – 31. August 1938


Autor(en)
Stoy, Manfred
Reihe
Schriften aus dem Wiener Opernarchiv
Erschienen
Wien 2017: Der Apfel
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Toelle, Abteilung Musik, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik

Etwas Neues über die Wiener Staatsoper? Gerade die Zeit zwischen 1938–45, auf der Website des Opernhauses etwas verdruckst als „dunkles Kapitel in der Geschichte des Hauses“ bezeichnet, verdient immer noch und immer wieder größte Aufmerksamkeit. Manfred Stoy, ehemaliger Leiter der Bibliothek und der Sammlungen des Instituts für Österreichische Geschichte sowie Opernkritiker und nicht zuletzt Wiener Sängerknabe von 1952–54, hat sich hier der Aufgabe angenommen, eine große Anzahl unbekannter Quellen aufzuarbeiten und präsentiert sie in diesem ersten von drei avisierten Bänden (der die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 1938 umfasst) in chronologischer Reihenfolge.

Leider fehlen dem Buch so wichtige Dinge wie ein Narrativ und eine überzeugende Gliederung. Dort, wo es spannend werden könnte, bricht Stoy ab und präsentiert seine Rechercheergebnisse und durchweg kaum kontextualisierten Detailinformationen – aus seiner zweifellos hervorragenden Quellenkenntnis hat der Verfasser leider keine stringente Darstellung gemacht. So ist das Buch langweilig geworden; und angesichts der Fülle an irritierenden Details kann der vorliegende erste Band nur als Steinbruch für ambitionierte Wissenschaftler/innen dienen, die die Informationen, die hier zum Teil erstmals aus den Akten zutage befördert wurden, nutzen, analysieren und interpretieren.

Doch dabei sei dem Verlag „Der Apfel“ empfohlen, die nächsten Bände besser zu redigieren, um sie benutzbar zu machen: angesichts der Fülle an erwähnten Personen und Funktionen ist das Fehlen eines Personenregisters mit Kurzbiographien besonders schmerzlich. Tabellen, Verzeichnisse, Listen und Querverweise könnten helfen, die Ergebnisse aus aufwändigen Archivrecherchen fruchtbar zu machen. Der launige, zuweilen flapsige Stil des Autors ist streckenweise unangebracht. Zudem fallen im vorliegenden Band einfachste Fehler, die jede automatische Rechtschreibkontrolle bemerken sollte, auf; verschiedene Schreibweisen derselben Institution (New York College of Music) und der verschwenderische Umgang mit Anführungszeichen verwirren. Die altmodische Art, Titel von Opern ohne Kursiva oder Anführungszeichen zu zitieren („sie ist für die absagende Ella Flesch in Eugen Onegin eingesprungen“ (S. 159), „es ist nicht gelungen, die Königin von Saba aufzuführen“ (S. 99), irritiert nicht nur Musikwissenschaftler, sondern erinnert an den herablassenden Stil von Musikkritikern älterer Generationen.

Unangemessen sind unnötige Relativierungen nationalsozialistischer Äußerungen; diese vergleicht Stoy mit „historiographischen Werken des ehemaligen Ostblocks, ohne dass deren Konzeption als marxistisch-leninistisch bezeichnet werden kann“ (S. 198). Einerseits: deren Konzeptionen werden selbstverständlich als solche bezeichnet, und sollte andererseits das Telegramm Erwin Kerbers zu Adolf Hitlers 50. Geburtstag 1939 nicht so eindeutig sein, wie es klingt („Der 20.April ist nun auch für uns ein Tag grösster Bedeutung geworden. Unser geliebter Führer Adolf H i t l e r erblickte an diesem Tag das Licht der Welt. Wir sind stolz darauf, daß es die Ostmark war, in der die Wiege dieses wahrhaft großen Staatsmannes stand.“ S. 198)? Doch der Vergleich zieht sich durch das Buch; mehrfach stützt der Verfasser seine Expertise für das nationalsozialistische Wien mit seinen eigenen Erfahrungen aus der DDR der 1970er- und 1980er-Jahren – hält es aber andererseits für nötig zu betonen, dass er „vollkommen unvoreingenommen“ (S. 9) an die Arbeit herangegangen sei.

Auch wenn die Details für sich genommen den Leser überwältigen – die Frage etwa, wie hoch die Pensionen und Abfindungen der nach dem 13. März 1938 entlassenen Personen waren, wird nicht alle in der hier dargebotenen Genauigkeit interessieren – bieten die von Stoy akribisch recherchierten Details großenteils durchaus Anknüpfungspunkte und könnten zu faszinierenden Studien führen. Denn während über prominente Dirigenten wie Bruno Walter und Wilhelm Furtwängler mittlerweile eine Reihe von gut recherchierten Veröffentlichungen existiert, könnte eine alltagsgeschichtlich orientierte Aufarbeitung etwa des Lebens von Margarete Altaras, einer „Wäscheverwahrerin“ am Opernhaus, lohnen – denn die Drastik ihrer Situation wird in wenigen Sätzen deutlich. Da sie Jüdin war, wurde ihr 1938 gekündigt, als sie 35 Jahre alt war: „Altaras wurde in das KZ Auschwitz deportiert, hat die Lagerhaft überlebt und ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder in den Dienst der Staatsoper getreten.“ (S. 118) Was mag ihre Identifikation mit dem Wiener Opernhaus ausgemacht haben? Wenn es Ziel dieser drei Bände über die Wiener Staatsoper ist, Aufschluss zu geben über die soziale und politische Verankerung des Opernhauses in der Stadt und der österreichischen Gesellschaft der Zeit, könnten dann endlich auch – neben den prominenten Opernangehörigen – Stimmen wie die von Margarethe Altaras gehört werden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch