P. J. Du Plessis u.a. (Hrsg.): Oxford Handbook of Roman Law and Society

Cover
Titel
The Oxford Handbook of Roman Law and Society.


Herausgeber
Du Plessis, Paul J.; Ando, Clifford; Tuori, Kaius
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 728 S.
Preis
£ 110,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institute for the History of Ancient Civilizations (IHAC), Northeast Normal University, Changchun, China

„Römisches Recht und Gesellschaft“ – der Titel des zu besprechenden Handbuchs aus der Oxford-Reihe macht sogleich den Anspruch und Blickwinkel deutlich, der von der traditionellen Dichotomie „Romanistik“ und „Geschichtswissenschaft“, letztere sozialwissenschaftliche Ansätze inkludierend, grundlegend und konzeptionell abweicht. So sehr diese Teilung im 20. Jahrhundert zum gegenseitigen Ausblenden historischer Fragestellungen respektive rechtssystematischer Analysen samt deren Quellengrundlagen in den beiden Fächern und damit zum Nichtverstehen geführt hatte,1 so sehr versuchen jüngste Forschungsansätze, diese Gräben zu überwinden und die Kommunikation über unterschiedliche Methoden, Analysekriterien und Interpretationsergebnisse wieder in Gang zu bringen.

Die 50 Einzelbeiträge des Bandes sowie die sieben Sektionen, teilweise mit Unterabschnitten, machen schon beim ersten Blättern deutlich, wie breit mögliche Verknüpfungspunkte zwischen römischem Recht und römischer Gesellschaft angelegt sind: Quellenkunde, Verfassung und Staatsrecht, Rechtsexperten und -kultur, Prozessrecht, Statusfragen sowie privatrechtliche Verhältnisse. Hilfreich ist für einen ersten Zugang zu dieser Einteilung die Einleitung aus der Feder von Janne Pölönen unter dem Titel „Framing ‚Law and Society‘ in the Roman World“ (S. 8–20), in der endgültig das oft nach wie vor vorherrschende Bild von einer perfekten römischen Rechtssystematik mit kompletter rational-formalistischer Durchdringung, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, dekonstruiert und anstelle dessen rechtssoziologisch-historische Ansätze wie zum Beispiel Fragen nach der Praxis römischer Rechtsverordnungen oder den Interdependenzen gesellschaftlicher Entwicklungen und Rechtsformierungen fruchtbar gemacht werden.

Naturgemäß setzen die einzelnen Beiträge den modellierten Rahmen der gegenseitigen Durchdringung von Recht und Gesellschaft ganz unterschiedlich um. Während die Aufsätze zur Quellenkunde als Themen die schrittweise Kodifizierung des Rechts (prominent vollendet im justinianischen Corpus Iuris Civilis), die epigraphischen und papyrologischen Dokumente sowie die Spiegelungen sozialer Sphären und Phänomene in juristischer wie sonstiger Literatur beleuchten, legen die staatsrechtlichen Artikel institutionelle Schwerpunkte, indem das politisch und legislative Handeln auf unterschiedlichen Ebenen – Rom bzw. kaiserliche Administration, Provinz, lokale Administration, collegia – analysiert wird. Stets wird jedoch hier das Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure mit in die Darstellung eingebaut, so die Rolle der Volksversammlungen, das komplexe Verhältnis zwischen Kaiser und Senat, das Agieren des Statthalters zwischen Provinzedikt und lokalen Rechtstraditionen oder die elitestabilisierende Funktion der Munizipalgesetze und regulierten Kollegien vor Ort.

Neueren Trends zur Aufwertung der Juristen als Beiträger nicht nur zur Rechtskultur folgend, werden deren Ausbildung, Wirksamkeit in der Verwaltung, aber auch deren Schreibstil und Verknüpfungen mit hellenistischer Philosophie und Rhetorik in einer eigenen Sektion untersucht. Es zeigt sich dabei deutlich, dass man kaum generelle Aussagen über die Rahmen, innerhalb derer sich die Sichtweise eines einzelnen Rechtsgelehrten formte, treffen kann, sondern jeweils die geographischen, sprachlichen, kulturellen, sozioökonomischen wie politischen Kontexte ausleuchten muss, um der juristischen Individualität gerecht zu werden.

Im Abschnitt zu „Civil Actions and Civil Procedure“ wird dann offenbar, wie ungemein notwendig die Einbeziehung der verschiedenen Prozessformen (Legisaktionen, Formularprozess, Kognitionsverfahren) als Spiegel des jeweiligen Rechtsverständnisses bei der Analyse sozialer Realitäten ist. Die Gestaltungs- und Reformmöglichkeiten durch Magistrate, vor allem durch das prätorische Edikt, sowie durch legale Fiktionen zur Überbrückung überkommener Rechtszustände oder verschiedener Rechtssphären (etwa lokal-peregrin und stadtrömisch) weisen zusätzlich auf eine gewisse Flexibilität des Rechts in einem meist als starr empfundenen System hin.

Inwieweit unsere heutigen Kategorisierungen hinderlich beim Studium antiker Rechtsverhältnisse sind, zeigt besonders der Abschnitt zu „Criminal Law and Social Order“. Obschon eine Polizei und ein geschlossenes Kriminalrecht bei Vergehen gegen Einzelne wie den staatliche Institutionen fehlte, gab es natürlich Kontrollmechanismen, etwa in Form von Militär oder paramilitärischen Einheiten, und entsprechende rechtliche Regelungen im Schadens- respektive Vergehensfall auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedener Strafintensität. Auch hier zeigt sich wiederum, dass das römische Recht eine schrittweise Entwicklung – ebenso wie die Vorstellung von „Staat“ – durchmachte, umgekehrt die entsprechenden Regelungen nicht als Flickenteppich zu charakterisieren sind, sondern verschiedene Rechtscluster ineinandergriffen, die bei Bedarf fortgeschrieben wurden.2

Der für das römische Rechtsverständnis wichtige Begriff des Status wird ebenfalls umfassend besprochen: Nicht allein der rechtliche Aspekt – Römer, Freigelassene, Sklaven, Peregrine –, sondern auch das Ineinandergreifen mit sozialen Distinktionen, Patron-Klientel-Verhältnissen und strukturellen Vorteilen für städtische Eliten hinsichtlich niedriger Transaktionskosten im Rechtsfalle werden dabei behandelt und, weitaus wichtiger, auch zusammengedacht. Heraus kommt, wie bei der nachfolgenden Behandlung der Gender-Frage und dem Aufzeigen der auch hier herrschenden Unterschiede zwischen legalistischem System mit dem großflächigen Ausschluss von Frauen aus Rechtsgeschäften und der rechtlich-sozialen Wirklichkeit mit der selbstverständlichen rechtsgeschäftlichen Aktivität von Frauen und nachfolgender Regelung derselben, das Bild einer komplexen Gesellschaft, die von den Rahmen her strukturkonservativ zu sein vorgab; innerhalb dieser entfaltete sich jedoch eine ungemeine Dynamik, die jegliches (nicht nur) rechtliches Potential zu nutzen und an Realitäten anzupassen verstand.

In Bezug auf die „Legal Relations“, die letzte Sektion, rücken dann die zentralen Phänomene Familie, Eigentum/Besitz, Schuldverhältnisse sowie Wirtschaft in den Fokus. Während die familienrechtlichen Aspekte samt Erbrecht in gewisser Weise den vorangegangen Abschnitt zu Statusfragen abrunden und ergänzen, bilden Eigentums-, Besitz- und schuldrechtliche Ansprüche traditionell eine Domäne der Romanistik, an die sich Historiker kaum herantrauen. Die Autoren legen daher vor allem Grundlagen in Form von Überblicken zu den jeweiligen Themata, weisen jedoch auch auf die Inkonsistenzen und Brüche hin, so dass sich der Rechtsrahmen hier ebenfalls schrittweise und eher aus konkreten Fällen und nachträglichen Systematisierungsversuchen denn aus tatsächlich vorhandenen strukturellen Ordnungsperspektiven entwickelte und im Einzelfall auch ganz vertrackte Formen annehmen konnte, was dann wiederum juristische Diskussionen und Fortentwicklung des Rechts nach sich zog.

Das derzeit wohl dynamistische Forschungsfeld der Ökonomie wird abschließend tangiert.3 So selten staatliche Interventionen in Eigentums-, Pacht- oder Marktrechte und Preisfestsetzungen festzustellen sind, so sehr werfen entsprechende in den Rechtsquellen auftauchende Regelungen ein Licht auf die normalen und anormalen Marktaktivitäten: Freie Preis- und Vertragsverhandlungen und die Durchsetzung des stärkeren Partners dürften an der Tagesordnung gewesen sein, ein staatliches Eingreifen aus Stabilitäts- und Wirtschafts- wie Steuerkreislauferwägungen heraus trat nur im Falle von Krisen oder Missständen auf.

Die jeweiligen Beiträge sind zur Vertiefung alle mit einer Basisbibliographie versehen; hilfreich sind insbesondere auch der umfangreiche Schlagwortindex und das Quellenregister, so dass einfach nach bestimmten Themenkomplexen recherchiert werden kann, zumal es zwischen einzelnen Sektionen und Artikeln durchaus zu Überschneidungen kommt, etwa bei Gender- und Familienrecht oder schuld- und wirtschaftsrechtlichen Aspekten.

Summa summarum kann dieses Handbuch uneingeschränkt empfohlen werden, und zwar sowohl als Einführungs- wie auch Vertiefungslektüre. Auch wenn sich die grundlegende Forschung zum Römischen Recht nach wie vor in den Wissenschaftssprachen Italienisch, Deutsch, aber auch Spanisch vollzieht, haben jetzt insbesondere anglo-amerikanische Studenten und Wissenschaftler eine verlässliche Grundlage, um an einer Diskussion mitzuwirken. Umgekehrt wirkt das Zusammenschauen römischer Rechtsstrukturen und historischer Entwicklungen hoffentlich anregend auf die weitere Kommunikation zwischen Historikern und Romanisten im europäischen Kontext.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Sven Günther, Theoriebildung in der Alten Geschichte und rechtsromanistische Methodendiskussionen, in: Christian Baldus / Massimo Miglietta / Gianni Santucci / Emanuele Stolfi (Hrsg.), Dogmengeschichte und historische Individualität der römischen Juristen / Storia dei dogmi e individualità storica dei giuristi romani, Trento 2012, S. 75–88.
2 Als „Fortschritt bei Bedarf“ klassifiziert Raphael Brendel jetzt in seiner Dissertation die Gesetzgebung Julians, ein Konzept, das als Modell für die gesamte römische Rechtsstruktur zu diskutieren wäre. Vgl. Raphael Brendel, Kaiser Julians Gesetzgebungswerk und Reichsverwaltung, Hamburg 2017, bes. S. 381–433.
3 Vgl. den Forschungsüberblick für die griechisch-römische Antike: Sven Günther / Patrick Reinard, Research Survey: The Ancient Economy – New Studies and Approaches, in: Journal of Ancient Civilizations 32/1 (2017), S. 55–105. Speziell zu Recht und Neuer Institutionenökonomie siehe jetzt den Band: Dennis P. Kehoe / David M. Ratzan / Uri Yiftach (Hrsg.), Law and Transaction Costs in the Ancient Economy, Ann Arbor 2015.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension